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Ostdeutschland
Der Osten braucht Politik, nicht Mitleid

Karl-Heinz Paqué fordert in seinem Gastbeitrag in der Welt einen "Aufbruch Ost"
Ostdeutschland erreicht in der Wertschöpfung pro Kopf nokh immer rund ein Drittel weniger als der Westen Quelle: pa/i

Ostdeutschland erreicht in der Wertschöpfung pro Kopf noch immer rund ein Drittel weniger als der Westen.

© iStock Editorial / Getty Images Plus / Mattis Kaminer

Dieser Artikel wurde am Sonntag, den 30. September 2018 in der Welt veröffentlicht und ist online auch hier zu finden.

Die Ostdeutschen sind Opfer ihrer Biografie, sagt Angela Merkel. Damit fördert die Bundeskanzlerin die Spaltung Deutschlands. Stattdessen muss der Blick nach vorne gehen. Ein „Aufbruch Ost“ muss das Ziel sein.

Hillary Clinton beging im Wahlkampf 2016 einen fürchterlichen Fehler. Sie bezeichnete die Anhänger Donald Trumps als „Deplorables“, zu Deutsch: die Bedauernswerten. Das wurde ihr sehr übel genommen. Nicht zu Unrecht, denn der Begriff zeugt von gönnerhaftem Großmut – nach dem mitleidigen Motto: Die Ärmsten können nichts dafür, dass sie so dumm sind und einem Rattenfänger folgen.

Angela Merkel ist auf dem besten Weg, Hillary Clinton rhetorisch zu folgen. Wie WELT AM SONNTAG berichtet hat, äußerte sie jüngst in Augsburg, dass die Härten des wirtschaftlichen Wandels im Zuge von Wiedervereinigung und Aufbau Ost erklären, weshalb heute viele Ostdeutsche frustriert reagieren.

Damit ließe sich, so Merkel, der Hass auf den Straßen und damit wohl auch die Hinwendung zu Pegida und AfD plausibel machen, wenn auch nicht rechtfertigen. Merkels Motto: Die Ostdeutschen können nichts dafür, sie sind Opfer ihrer eigenen Biografie. Es geht also um Spätfolgen der Wiedervereinigung. Auch hier wie bei Hillary Clinton: Mitleid für die Kritiker.

Politik muss Ost-West-Gefälle erklären

Wie werden diejenigen, deren Befindlichkeit hier diagnostiziert wird, auf diese Botschaft reagieren? Es liegt nahe zu vermuten, dass sie empört sein werden: Die deutsche Kanzlerin nimmt die Kritik gar nicht ernst, sondern versucht nur, diese zu erklären – als Ergebnis eines bedauerlichen biografischen Schicksals.

Aus dem Munde eines Historikers oder Psychologen mag man solche Deutungen noch mit Mühe akzeptieren. Von der Politik erwartet man zu Recht anderes: zum einen die Fähigkeit, eigene Fehler einzugestehen, was die Bundeskanzlerin mit Blick auf ihre Flüchtlingspolitik von 2015 bis heute nicht getan hat. Wichtiger noch: Man verlangt Konzepte, wie der Osten vorankommen kann, um das noch immer vorhandene Gefälle zwischen West und Ost kleiner zu machen.

Es geht um mehr Wirtschaftsdynamik im Osten, der immer noch in der Wertschöpfung pro Kopf rund ein Drittel weniger erreicht als der Westen. Damit wird natürlich nicht die Deutsche Einheit als gescheitert gebrandmarkt, aber es wird politisch ins Visier genommen, was noch zu tun ist.

Politisch hilft nur das Blick nach vorn

Darüber herrscht übrigens in der Wissenschaft weitgehend Einigkeit: Es fehlt an jener Innovationskraft, die traditionelle westdeutsche Zentren der Industrie ganz natürlich aufweisen. Es geht darum, weg zu kommen von der Rolle als verlängerte Werkbank und zur eigenen Brutstätte neuen Wissens und dessen wirtschaftlicher Anwendung zu werden.

Jeder weiß: Das ist noch ein langer schwieriger Weg, aber ihn überhaupt gemeinsam anzugehen, stärkt das Selbstbewusstsein. Ein „Aufbruch Ost“ muss her – eine Art Masterplan zur Stärkung der Wirtschaft, und zwar nicht nur in den urbanen Zentren des Ostens, sondern auch in den dünner besiedelten ländlichen Räumen.

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit sollte die Politik am besten vollends der Geschichtswissenschaft überlassen. Diese ist ja auch schon fleißig bei der Arbeit: In einem großangelegten Projekt, finanziert durch das Bundesministerium der Finanzen, werden derzeit vom Institut für Zeitgeschichte München/Berlin die Aktenbestände der Treuhandanstalt aufgearbeitet.

Herauskommen wird in wenigen Jahren ein fundiertes Bild dessen, was diese von vielen verhasste Institution falsch oder richtig gemacht hat. Dann erst lässt sich vernünftig diskutieren. Versuche der Kanzlerin und jüngst auch einiger SPD-Politiker, diese Vergangenheit als Erklärung für heutige Probleme zu nutzen, werden scheitern. Was politisch allein hilft, ist der Blick nach vorn.