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Rückblick
Lambsdorff-Papier: Trendwende in der Wirtschaftspolitik

Das sogenannte "Lambsdorff-Papier" wird vor allem als Scheidepapier der sozial-liberalen Koalition gesehen - zu Unrecht

Anlässlich des 10. Todestages Otto Graf Lambsdorffs am 5. Dezember blicken wir auf das Wirken des liberalen Wirtschaftspolitikers zurück. Das berühmte „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, das 1982 das Licht der Öffentlichkeit erblickte, wird vor allem als Scheidebrief zwischen den Partnern der sozial-liberalen Koalition angesehen. Doch damit wird sowohl den Absichten seiner Urheber Unrecht getan, als auch die mittel- und langfristige Wirkung des „Lambsdorff-Papiers“ – so der populäre Titel – verkannt.

Entstanden war es vor dem Hintergrund eines grundlegenden Wandels, der sich weltwirtschaftlich im Gefolge der doppelten „Ölpreiskrise“ während der späten 1970er Jahre vollzog. Die Bundesrepublik, verwöhnt durch einen langanhaltenden Wirtschaftsaufschwung, das sogenannte „Wirtschaftswunder“, sah sich um 1980 mit erschreckenden ökonomischen Indikatoren konfrontiert: Das Wirtschaftswachstum tendierte gegen null, binnen weniger Jahre verdoppelte sich die Arbeitslosenquote auf bis dato unbekannte Höhen, gleichzeitig stieg die Staatsverschuldung um ein Drittel.

Die Gegenmaßnahmen, mit denen die Koalitionspartner der Regierung Schmidt-Genscher dieser Entwicklung begegnen wollten, waren höchst unterschiedlich: Die Freien Demokraten hatten schon seit ihrem Kieler Parteitag 1977 mit einer Abkehr von der „keynesianischen“ Wirtschaftspolitik und einer marktwirtschaftliche Rückbesinnung begonnen, die Mehrheit der Sozialdemokraten setzte dagegen weiterhin auf den Staat und verstärkt auf Steuererhöhungen, wie sich vor allem bei ihrem Parteitag im April 1982 zeigte.

Kanzler Helmut Schmidt gab Lambsdorff den Auftrag

Kanzler Helmut Schmidt, selbst eher skeptisch gegenüber den wirtschaftspolitischen Konzepten seiner Partei eingestellt, wollte aber die innerparteilichen Differenzen überdecken und forderte seinen Wirtschaftsminister auf, seine Kritik an der SPD in einem Papier zusammenzufassen. Da Otto Graf Lambsdorff in seinem Ministerium schon seit längerem ein Konzept für eine tiefgreifende Wende in der Wirtschaftspolitik erarbeiten ließ, konnte er schon nach wenigen Tagen „liefern“; das „Lambsdorff-Papier“ war geboren.

Nicht nur in sozialdemokratischen Augen kam das Papier einer Provokation gleich, forderte es doch strikte Haushaltskonsolidierung, Umschichtung öffentlicher Ausgaben, mehr Handlungsspielraum für die Privatwirtschaft sowie eine „relative Verbilligung des Faktors Arbeit“. Lambsdorff betonte zwar, das Konzept diene „in Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des Fundaments für unser Sozialsystem“, trotzdem schlug ihm in der Öffentlichkeit Ablehnung und Widerstand entgegen; selbst in den Reihen der eigenen Partei herrschte Skepsis, ob ein solches Konzept politisch klug und umsetzbar sei. Kanzler Schmidt nutzte diese Stimmung, um zunächst Lambsdorff und dann mit ihm die Freien Demokraten zu den „Schuldigen“ für das Ende der Koalition und seiner Kanzlerschaft zu machen, dabei geschickt die vorherige Abkehr der Sozialdemokraten vom bisherigen Regierungskurs verbergend.

Ein technischer Kniff im Parteienkampf?

Langfristig zeigte sich aber, wie richtig der von Lambsdorff vorgeschlagene Weg gewesen ist. Zwar machte sich auch die auf das Kabinett Schmidt folgende Regierung Kohl-Genscher nur Teile davon zu Eigen, aber das reichte schon, um in den 1980er Jahren die wirtschaftlichen Trends umzukehren und wieder solides Wachstum hervorzubringen. In den Jahren der Wiedervereinigung geriet dann allerdings vieles von dem, was das „Lambsdorff-Papier“ vorgeschlagen hatte, nolens volens aus den Augen. So tauchten spätestens um die Jahrtausendwende erneut die alten ökonomischen Probleme auf, mit denen sich nun in noch gravierenderem Maße die neue Bundesrepublik auseinandersetzen musste.

Da feierte dann das Lambsdorff-Konzept eine regelrechte Renaissance, ironischerweise ausgerechnet unter einem sozialdemokratischen Kanzler, der gemeinsamen mit den Grünen regierte, die zumindest  indirekt ihren Eintritt in die Bundespolitik dem „Lambsdorff-Papier“ verdankten: Sie waren erstmals in den Bundestag im Zuge jener Wahl eingezogen, die auf den Bruch der sozial-liberalen Koalition gefolgt war.

Die „Agenda 2010“ war in vielem, vor allem in ihrer Stoßrichtung eine Neuauflage jenes Papiers, das damals schon 25 Jahre auf dem Buckel, aber nichts von seiner Aktualität eingebüßt hatte. Die überaus positiven Folgen für die Situation in der Bundesrepublik sind allgemein bekannt. Insofern ist das „Lambsdorff-Papier“ aus heutiger Perspektive weit mehr als ein taktischer Kniff im Parteienkampf gewesen: Es hat die politische Agenda der Bundesrepublik lange Zeit stark beeinflusst und dies keinesfalls zum Schaden der Deutschen. Zweifellos gehört es zu den wichtigen Beiträgen, die die Liberalen für dieses Land geleistet haben.