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Tigray
Äthiopien riskiert die Uhr zurückzudrehen

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Aus Tigray geflüchtete Äthiopier in einem Flüchtlingscamp im Sudan. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Nariman El-Mofty

Nachdem die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und die äthiopische Regierung sich zerstritten haben steht Äthiopien vor einer humanitären Krise. In den vergangenen Wochen haben bereits mehrere Hundert Menschen aus der Region Tigray das Leben verloren. Über 30.000 wurden gezwungen, in das benachbarte Sudan zu flüchten. Die bewaffnete Gruppe TPLF kontrolliert die nördliche Tigray-Provinz Äthiopiens, eine abtrünnige Provinz des Landes mit circa sechs Millionen Einwohnern.

Die Probleme begannen im September 2020, als die TPLF eine Regionalwahl abhielt, die laut Ministerpräsident Abiy Ahmed illegitim war. Er beschuldigte die TPLF, sich auf illegale Weise an der Macht zu halten.Die äthiopische Regierung hatte aufgrund der COVID-19 Pandemie eine Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins im August 2020 angekündigt. Die Region Tigray führte jedoch im September Wahlen durch und widersetzte sich damit den expliziten Vorgaben der Regierung. 

Am 4. November verschärften sich die Spannungen, als Abiy die TPLF beschuldigte, einen äthiopischen Militärstützpunkt angegriffen zu haben. „Die alte Garde der TPLF versucht weiterhin offen und verdeckt, die Menschen Äthiopiens und die neue Regierung zu unterminieren,“ sagte Abiy in seiner öffentlichen Ansprache zum Thema.

Am 14. November verschärfte sich die Situation weiter, als der Tigray-Führer Debretsion Gebremichael bestätigte, dass seine Streitkräfte Raketen auf einen Flughafen in Asmara abgefeuert hatten, der Hauptstadt des benachbarten Eritreas. Debretsion behauptete, Äthiopien benutze den Flughafen, um die Region Tigray anzugreifen. Auf die Frage, ob die Hauptstadt Äthiopiens ebenfalls eine Zielscheibe für Raketen sein könnte, weigerte sich Debretsion, dies auszuschließen: „Ich möchte darauf nicht näher eingehen, aber bei den Raketen handelt es sich zugleich um Langstreckenraketen,“ antwortete er.

Die aktuelle Situation in Äthiopien stellt sich ganz anders dar, als die Bürger des Landes oder die ostafrikanischen Nachbarländer es sich erhofft hatten. Vor zwei Jahren, als Abiy im April 2018 nach zwei Jahrzehnten politischer Dominanz durch die TPLF die Zügel übernahm, bestanden Aussichten auf Frieden in Äthiopien.

Zuvor hatte das Land fortwährend Proteste gegen die Regierung, wirtschaftliche Probleme und weitverbreitete Unruhen erlebt. Laut den Vereinten Nationen gab es 2017 aufgrund der Unruhen über eine Million Binnenvertriebene der Oromo- und Amhara-Bevölkerungsgruppen, die zusammen fast zwei Drittel der äthiopischen Bevölkerung ausmachen.

Als jedoch im Jahr 2018 Abiy zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, sahen ihn viele Äthiopier als Reformer und Vereiniger, der die langanhaltenden Probleme des Landes endlich lösen würde. Der Anfang war vielversprechend. Zwei Monate nach seinem Amtsantritt im April 2018 hob Abiy im Juni den Ausnahmezustand auf und setzte Tausende politischer Gefangener auf freien Fuß, darunter Journalisten und wichtige Oppositionsführer wie zum Beispiel Eskinder Nega und Merera Gudina, die beide lange Haftstrafen abgesessen hatten.

Unter der Führung Abiys setzte die Staatsanwaltschaft alle anhängigen Anklagepunkte gegen Blogger, Journalisten und Medienorganisationen in der Diaspora aus, darunter die Zone 9-Blogger, den Sender Ethiopian Satellite Television (ESAT) und das Oromia Media Network (OMN). Die Medienhäuser und Medienvertreter waren aufgrund ihrer Kritik an der Regierung beschuldigt worden, Bürger zur Gewalt angestiftet zu haben. 

Die Friedensagenda Abiys verlief weiterhin positiv, als er erfolgreich ein Friedensabkommen mit dem Präsidenten Eritreas, Isaias Afwerki, aushandelte und damit jahrzehntelangem Blutvergießen ein Ende setzte. Die Bemühungen Abiys um den Frieden mit Eritrea fanden weltweit Beachtung. 2019 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen.

Das Friedensabkommen führte zu einer wachsenden Freundschaft zwischen Abiy und Afwerki. Allerdings fühlten sich die Bewohner der Region Tigray bei der Reformagenda des Ministerpräsidenten vernachlässigt. Die politische Führung der Region beschloss daher, der äthiopischen Regierung die Stirn zu bieten.

Der Konflikt hat nicht nur die Toten und Vertriebenen in der Region Tigray zur Folge, bürgerliche Grundrechte und Freiheiten sowie die Medienfreiheit wurden von der Regierung in Addis stark eingeschränkt. Internet- und Telefonverbindungen wurden gekappt.

Es scheint, dass noch viel Zeit vergehen wird, bevor die Kampfhandlungen enden. Die Vereinten Nationen haben angeboten, zwischen den Parteien zu vermitteln, aber Abiy hat aus unbekannten Gründen, internationale Vermittlung bisher abgelehnt. Die Situation ist instabil, und die Unsicherheit groß.

Zugleich geraten die freie Meinungsäußerung, Bürgerrechte und die Rechtsstaatlichkeit aufgrund des zunehmenden Militarismus und der Repressionen immer weiter in Bedrängnis. Berichte über Übergriffe und Gewalt gegenüber Journalisten, unabhängigen Medien, Menschenrechtsaktivisten und vermeintlichen Oppositionellen beginnen sich zu mehren. Dies weckt Erinnerungen an die vergangenen drei Jahrzehnte, während derer die Redefreiheit erheblichen Einschränkungen unterlag und Journalisten sich häufig Drohungen, willkürlichen Verhaftungen und langen Inhaftierungen ausgesetzt sahen. 

Zum äthiopischen Unterdrückungsapparat gehörte auch die Medienzensur, die nun wiederauftaucht und die Reformagenda Abiys untergräbt. Am 20. November 2020 berichtete der Addis Standard, eines der glaubwürdigen Medienhäuser Äthiopiens, dass die Ethiopian Broadcasting Authority (EBA) dem Reuters-Korrespondenten im Lande die Lizenz entzogen habe.

Die EBA erklärte weiterhin, der BBC und der deutschen Welle Warnschreiben geschickt zu haben, in denen sie die beiden Medienhäuser der falschen und voreingenommenen Berichterstattung zu aktuellen Geschehnissen bezichtigte, mit dem Ziel, die Welt irrezuführen und den internationalen Druck auf Äthiopien zu steigern. Die EBA drohte ähnliche Aktionen fortzusetzen.

Ähnliches widerfuhr 2009 dem kenianischen Journalisten Collins Juma Osemo, alias Yassin Juma, als die äthiopische Regierung versuchte, das private Medienhaus NTV daran zu hindern, eine Dokumentarsendung über die Oromo Liberation Front (OLF) zu senden. Die OLF wurde daraufhin von der äthiopischen Regierung zur terroristischen Vereinigung erklärt. Yassin Juma wurde 2010 mehr als 49 Tage lang in Äthiopien inhaftiert. 2009 wurde er aufgrund einer vierteiligen Dokumentation für zehn Jahre aus Äthiopien verbannt. Die Dokumentation lief unter dem Namen Inside Rebel Territory: Oromo Liberation Front.

„Aufgrund der Dokumentation wurde ich zehn Jahre lang aus dem Land verbannt. Als ich vor Kurzem zurückkehrte, wurde ich in Haft genommen, und es wurden mir mehrere schwerwiegende Vergehen zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft strebte eine lange Haftstrafe für mich an und ich verbrachte über 40 Tage im Gefängnis,“ sagte er in einem exklusiven Interview.

Im Gespräch mit dem Verfasser dieses Artikels sagte er, er sei des Mordes an einem Polizisten beschuldigt, sowie des Mordes an einem führenden Politiker und der Verhinderung der Beerdigung des prominenten Musikers Hachalu Hundessa, der in Addis Ababa erschossen worden war. Ferner soll er, so die Behörden, Proteste in Addis geplant haben.

„In den vergangenen Wochen ist es verstärkt wieder zu willkürlichen Festnahmen gekommen. In den letzten zwei Wochen allein wurden vier Journalisten festgenommen. Es ist während dieses Ausnahmezustandes sogar noch schlimmer. Wenn man sieht, dass Reuters verbannt wurde und die BBC und die Deutsche Welle Verwarnungen erhielten, weiß man, es ist ernst,“ sagte Yassin.

Yassin Juma, der auch aus Mogadischu berichtet, schätzte die Berichterstattung der internationalen Medien anders ein als die EBA und meinte, sie sei ausgezeichnet. „Wenn man sich ansieht, wie die internationalen Medien über die Entwicklungen berichtet haben, erkennt man, dass sie sehr professionell und faktenbasiert agieren. Bloß ist die Berichterstattung der Regierung teilweise unangenehm,“ so der Reporter.

Am 7. November nahm die Polizei Medihane Ekubamichael fest, Produktredakteur beim Addis Standard. Er wurde beschuldigt, die Verfassung aushebeln zu wollen. Er wurde auf freien Fuß gesetzt, nachdem sein Arbeitgeber, Menschenrechtsorganisationen und Social-Media-Benutzer Sturm gelaufen waren.

Seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes in der Region Tigray wurden Internet- und Telefonnetzwerke unterbrochen, Rundfunksender geschlossen und Brücken zerstört, die zur regionalen Hauptstadt Mekelle führen.

Unabhängig davon, ob sich die Dinge zu einem Bürgerkrieg weiterentwickeln oder nicht, haben sie der politischen Reformagenda Äthiopiens großen Schaden zugefügt, die zu zahlreichen institutionellen und sektoralen Veränderungen geführt hatte. Äthiopien war dabei, seinen Rechtsapparat zu reformieren, der jahrzehntelang die Bürgerrechte und Meinungsfreiheit unterdrückt hatte.

Zu den Gesetzen, die geändert werden sollten, um mit internationalen Menschenrechtsnormen in Einklang gebracht zu werden, zählten die Anti-Terrorismus-Verordnung, das Strafgesetzbuch, die Verordnung über Massenmedien und den Zugriff auf Informationen von 2009, das Gesetz zur Ethiopian Broadcasting Authority, die strafrechtlichen Bestimmungen betreffend Verleumdungen sowie die Vorschriften zum Schutz von Beamten vor Kritik.

Im Anschluss an den Amtsantritt Abiys ist vieles gelockert worden: die Überwachung von Dissidenten, der Einsatz von Anti-Terror-Gesetzen, Einschüchterungen und verwaltungsrechtliche Nötigungen wie z.B. die Einschränkung von Werbeeinnahmen, die Einschränkung des Zugangs zu Informationen, die Verteuerung des Druckens, die Blockierung von Webseiten und Social Media-Plattformen sowie die komplette Sperrung des Internets. Viele Blogs und Webseiten, die zuvor von Äthiopiern im Exil betrieben worden waren, durften jetzt im Land betrieben werden. Die Rundfunk- und Telekommunikationssektoren, die zuvor ausschließlich vom Staat dominiert worden waren, sowie die minimalen, zuvor stark regulierten und häufig zensierten privaten Medien, begannen aufzublühen.  Sowohl die staatlichen als auch die wenigen überlebenden privaten Medien hatten sich bei politisch sensiblen Themen der Selbstzensur unterworfen, aus Furcht davor, jahrzehntelang geschlossen zu werden. Unter dem neuen Ministerpräsidenten gewannen sie an Selbstvertrauen und Unabhängigkeit. Laut dem World Press Freedom-Ranking von Reporters without Borders (RSF) verbesserte sich Äthiopien vom 110. Rang im Jahr 2019 auf den 99. Platz im Jahr 2020.

Trotz diesen deutlichen Verbesserung kommt es seit den Auseinandersetzungen in der nördlichen Tigray-Region jetzt wieder zu Übergriffen und Gewalttaten gegen Journalisten, unabhängige Medien, Menschenrechtler sowie Menschen, die als Oppositionelle wahrgenommen werden. Die so vielversprechende Zukunft des neuen Äthiopiens ist jetzt in diesem tief polarisierten Land gefährdet. Die Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel schwinden rapide, wenn die internationale Gemeinschaft nicht bald eingreift.

Michael Ollinga ist ein kenianischer Journalist, der bei TUKO.co.ke die Redaktion für Lokaljournalismus verantwortet. Er ist ehemaliger Korrespondent der Standard Group PLC.