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Türkei Bulletin
Biden-Interview füllt Sommerloch – Kritik des Demokratischen Präsidentschaftskandidaten an Erdogan löst Entrüstung aus

Biden & Biden
© picture alliance / AA | Kayhan Ozer

In den USA stehen die Kandidaten für die Präsidentschaft fest, der Wahlkampf tritt in die entscheidende Phase. Derweilen sorgt in der Türkei ein Interview des demokratischen Kandidaten Joe Biden für politischen Wirbel. „Er ist ein Autokrat“, sagt Biden und ergänzt mehrmals, er sei „sehr besorgt“ über die Lage in der Türkei. „Wir sollten einen ganz anderen Ansatz verfolgen und klarstellen, dass wir die Führung der Opposition unterstützen“, so der ehemalige Vizepräsident. Washington müsse die oppositionellen Kräfte stärken, damit sie in der Lage sind, Erdogan zu schlagen. Nicht über einen Staatsstreich, sondern über den Wahlprozess“. Der Präsidentschaftskandidat sagt dann, dass er – anders als Amtsinhaber Trump – die amerikanische Unterstützung für die Kurden (in Syrien) nicht aufgekündigt hätte. Das sei das letzte, was er getan hätte. Mit Bezug auf den Konflikt um die maritimen Hoheitsrechte mit Griechenland und Zypern sagt Biden, es gebe für Washington eine Menge zu tun, um zusammen mit den Verbündeten die türkischen „Aktionen“ im östlichen Mittelmeer zu „isolieren“.

In politischen Kreisen und den Medien lösten die Ausführungen des Präsidentschaftskandidaten einen Sturm der Entrüstung aus. Ausnahmsweise waren Opposition und Regierung einer Meinung. „Wir akzeptieren nicht den Hauch einer imperialen Macht“, sagte der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP Kemal Kilicdaroglu. Fahrettin Altun, der Sprecher des Präsidenten, schrieb auf Twitter: „Die Analyse von @JoeBiden beruht auf purer Ignoranz, Arroganz und Heuchelei. Die Tage, da die Türkei herumkommandiert wurde, sind vorbei.“

In der Aufregung war zunächst untergegangen, dass das Interview über ein halbes Jahr alt ist. Die ursprüngliche Veröffentlichung, über die auch die amtliche türkische Nachrichtenagentur berichtete, hatte zunächst nur wenig Aufsehen erregt. Warum das Interview gerade jetzt wieder auftauchte, in Mitten des türkischen „Sommerloches“, wurde alsbald zum Thema von Diskussionen und vieler Mutmaßungen. Das Informationsportal „Al-Monitor“ kommt zu dem Schluss, dass „die gängige Meinung ist, dass Erdogan Biden benutzt, um nationale Emotionen gegen die Vereinigten Staaten anzuheizen, um die Aufmerksamkeit von den zunehmenden wirtschaftlichen Problemen und dem alarmierenden Anstieg der COVID-19 Fälle abzulenken“.

Die der Regierung nahestehenden Medien schlachten die Biden-Äußerungen aus, sehen ihr Weltbild bestätigt, die USA (bzw. auswärtige Mächte) hätten sich schon immer in die inneren Angelegenheiten des Landes eingemischt - und Chaos und Unheil verbreitet. Ein Höhepunkt dieses amerikanischen Interventionismus sei die Unterstützung für den fehlgeschlagenen Putsch gegen Erdogan im Sommer 2016, so eine verbreitete These.

Für den Kommentator Burhanenettin Duran der regierungsnahen „Daily Sabah“ ist das wiederaufgetauchte Biden-Interview eine Bestätigung der Mittäterschaft Washingtons: „Aus der Perspektive der türkischen Bevölkerung hat das U.S. Establishment gerade die Verantwortung übernommen für alles was passiert ist in der Periode – inklusive dem Putschversuch vom 15. Juli 2016.“ Sowohl Republikaner wie auch Demokraten – so Duran weiter – haben diese Politik (der Einmischung) implementiert und Tot und Zerstörung in viele Teile der Welt gebracht.

In großen Teilen der türkischen Bevölkerung kommen antiamerikanische Parolen gut an. Laut einer Meinungsumfrage der Kadir Has-Universität aus diesem Frühjahr betrachten lediglich 22 Prozent der Befragten die USA als ein verbündetes Land; siebzig Prozent sehen in Amerika keinen Verbündeten.

Die Beziehungen zwischen Ankara und Washington haben in den zurückliegenden Jahren Höhen und Tiefen gesehen. Trotz der guten Beziehungen zwischen Präsidenten Trump und Erdogan, die einige Analysten auch auf ähnliche Persönlichkeitsmerkmale der Politiker zurückführen, sind regierungsnahe Beobachter der Überzeugung, dass es – sollte Biden ins Präsidentenamt gewählt werden – keine besonderen Verwerfungen im Verhältnis Washingtons mit Ankara geben wird: „Ich glaube nicht, dass es eine wesentliche Veränderung in der US-Politik gegenüber der Türkei geben wird, wenn Biden gewählt wird“, sagt Nebi Mis von dem regierungseigenen Think Tank SETA in Ankara. 

 

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