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Schweiz
Mit pinken Socken zum Sieg

Schweizer lehnen Selbstbestimmungsinitiative ab

Mit 66,2 Prozent schmetterte die Bevölkerung vergangenen Sonntag das Anliegen der Schweizer Volkspartei ab. Als Teil einer breiten zivilgesellschaftlichen Allianz hatte die progressive Schweizer Bewegung „Operation Libero“ den Meinungsbildungsprozess entschieden beeinflusst. Eine positive Abstimmung hätte die Beziehungen zur EU wesentlich gefährdet.

Es scheint, als wäre die Welle der Angst vor Fremdbestimmung und des gefühlten Kontrollverlustes nun auch in die Schweiz übergeschwappt. Von deutschen Medien weitgehend unbeachtet stand dort am vergangenen Wochenende eine der radikalsten Volksinitiativen in der Geschichte des Landes zur Abstimmung. Insbesondere die nationalkonservative Schweizer Volkspartei (SVP), wählerstärkste Kraft des Landes, wollte die Schweizer Bundesverfassung zur obersten Rechtsquelle machen und ihr generell Vorrang vor dem Völkerrecht geben. Dies hätte die Schweiz gerade auf der internationalen Bühne entschieden isoliert.

Die Schweiz gilt oft als Musterland direkter Demokratie, viele Entscheidungen werden der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Mit einem früheren „Ja“ zur Abzocker- und vor allem zur Masseneinwanderungsinitiative deutete sich in der Vergangenheit bereits an, dass in der Schweiz auch wirtschafts- und fremdenfeindliche Ergebnisse möglich sind. Auch die jüngste Abstimmung war für viele eine Zitterpartie. Fast wäre die Rechnung der SVP aufgegangen, die die Initiative „Schweizer recht statt fremde Richter“ vor allem mit dem Argument der Ausübung direkter Demokratie bewarb und eigens ein dreißigseitiges Argumentationspapier aufgestellt hatte. „Man will von oben diktieren, statt die Stimmbürger zu überzeugen. Das ist ein abgehobenes, antidemokratisches Verhalten und muss sich ändern“, war darin zur zunehmenden Internationalisierung des Rechts zu lesen. Als Mittel zum Zweck scheuten die Befürworter vor populistischen Last-Minute-Inseraten und dem Einsatz von Fake-News ebenso wenig zurück wie vor persönlichen Angriffen auf Social Media und der Verbreitung von Verschwörungstheorien.

Unterstützt von einer beispiellosen Allianz der Schweizer Zivilgesellschaft wies die Bevölkerung die Initiative letztlich mit einer überraschend klaren Mehrheit von 66,2 Prozent zurück. Unter den Verfechtern einer international integrierten Schweiz waren  zahlreiche pinke Sockenträger, das Markenzeichen der progressiven und sehr fortschrittlich agierenden "Operation Libero". „Heute ist ein guter Tag für die Schweiz: für den Schutz unserer individuellen Rechte gegenüber dem Staat, für die Zuverlässigkeit der Schweiz als Vertragspartnerin, für das ausgewogene Institutionengefüge in unserem Land und für die Qualität der direkten Demokratie“, zeigten sich die drei Kampagnenleiterinnen Laura Zimmermann, Aliénor Nina Burghartz und Franziska Barmettler nach der Verkündung der Ergebnisse sichtlich erleichtert. „Der Hauruck-Style funktioniert nicht mehr“, ergänzt Zimmermann; nach einem mehrjährigen Kampf gegen die Initiative müsse man nun zu einer anständigen Debattenkultur zurückkehren

Das bundesweite Engagement war beeindruckend: Zahlreiche „Liberas“ und „Liberos“ sowie fast alle Parteien, Juristen, Musiker, Frauenorganisationen, Wirtschaftsverbände, Unternehmen und unzählige Bürgerinnen und Bürger mobilisierten wochen-,  monate- und manchmal jahrelang gegen die „Selbstbestimmung“. Die „Operation Libero“ leistete dabei einen wesentlichen Beitrag zur Meinungsbildung und damit zum Ausgang des Votums. Per Crowdfunding wurden eine Studie zum Völkerrecht lanciert, Erklärvideos produziert, eine Inhalts-Hotline eingerichtet und zahlreiche Plakate und Flyer gedruckt. Über drei Jahre lang absolvierten die „Liberas“ und „Liberos“ unzählige Podiumsauftritte und organisierten Aktionen in der ganzen Schweiz, um darüber aufzuklären, worum es bei der „Selbstbestimmungsinitiative“ wirklich geht: Nationalismus und eine internationale Abschottung der Schweiz.

Die Initiative ist auch deshalb so brisant, weil sie zwei wesentliche Säulen des demokratischen schweizerischen Rechtsstaates infrage gestellt hätte: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Zwar trat die EMRK in der Schweiz erst 1974 in Kraft, seitdem sorgen Urteile von „fremden Richtern“ aus Straßburg jedoch wiederholt für politischen Zündstoff im Land. Dass am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auch Schweizer Richter wirken, scheinen die Nationalkonservativen allerdings zu übersehen.

Die Gefahr eines schweizerischen nationalen Alleingangs und der internationalen Abschottung des Landes scheint seit vergangenem Sonntag vorerst gebannt. Allerdings steht den Schweizern im kommenden Jahr mit der Nationalratswahl der nächste Urnengang bevor, bei dem die SVP unter anderem mit erneuten Forderungen nach mehr Selbstbestimmung Werbung um konservative Wähler machen wird.

Carmen Gerstenmeyer ist European Affairs Managerin im Regionalbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.