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Scheitert Myanmars Transformationsprozess?

Der lange Weg vom repressiven System zur Demokratie
Schüler in Myanmar
Es ist ein langer Weg bis zur Demokratie. © CC BY 2.0 flickr.com/ khaipi

Dieser Tage überschlagen sich die Horrornachrichten zur Lage in Myanmar, speziell zu den Geschehnissen im Rakhine-Staat. Bangladesh meldet Flüchtlingsströme, Berichte über Gräueltaten des Militärs an Zivilisten erschüttern selbst harte Gemüter, Angst vor Anschlägen geht auch in Rangun um, muslimische Rohingya wie die buddhistische Mehrheitsbevölkerung verteufeln das jeweils andere Lager, dem sie abscheuliche Taten vorwerfen. Fakt von Fiktion zu trennen ist oft schwierig, da unabhängige  Berichterstatter keinen Zugang zu den betroffenen Gebieten haben.

Fakt ist, muslimische Rohingyas strömen zu tausenden ins benachbarte Bangladesch und berichten von schlimmsten Dingen, eine humanitäre Katastrophe entfaltet sich. Fakt ist wohl auch, dass eine von  Rohingyas unterstütze Gruppe bewaffneter Aufständischer Anschläge auf Polizeiposten und Militärbasen durchgeführt hat. Die Kritik an Freiheitsikone und defakto Staatschefin Aung San Su Kyi, die sich bislang hauptsächlich durch Schweigen auszeichnet, wird immer lauter, viele internationale Beobachter zeigen sich desillusioniert.

Alle Aufmerksamkeit liegt auf diesen Geschehnissen und natürlich mit gutem Grund. Heißt das, der gesamte Transitionsprozess ist als gescheitert anzusehen? Ein solches Urteil wäre verfrüht. Denn gleichzeitig gehen im Hintergrund andere Prozesse weiter und sogar voran – auch wenn das die anderen großen, teils furchtbaren, Probleme nicht schmälert.

Nano- statt Mikromanagement

Zum einen befindet sich die zivile Regierung in einer höchst prekären Lage: Kontrolle über das Militär besitzt sie nicht. Das Militär trifft die Entscheidungen über den Einsatz im Rakhine-State. Das Militär kann qua Verfassung jederzeit das Demokratieexperiment für gescheitert erklären und sich selber wieder an die Macht bringen. Das ist Aung San Suu Kyi natürlich bewusst und auch wenn es ihr Schweigen angesichts der groben Menschenrechtsverstöße des Militärs nicht entschuldigt, so trägt es doch zu einer Erklärung bei. Suu Kyi kann der ihr auferlegten Rolle der Heilsbringerin Myanmars unmöglich gerecht werden, da die Erwartungen an sie schlicht zu hoch waren und unter der derzeitigen Verfassung des Landes nicht machbar sind. Zudem fungiert sie als Ministerin für drei Ministerien und sitzt einer unüberschaubaren Nummer an Ausschüssen und Kommissionen vor. Internationale Experten in Myanmar sprechen in diesem Kontext hinter vorgehaltener Hand bereits von Nano- statt Mikromanagement.

Zum anderen beginnt sich aber durchaus auf vielen Ebenen im Vergleich zur langen Zeit unter einer extrem repressiven Militärregierung vieles zum Positiven zu entwickeln. Dies gilt nicht nur für die Mehrheit der buddhistischen Bevölkerung, sondern durchaus auch für viele Ethnien verschiedener Religionen – solange es sich nicht um Gebiete mit Militärkonflikten handelt. Eine echte Zivilgesellschaft entwickelt sich langsam, aber stetig. Der „burmesische Weg zum Sozialismus“, den Linke im Westen einst glorifizierten, hatte zuvor alle Macht und alle Initiative beim Staat zentralisiert.

Was ist Demokratie?

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist viel in abgelegenen und ethnischen Gebieten des riesigen Landes tätig. Hier konzentriert sie sich insbesondere auf politische Bildung. Im Unterschied zu Deutschland wird dies nicht an Schulen angeboten. Jahrzehnte von Militärdiktatur haben dafür gesorgt, dass die Menschen Myanmars einen niedrigen Kenntnisstand und auch wenig Möglichkeiten haben, kritisches Denken einzuüben. Ohne weitverbreitetes fundiertes Wissen auch im politischen Bereich kann aber keine langfristig gut funktionierende Demokratie aufgebaut werden. Hier kommen, bis der Staat die Lücke selber füllen kann, Akteure wie die Stiftung für die Freiheit zum Einsatz.

Als Außenstehender ist es teils schwierig zu glauben, wie extrem niedrig der Bildungsstand im gesamten Land insbesondere in Bezug auf Politik ist. Fragen wie 'Was ist Demokratie?' oder 'Was sind Menschenrechte?' lösen zumeist ratloses Kopfschütteln aus. Woher sollen auch Menschen, die den größten Teil ihres Lebens in einem repressiven System von Militärdiktatur verbracht haben, so etwas wissen? Die ersten recht freien und fairen Wahlen fanden schließlich erst 2015 statt. Hätten sich Myanmars Bürger noch vor einigen Jahren öffentlich mit Demokratie und Menschenrechten befasst, so hätte ihnen Gefängnis oder Schlimmeres gedroht. Das hat sich erst vor kurzem geändert. Die Stiftung hat die Erfahrung gemacht, dass Interesse und Wissbegier insbesondere in armen, abgelegenen Gemeinden enorm groß sind.

"Bevor wir Demokratie hatten, konnte ich nie frei über Politik reden, aber jetzt geht das. Außerdem hat sich für uns hier oben in den Dörfern die Lage was Elektrizität, Straßen, Wasserversorgung, sowie Medien und Kommunikation angeht extrem gebessert. Auch können wir Chin jetzt weitaus einfacher einen Job sogar im Staatsdienst bekommen als zuvor", so ein Seminarteilnehmer aus dem Chin Staat, der wie die meisten Bewohner des zweitärmsten Staates des Landes der Chin Ethnie angehört, die in der Vergangenheit stark marginalisiert wurde.

Eine andere Teilnehmerin, die 17-jährige Jenavy, fügt hinzu: "Diese Trainings sind so wichtig für uns. Hier können wir erst mal Falsches verlernen, was noch aus den alten Zeiten in unseren Köpfen war. Und dann das Richtige lernen." In der Tat ist nicht nur Unwissenheit, sondern in hohem Maße auch Fehlwissen ein echtes Problem. Dies zeigt sich in der Krise in Rakhine ganz besonders. Vorurteile gegenüber anderen Religionen und Ethnien gehen tief – das Militär hat seine Legitimation jahrzehntelang aus dem Anspruch hergeleitet, das Land sei von sezessionistischen Minderheiten bedroht und nur das Militär könne die Einheit der Nation garantieren. Kritisches Denken war absolut unerwünscht und die Menschen haben durch die lange Zeit der Staatsmedien und Zensur nie gelernt, Quellen zu prüfen und ein Bewusstsein für die Existenz von "Fake News" zu entwickeln. Zwar glaubte früher kaum einer alles, was die Staatsmedien präsentierten, dies führte aber zu einer brodelnden Gerüchteküche und diese floriert nach wie vor – nur dass sie nicht mehr von Teehäusern aus, sondern via sozialer Medien geführt wird.

Allianz von Unwissen und Vorurteilen

Mit dem Aufstieg von freien und insbesondere auch von sozialen Medien geht zudem eine oftmals naive Akzeptanz einher von allem, was auf dem Bildschirm oder dem Papier erscheint. Blitzschnell gehen in dem armen Land, in dem günstige Smartphones mittlerweile allgegenwärtig sind, gefälschte Fotos viral, die angeblich Rohingya beim Quälen kleiner Kinder oder anderer Scheußlichkeiten zeigen, was den Hass weiter anstachelt. Nationalistisch extremistische buddhistische Mönche tragen ebenfalls mit ihren Hassreden zur Misere bei. Traditionell genießen buddhistische Mönche in Myanmar höchstes Ansehen, auch wegen ihrer Rolle im Widerstand gegen die Militärherrschaft, ihr gesellschaftlicher Einfluss ist riesig, ihr Wort wird selten hinterfragt. Immerhin hat die Regierung mittlerweile die schlimmste und mächtigste dieser mönchsgeleiteten Gruppen 'Ma Ba Tha' verboten.

Hier kommt es also zu einer unheiligen Allianz von Unwissen und Vorurteilen, gepaart mit einem Mangel an kritischem Umgang mit Medien und Onlinequellen. Angesichts des noch sehr frischen Übergangs von einer Militärdiktatur zu einer mehr oder weniger funktionierenden Demokratie ist dies wenig erstaunlich. Trotz der Öffnung des Landes liegen die Befugnisse in zentralen Fragen der Sicherheit und des Staatsaufbaus noch immer beim Militär. Dies entschuldigt selbstverständlich nicht das Verhalten der Regierung (vom eigentlich verantwortlichen Militär ganz zu schweigen), aber es zeigt auch, dass trotz der momentanen Krise der Transformationsprozess hin zu einer funktionierenden Demokratie mit starkem Rechtsstaat noch nicht als gescheitert angesehen werden kann. Ja, auf dem Papier hat sich 2015 in vielerlei Hinsicht ein Wandel zu einem besseren, freieren, faireren Staat vollzogen. In der Realität und in den Köpfen der Menschen wird dieser Prozess noch länger dauern. Die Gewalt muss natürlich umgehend beendet und humanitäre Hilfe muss zugelassen werden. Aber was den noch jungen Transformationsprozess angeht, ist etwas Geduld nötig. Unsere eigenen Erfahrungen mit der Transformation in Osteuropa und auch in Ostdeutschland haben uns gezeigt, wie langwierig solche Transformationsprozesse sind.

Der Aufbau einer Zivilgesellschaft braucht Zeit. Myanmars Transitionsprozess darf zu diesem Zeitpunkt noch nicht als gescheitert aufgegeben werden. Potential ist trotz aller derzeitigen Schrecken vorhanden. Ein langfristiger Wandel beginnt in vielerlei Hinsicht in den Köpfen. Viele Menschen Myanmars jeglicher Religionen und Ethnien setzen sich dafür ein. Als ausländische Organisation kann die Stiftung da mit ihren Jahrzehnten an Erfahrung in politischer Bildung eine helfende Hand reichen. In ihren Seminaren behandeln die engagierten einheimischen Trainer nicht nur Grundlagen der Demokratie, sondern sehr intensiv auch Konzepte wie Toleranz und Pluralismus, und fördern kritisches Denken. Langfristig kann dies zu einem echten Wandel beitragen.

Katharina Weber-Lortsch leitet das Büro der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit in Myanmar.