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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Tag der Befreiung
Militärische Niederlage, moralischer Sieg

Der 8. Mai 1945 markiert den Beginn einer grandiosen Erfolgsgeschichte von Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft. 76 Jahre danach ist die liberale Weltordnung in Gefahr.
Paqué
© Thomas Imo/photothek.net

Nach fast sechs Jahren Krieg kapitulierte die Wehrmacht bedingungslos – am 8. Mai 1945, vor 76 Jahren. Das Deutsche Reich, seit 1933 beherrscht von den Nationalsozialisten, hatte den Krieg verloren.

Wir Deutsche haben ein treffendes Wort für dieses Ereignis: die Stunde null. Deutschland war komplett entmachtet. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es nichts zu deuteln an dem Ergebnis des Kriegs – und schon gar nicht an der Kriegsschuld sowie den grausamen Verbrechen, die Nazi-Deutschland zu verantworten hatte: vom Überfall auf Polen und Frankreich über den Eroberungsfeldzug in der Sowjetunion bis zur Ermordung von sechs Millionen Juden und anderen wehrlosen Opfern in Konzentrations- und Vernichtungslagern.

All dies zusammen addiert sich zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Wir müssen dankbar dafür sein, dass die Alliierten dieser Unmenschlichkeit ein Ende setzten. Dies darf niemals in Zweifel gezogen werden. Wenn Alexander Gauland, Co-Fraktions- und Ehrenvorsitzender der AfD, vom 8. Mai 1945 ohne Einschränkung als einem Tag der Niederlage spricht, so betreibt er ein gefährliches rechtspopulistisches Spiel, dem man scharf entgegentreten muss. Er nennt einfach die Alternative nicht, und die hieß: Fortbestand der Naziherrschaft in Deutschland und Europa – mit verheerenden Konsequenzen. Will er etwa damit sagen, dass dies der bessere Weg der Geschichte gewesen wäre?

Tatsache ist doch, dass sich erst mit der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands das Tor zu einer neuen kooperativen Ära öffnete – zunächst im Westen Europas mit massiver amerikanischer Unterstützung und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Ende der achtziger Jahre auch im gesamten Europa. Der Westen Deutschlands wurde wenige Jahre später zu einer parlamentarischen Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft und einem Rechtsstaat, der auf dem Grundgesetz fußt, das den Schutz der Bürgerrechte, und zwar irreversibel.  So ist es bis heute geblieben, und der Osten Deutschlands ist auf diesem Weg durch die Wiedervereinigung 1990 gefolgt.

Die Serie von liberalen Fortschritten über die 76 Jahre seit dem 8. Mai 1945 ist für unser Land beeindruckend: Es entstand die Bundesrepublik Deutschland, politisch und wirtschaftlich integriert in Europa von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) über die Europäische Gemeinschaft (EG) bis hin zur Europäischen Union (EU), was über Jahrzehnte eine Prosperität brachte, die Deutschland vorher noch nie kannte. Und dies gilt analog für die anderen westlichen Nationen des Kontinents, was maßgeblich zum Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa sowie der DDR beitrug. Heute hat die EU 27 Mitgliedsstaaten, davon entstammen elf dem post-kommunistischen Ost- und Südosteuropa. Ein gewaltiger Erfolg.

Ähnliches gilt für das Verteidigungsbündnis, die NATO. Gegründet 1949 von 12 Nationen, im Wesentlichen die Alliierten aus dem 2. Weltkrieg rund um und mit USA und Großbritannien, besteht sie heute aus 30 Nationen – ein friedensstiftendes Militärbündnis, wie es noch nie zuvor in dieser Größe und Macht existierte, dominiert von Ländern mit starker demokratischer Tradition. Deutschland ist seit 1955 in der NATO tief verankert, und daran hat die Wiedervereinigung 1990 nichts geändert.

Ähnliches gilt für die internationale Handelsordnung, 1947 mit dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) auf den Weg gebracht und seit 1995 ausgebaut zur World Trade Organisation (WTO) - mit heute mehr als 160 Nationen, deren Handelsvolumen mehr als 90 Prozent des Welthandels ausmacht. Niemals zuvor hat es eine globale multilaterale Organisation gegeben, die sich auf die Fahnen schreibt, den freien und fairen Handel zu befördern und damit über Jahrzehnte enormen Erfolg hat. Man muss sich nur an die rücksichtslosen Handelskriege mit der Eskalation von Zöllen und Schließung von Grenzen rund um die Weltwirtschaftskrise 1930/32 erinnern, um den riesigen Fortschritt zu erkennen.

Ähnliches gilt schließlich für die währungspolitische Zusammenarbeit. Zunächst wurde nach dem Krieg das Bretton Woods System fester Wechselkurse im Geiste des Goldstandards etabliert, und es half, den Wiederaufstieg der Weltwirtschaft bis 1973 massiv zu befördern. Es brach zwar dann auseinander, aber seit den achtziger Jahren gibt es doch wieder eine regelmäßige Zusammenarbeit der großen Wirtschaftsnationen, um schwere Krisen zu vermeiden; wenn diese dann doch einmal kommen wie 2007/8, tut man gemeinsam alles, um sie schnellstmöglich zu beenden.

Die Aufzählung der Erfolge von über 70 Jahren internationaler Zusammenarbeit ließe sich noch mühelos fortsetzen. Aktuell liegt es nahe, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) besonders herauszuheben – wegen der Corona-Krise. Da läuft sicherlich vieles noch nicht rund, aber immerhin: Es gibt eine WHO, und damit auch eine organisierte globale Zusammenarbeit, die es vielen ärmeren Ländern in der Welt erlaubt, Seuchen zu bekämpfen und die Lebenserwartung der Menschen zu erhöhen – und auch dies ist gelungen.

Kurzum: An fast allen Fronten der globalen Lebensqualität hat es durch politische und wirtschaftliche Globalisierung enorme Fortschritte gegeben – und dies ist Ergebnis jener Nachkriegsordnung, die dem 8. Mai 1945 folgte.

Aber vielleicht liegt gerade in diesen Erfolgen eine große Gefahr für das Bewusstsein der Menschen. 76 Jahre nach Kriegsende ist es allzu leicht, die erreichten Erfolge als selbstverständlich zu vergessen und nur mehr die Probleme der liberalen Kooperation zu sehen. Es ist beängstigend, wie sich in den letzten Jahren die Beispiele für das Zerbrechen des Nachkriegskonsenses häufen: Trumps USA setzt in der Außen- und Handelspolitik hochmütig auf protektionistisches „America first“; Chinas und Russlands Wirtschaftsmodelle folgen gerade nicht den Idealen der Marktwirtschaft, sondern eines Staatskapitalismus mit imperialen Zügen – von Rechtsstaat ganz zu schweigen.

Selbst in der EU gärt es: Polen und Ungarn – in den achtziger Jahren die Speerspitzen des Widerstands gegen den herrschenden Sowjetkommunismus in Osteuropa – unterhöhlen den Rechtsstaat und die Pressefreiheit. Großbritannien hat die EU verlassen und wird eigene Wege gehen – zweifelsfrei demokratisch und marktwirtschaftlich, aber nach dem Brexit nicht unbedingt in enger Zusammenarbeit mit der EU. Populistische Bewegungen haben in den letzten Jahren fast überall massiv an Boden gewonnen: Sie wollen mehr Nationalismus und weniger Kooperation, und ihre Rhetorik fällt entsprechend aus. Sie greifen wie Alexander Gauland auf alte Muster zurück, die aus dem späten 19. Jahrhundert und der Zwischenkriegszeit stammen. Sie sind zutiefst reaktionär.

Klar ist: Geschichte wiederholt sich nicht, jedenfalls nicht in einfachen Mustern. Aber es muss schon zu denken geben, wie die letzte lange 76-jährige Friedenszeit in Europa endete – nach dem Wiener Kongress von 1815. Es war genau 75 Jahre später, als Kaiser Wilhelm II den außenpolitischen Lotsen des Kaiserreichs Otto von Bismarck entließ, im März 1890. Damit zerbrach das subtile Netz der Zusammenarbeit der Mächte in Europa; und es half auch nichts, dass die darauf folgende wirtschaftliche Entwicklung schnelles Wachstum und beachtlichen Wohlstand brachte. 24 Jahre später kam der Erste, 49 Jahre später der Zweite Weltkrieg. Und dies alles nach einer langen Friedensphase, die zunächst eine Blüte des liberalen Welthandels und der politischen Kooperation brachte, dann aber umschlug in Protektionismus und Konfrontation. Wirtschaftshistoriker sprechen inzwischen von einer ersten Globalisierung, die 1914 zerbrach.

So etwas darf niemals mehr passieren. Der 8. Mai 2021 ist Gelegenheit, sich daran zu erinnern. Und sich dies zu Herzen zu nehmen.