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Russland
Das vielstimmige Russland braucht unsere Hilfe

Der Rote Platz in Moskau
Der Rote Platz in Moskau: Russland und Deutschland verbindet mehr als die beiden Länder trennt  © picture alliance

Mit einer Volksabstimmung - unter Ausschluss von Wahlbeobachtern - zur Verfassungsänderung in Russland hat sich Präsident Wladimir Putin ermöglicht bis 2036 Präsident bleiben zu können. Während Staatsapparat und treue Medien laut für die Änderungen trommelten, wurde ebenso hart gegen alle Gegenstimmen vorgegangen.

Am 12. Juni hatte Putin bereits verkündet, er sei sich sicher, dass die „absolute Mehrheit unserer Bürger“ die Änderungen unterstützen. Die veröffentlichte Zustimmung von fast 80% entspricht den Worten Putins, nicht aber den Ergebnissen anderer Meinungsumfragen. Dem nervösen Machtapparat war das deutliche Ergebnis deswegen so wichtig. Im April nannten selbst nach einer Umfrage des staatlichen Umfrageinstituts WZIOM unter 29% der Russen Putin auf die Frage welchen Politikern sie trauen würden.

Die Wurzeln für den Vertrauensverlust liegen tiefer

Man kann schwindendes Vertrauen auf die wirtschaftliche Realität zurückführen. Wegen Corona haben laut einer Studie der Moskauer Higher School of Economics mehr als 60 Prozent der Russen ihr Einkommen ganz oder teilweise eingebüßt, bei fast 10 Millionen Arbeitslosen. Aber die Wurzeln für den Vertrauensverlust liegen tiefer. Vertrauen beginnt immer mit der Erfahrung von verlässlichem Handeln.

Es ist kein Zufall, dass Liberale, die wir die Würde und Freiheit des Einzelmenschen in den Mittelpunkt stellen, immer für die Herrschaft des Rechts und seiner unabhängigen Institutionen streiten. Denn die dem ehemaligen peruanischen Präsidenten Oscar R. Benavides zugeschrieben Worte: "Für meine Freunde alles, für meine Feinde das Gesetz” schaffen Unsicherheit statt Vertrauen. Genau mit diesen Worten beschrieb der ehemalige russische Vizepremierminister Boris Nemzow die fehlende Rechtstaatlichkeit unter Putin.

Verschreckt und untergraben

Fehlendes Vertrauen aufgrund unzureichender Rechtstaatlichkeit untergräbt wirtschaftliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Wer wie dieser Tage Kritiker der Veränderung der russischen Verfassung im Staatsfernsehen als „fünfte Kolonne“ beschimpft, verschreckt genau die Teile der russischen Bevölkerung die selbst etwas zur Entwicklung ihres Landes beitragen wollen.

Während 2014 die Annexion der Krim kurzzeitig in großen Teilen der russischen Bevölkerung Enthusiasmus über wiedererlangte vermeintliche Stärke auslöste, führte der sichtbare Bruch internationalen Rechts auch zu einem Vertrauensverlust mit sofortigem Einbruch von Investitionen in die russische Wirtschaft. Und wer den freien Austausch der Wissenschaft einschränkt, wie es neue Gesetze in Russland verlangen, untergräbt woraus diese ihre Kraft zieht.

Was Russland und Deutschland verbindet

Wir haben das Glück, dass wir aus zahllosen Begegnungen von Karelien bis Sibirien, aber genauso in Moskau und Sankt Petersburg offene Gesprächspartner und viele Gleichgesinnte kennen. Wir durften erfahren, dass uns von Russen und anderen Bürgern der ehemaligen Sowjetunion nie die unbegreifliche Opferzahl des verbrecherischen Zweiten Weltkrieges vorgehalten wurde.  Und wir durften oft feststellen, dass Russland und Deutschland mehr verbindet als trennt.

Für bedeutende deutschsprachige Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke oder Stefan Zweig war Russland genauso Referenzpunkt und Inspiration wie sie russische Größen von Iwan Turgenjew bis Fjodor Dostojewski in Deutschland fanden. Der selbsterklärte “Tiefgang” der deutschen Romantiker kennt ein Konzept von Würde, die der “großen russischen Seele” ähnelt. Aber auch die Gleichzeitigkeit von barbarischer Archaik und aufgeklärter Moderne mussten Menschen in beiden Ländern mehr als einmal erleiden. Diese Nähe gibt eine Grundbasis für Vertrauen aus der auch Verantwortung wächst.

Grundbasis für Vertrauen

Aber auch die Gleichzeitigkeit von barbarischer Archaik und aufgeklärter Moderne mussten Menschen in beiden Ländern mehr als einmal erleiden. Diese Nähe gibt eine Grundbasis für Vertrauen aus der auch Verantwortung wächst. Gerade im Angesicht ihres Fehlens erkennen viele die vertrauensspendende Kraft der liberalen Demokratie.

Es ist kein Zufall, dass liberale Denker wie Karl Popper, Hannah Arendt, Friedrich von Hayek oder Ralf Dahrendorf heute große Resonanz in russischen Intellektuellenkreisen erfahren (Ralf Dahrendorfs “Versuchungen der Unfreiheit: die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung” erscheint diesen Sommer in Moskau erstmalig in russischer Sprache.).

Das vielstimmige Russland braucht unsere Hilfe

Deren Denken durchzieht der Gedanke, dass für die Entwicklung einer Gesellschaft zuerst die Rechte jedes Einzelnen geschützt sein müssen, wodurch diese erst ihre kreative Gestaltungskraft entfalten können. Das ist eng verbunden mit dem Freiheitsdiskurs der russischen liberalen Denker und Politiker, die vor der bolschewistischen Revolution auch die erste Duma dominierten.

In Russland gibt es auch heute Soziologen, die es schaffen durch Analyse von Rechtsinstitutionen zu deren unabhängigeren Funktionieren beizutragen, Journalisten, die ihre unabhängige Stimme in neuen Online-Formaten erhalten und mutige Menschenrechtler, die sich für den Rechtsschutz politisch Verfolgter einsetzen. Man kann von den Menschen in Russland lernen, wie kreativ und mutig Rechte und Werte auch gegen großen Druck verteidigt werden können. Damit ein solches, vielstimmiges Russland unter immer autoritärerer Herrschaft überleben kann, brauchen es aber auch unsere Hilfe.

Primat der Verteidigung der Menschenrechte

Die Deutschen haben da eine besondere Verantwortung. Man hilft den Russen nicht, wenn man versucht sich dem Kreml bedingungslos anzudienen – wie es große Teile aus AfD und Linke versuchen – noch indem man Russland den Dialog verwehrt. Seit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine, aber auch im Angesicht des autoritären Trends im Inneren, ist ein vielschichtiger Dialog umso wichtiger geworden.

Aber, dass Dialog fruchtbar Vertrauen aufbauen und russischer Zivilgesellschaft helfen kann, braucht er Klarheit und Kohärenz. Auch bei scheinbar unpolitischer Wirtschaftskooperation muss immer und unmissverständlich ein Primat der Verteidigung der Menschenrechte und des Völkerrechts stehen.

Nur wenn wir da konsequent bleiben, gewinnen wir Glaubwürdigkeit, die Vertrauen möglich macht. Auch wenn die übergeordnete Bedeutung des internationalen Rechts in der aktuellen Verfassungsänderung aufgeweicht werden soll, können wir da weiter auf eine gemeinsame Wertebasis zurückgreifen, denn im Artikel 2 der russischen Verfassung heißt es: „Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten bilden die höchsten Werte. Anerkennung, Wahrung und Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers sind Verpflichtung des Staates.“ Wir haben die Verantwortung diese Worte ernst zu nehmen und zum Primat unserer Dialogbemühungen zu machen. 

 

Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D. und Julius von Freytag-Loringhoven, Projektleiter Russland der Friedrich Naumann Stiftung.

Der Artikel ist am 3. Juli auf Cicero.de erschienen und hier zu finden.