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Tag der Deutschen Einheit
Was zu tun ist: Aufbruch Ost

Der Osten braucht gute Politik statt schlechter Psychologie. Nur so lässt sich die Deutsche Einheit vollenden.

Seit den furchtbaren Vorfällen von Chemnitz überbieten sich Politiker der Großen Koalition mit Diagnosen zur Lage in Ostdeutschland. Neuerdings geschieht dies in einer Tonlage, die Schuld und Sühne für frühere Fehler in den Blick nimmt, nicht aber politische Antworten auf gesellschaftliche Fragen. So deutete die Kanzlerin und CDU-Politikerin Dr. Angela Merkel jüngst bei einem Besuch in Bayern die Befindlichkeit im Osten als schädliche psychische Nachwirkung des tiefgreifenden wirtschaftlichen Wandels in der frühen Nachwendezeit. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus Raed Saleh forderte gar, dass die deutsche Politik bei den Ostdeutschen für das Erlittene um Entschuldigung bitten sollte. Unser Vorstandsvorsitzender Professor Paqué sieht in solchen Äußerungen wohlfeile Mitleidsbekundungen, die mehr schaden als nützen. Er forderte in DIE WELT mehr professionelle Politik und weniger amateurhafte Psychologie. Zum Tag der deutschen Einheit fasst er im Folgenden zusammen, wo wir stehen und was noch zu tun ist.

Nach dem Aufbau Ost: Aufbruch Ost

Politisch ist die deutsche Einheit 1990 hergestellt worden – vor 30 Jahren in einem gewaltigen Kraftakt. Wirtschaftlich und sozial geht es dagegen um einen langwierigen Prozess, der bis heute nicht beendet ist. Als „Aufbau Ost“ war er sehr erfolgreich: Alle physischen Voraussetzungen, die es für eine Ost/West-Angleichung braucht, wurden in schnellstmöglicher Zeit geschaffen: durch Währungsunion, Privatisierungen sowie massive öffentliche und private Investitionen in Verwaltung, Wirtschaft und Wohnungsbau, in Schulen, Hochschulen und Universitäten, in Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen sowie vieles mehr. Die Ergebnisse können sich sehen lassen: einerseits eine moderne Wirtschaft und Gesellschaft mit höchst effizienten Produktionsanlagen und leistungsfähigen Arbeitskräften, hochintegriert in die globale Arbeitsteilung; andererseits eine inzwischen geringe verbleibende Transferabhängigkeit vom Westen, die sich hauptsächlich aus den Standardmechanismen des Finanz- und Steuerausgleichs sowie den systembedingten Umverteilungen der Sozialversicherung ergibt und als normal angesehen werden kann. 

Gleichwohl gibt es noch immer einen stabilen Rückstand des Ostens gegenüber dem Westen, der sich seit über 10 Jahren kaum vermindert hat, aber durch die insgesamt gute Wirtschaftsentwicklung in Deutschland insgesamt an Dramatik zu verlieren scheint. Er lässt sich an einigen volkswirtschaftlichen Eckdaten klar ablesen: die Wertschöpfung pro Beschäftigten liegt im Osten bei etwa 70 % des Westens, die Löhne ebenso; die Arbeitslosenquote ist im Osten noch immer gut ein Drittel höher als im Westen; industrielle Forschung und Entwicklung sind im Osten deutlich schwächer als im Westen, egal ob in Ausgaben, Personal oder Patentanmeldungen gemessen; es gibt im Osten weit weniger Großbetriebe als im Westen, und im Osten fallen mittelständische Betriebe kleiner aus; die Exportquote der Wirtschaft ist im Osten zwar im internationalen Vergleich hoch, aber niedriger als im Westen. Auch die Staatsfinanzen im Osten sind weniger gesichert: die sogenannte Steuerdeckungsquote, also die durch Eigenmittel finanzierten Staatsausgaben, liegt wegen des Unterschieds in der Wirtschaftskraft niedriger als im Westen.

Was in Ostdeutschland erreicht wurde, ist beachtlich, aber gefährdet. Dafür sorgen Tendenzen der Demographie, der Digitalisierung und der Globalisierung. So wird die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung in den urbanen Zentren des Westens zu einem Schub der Nachfrage nach hochqualifizierter Arbeit führen und möglicherweise eine erneute Ost-West-Wanderungswelle nach sich ziehen. Dieser Trend könnte durch die Digitalisierung verstärkt werden, denn diese führt – anders als früher erwartet – in den urbanen Zentren zu stärkeren Wachstumsimpulsen als in den ländlichen Regionen. Schließlich sorgt die Globalisierung für eine immer stärkere Einengung der Produktpalette von wohlhabenden Industrienationen wie Deutschland auf forschungs- und innovationsstarke Güter und Dienste, also gerade jenen Bereich, in dem der Osten relativ zum Westen noch Schwächen hat. 

Forderungen

Die folgenden zehn Forderungen dienen als Ausgangpunkt für einen Diskussionsprozess, der die größten Potenziale und Herausforderungen Ostdeutschlands identifizieren soll. Ziel dieses Prozesses ist die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse in allen städtischen und ländlichen Regionen.

Aufbruch für den gesamten Osten:

1. Wachstum zur politischen Priorität machen

Wirtschaftswachstum muss wieder zur absoluten Priorität im Osten werden. Dies verlangt eine neue Denkweise in der Politik für Ostdeutschland. Nur so lässt sich der drohenden Gefahr durch Demografie, Digitalisierung und Globalisierung begegnen, dass sich die Schere zwischen West und Ost wieder weiter öffnet und die Ost-West-Wanderung erneut einsetzt. 

2. Private Innovationen fördern

Wichtigster Schlüssel zum Aufholen gegenüber dem Westen ist die Stärkung der Innovationskraft der ostdeutschen Wirtschaft. Nicht die Errichtung verlängerter Werkbänke auswärtiger Firmen, sondern das Entstehen eigenständiger Entwicklungszentren der lokalen Wirtschaft muss vorrangiges Ziel der Standortpolitik sein.   

3. Bürokratische Hemmnisse abbauen

Erste Voraussetzung für eine dynamische Gründer- und Innovationskultur ist die Beseitigung unnötiger bürokratischer Hemmnisse, die strukturschwächeren Regionen mehr schaden als strukturstärkeren. Bundesrechtliche Restriktionen und Vorschriften sollten beseitigt oder gelockert werden bzw. landesrechtliche Ausnahmen zulassen. 

4. Öffentliche Forschungsstätten ausbauen

Private Zentren der Innovation entstehen vor allem rund um öffentlich finanzierte Stätten der Forschung, seien es Universitäten, Hochschulen oder außeruniversitäre Einrichtungen. Diese gilt es zu erhalten und auszubauen. Exzellenzprogramme des Bundes dürfen nicht an der ostdeutschen Forschungslandschaft vorbeigehen. 

5. Dynamik Berlins großräumig nutzen

Berlin ist zu einem nationalen Wachstumspol der Innovation geworden – dank der Dynamik seiner Gründerszene u. a. rund um drei große Universitäten, davon eine mit technischem Schwerpunkt. Es gilt, auch die umliegenden Universitätsstädte klug mit Berlins Start-up-Kultur zu vernetzen, etwa durch Beteiligungen und Kooperationen. 

 

Perspektiven für die ländlichen Räume

6. Ländliche Unterzentren stärken

Kleinere Städte in ländlichen Räumen gewinnen durch die Dynamik der Großstädte, aber sie werden dadurch auch selbst zu Wachstumsmotoren ihrer Regionen. Es gilt deshalb, eine Priorität der Standortpolitik auf die Wirtschaftskraft auch dieser Unterzentren zu legen. Dabei spielt die erfolgreiche und innovative Landwirtschaft des Ostens eine wichtige Rolle. 

7. Kommunikations- und Verkehrsnetze verbessern

Es gilt, eine übermäßige Kluft des Wohlstands und der Wirtschaftskraft zwischen städtischen und ländlichen Räumen zu verhindern. Dies erfordert, dass abgelegene Regionen des Ostens nicht nur durch bereits vorhandene Verkehrsverbindungen angeschlossen sind, sondern auch durch hochleistungsfähige digitale Netze, die es noch nicht gibt.  

8. Vielfältiges Schulwesen garantieren

Ländliche Räume sind für junge Familien nur dann als Wohn- und ggf. Arbeitsort interessant, wenn ein angemessenes und verlässliches Angebot an guten Schulen existiert. Um dies in entlegenen Räumen sicherzustellen, bedarf es auch neuartiger Modelle – bis hin zur modernen „Zwergschule“ mit jahrgangsübergreifendem Unterricht.   

9. Soziale Versorgung reformieren

Der demographische Trend und allfällige Wanderungen vom Land in die Städte werden es schwieriger machen, Gesundheits- und Pflegeleistungen, ein umfassendes ÖPNV-Angebot oder eine wohnungsnahe Grundversorgung flächendeckend zu gewährleisten. Es gilt daher, neue Modelle der Versorgung zu entwickeln, auch mit Blick auf den Einsatz neuer digitaler Technologien.    

10. Kommunale Finanzen sichern

Um die Lebensqualität zu garantieren, wird die Finanzkraft der Gemeinden, Städte und Landkreise in entlegenen Räumen nicht ausreichen. Es bedarf deshalb einer Reform des kommunalen Finanzausgleichs, der dieser Lage Rechnung trägt, ohne den Anreiz für die Kommunen zu beseitigen, aus eigener Kraft ihre Lage zu verbessern.