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Türkei
Die Königsmacher – Kleine Parteien könnten Erdogan bei den nächsten Wahlen zu Fall bringen

Ali Babacan
Ali Babacan, Vorsitzender der neu gegründeten DEVA-Partei. © picture alliance / AA | Aytac Unal

Seit 2002 wird die Türkei von einer Einparteienregierung beherrscht. In historischer Betrachtung ist die Dominanz einer Partei bei Wahlen in der Türkei aber nicht die Regel. Koalitionsregierungen prägten vor allem im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts das Bild. Im Zuge der verheerenden Wirtschaftskrise von 2001 beförderten die Wähler die alte politische Klasse ins Abseits. Erdogans AKP kam an die Macht. Seither konnte er den Zustand des Alleinregierens mit einer einzigen Ausnahme behaupten: das war nach den Wahlen vom Juni 2015, als die AKP zwar stärkste Kraft wurde, eine Mehrheit im Parlament aber verfehlte. Nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen kam es zu Neuwahlen, welche die neue alte Regierungspartei AKP klar für sich entschied.

Bei den Wahlen von 2002 gewann die Erdogan-Partei 34 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das Wahlsystem bescherte der AKP aber 60 Prozent der Parlamentssitze. In der Türkei gilt eine 10-Prozent-Hürde. Im Ergebnis läuft dies auf eine massive Bevorzugung der großen zu Lasten der kleinen Parteien hinaus. Bei den Wahlen von 2002 gewannen zwei Zentrumsparteien und die rechtsnationalistische MHP zwar jeweils über sieben Prozent der Stimmen, der Einzug ins Parlament blieb ihnen aber trotzdem verwehrt. Der große Sieger war der Anführer der AKP. Erdogan gelang es, die Partei in ein Sammelbecken der Rechten zu formieren und die diversen Gruppierungen unter seine Kontrolle zu bringen.

Im Folgenden gab es immer wieder Anläufe zur Gründung neuer politischer Parteien. Diese blieben jedoch im Angesicht der Popularität Erdogans und seiner Partei ohne nachhaltigen Einfluss. Die 10-Prozent-Hürde tat das Übrige. Sie wirkte abschreckend auf all jene, die mit dem Gedanken einer Parteigründung spielten. Zudem gelang es Erdogan immer wieder, kleinere Parteien und deren Führungspersonal in die AKP einzubinden.

Im Lichte der 10-Prozent-Hürde und der Dominanz Erdogans im konservativen Lager hatten neue Parteien praktisch keine Aussicht auf Erfolg. Das hat sich nun geändert. Der entscheidende Grund hierfür sind die Änderungen des Wahlgesetzes, die im Zuge des Referendums von 2017 eingeführt wurden. Seither können Parteien Wahlallianzen bilden und Sitze im Parlament gewinnen, ohne die magische 10-Prozent-Grenze zu überwinden – vorausgesetzt, die Wahlallianz insgesamt kommt über diese Marke.

Im Ergebnis hat das dazu geführt, dass im aktuellen Parlament Parteien vertreten sind, welche die 10-Prozent-Hürde bei den Wahlen von 2018 verpasst haben: die IYI-Partei und die Saadet Partei. Sie hatten im Vorfeld ein Wahlbündnis mit der sozialdemokratischen CHP geschlossen.

Das Referendum von 2017 bescherte der Türkei das Präsidialsystem. Der Präsident benötigt zu seiner Wahl mindestens 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, sei es im ersten oder in einem nötigen zweiten Wahlgang. Angesichts dieser politischen Rahmenbedingungen sind neue politische Parteien – auch wenn sie nur 3 oder 4 Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen – potentielle Königsmacher bei der Wahl des Staatspräsidenten.

Zusätzlich zu diesem Wechsel im Wahlsystem beobachten wir eine weitere Dynamik, die Platz für neue politische Parteien schafft. Enttäuschte Wähler der „Volksallianz“, des Bündnisses von AKP und rechtsnationalistischer MHP, halten nach Alternativen Ausschau. Nach bald zwei Jahrzehnten ununterbrochener Konsolidierung rechter Politik bietet sich endlich der politische Raum für neue Akteure. Das Augenmerk fällt vor allem auf drei Politiker: Die frühere Innenministerin und Anführerin der IYI-Partei Meral Aksener, den ehemaligen Außenminister und „Zar der Wirtschaftspolitik“ Ali Babacan von der neu gegründeten DEVA Partisi und schließlich Ahmet Davutoglu, den ehemaligen Ministerpräsidenten mit seiner neuen Gelecek Partisi.

Während die IYI-Partei in aktuellen Umfragen regelmäßig zweistellige Ergebnisse erreicht, liegen die beiden neuen Parteien – im Falle der DEVA Partisis allerdings mit steigender Tendenz – weit darunter. Noch ist es zu früh für Vorhersagen, wie sich die Parteien im Vorfeld der nächsten Wahlen, die spätestens 2023 stattfinden müssen, positionieren. Doch eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Neue und vergleichsweise kleine Parteien werden bei den nächsten Wahlen in der Türkei eine entscheidende Rolle spielen.