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NATO-Gipfel
Macron tut der NATO gut

Die NATO vor dem Gipfeltreffen
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Emmanuel Macron.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Emmanuel Macron. © picture alliance/MAXPPP

Vor dem inoffiziellen Gipfel in London streitet das Bündnis über die Aussage des französischen Präsidenten, die NATO sei „hirntot“. Hinter einer unpassenden Wortwahl steht jedoch eine treffende und wertvolle Analyse.

Diese Woche kommen die Staats- und Regierungschefs der 29 NATO-Mitgliedstaaten zu ihrem inoffiziellen Gipfeltreffen in London zusammen. Im Vordergrund der Berichterstattung steht jedoch nicht das 70-jährige Jubiläum der nordatlantischen Allianz, sondern die Debatte um die Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dieser hatte in einem Interview mit dem Economist festgestellt, dass wir „im Moment den Hirntod der NATO erleben“.

Macrons makabere und provokante Wortwahl ist für einen Staatspräsidenten unüblich und hat in weiten Teilen der Allianz Empörung hervorgerufen. Er hätte besser sanftere Worte gefunden, wie der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: „Die NATO befindet sich in einem leichten Schlummer“. Doch sieht man einmal von der unpassenden medizinischen Metapher ab, ist die Analyse des französischen Präsidenten treffend und sein Denkanstoß dringend notwendig.

Die reflexartige Erwiderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das nordatlantische Bündnis sei wichtig und unabdingbar, steht nicht im Widerspruch zu Macrons Ausführungen. Wenn diesem die NATO nicht wichtig wäre, würde er sich nicht intensiv mit ihren derzeitigen Unzulänglichkeiten befassen und ihr den größten Teil eines epochalen Interviews widmen. Gerade weil Macron um die Bedeutung der Beziehungen innerhalb der Allianz weiß und sich für deren erfolgreichen Fortbestand einsetzt, spricht er wichtige Fragen offen an.

Wie können die europäischen Verbündeten wieder Vertrauen in ihre US-amerikanischen Partner fassen, wenn diese ihre strategischen Entscheidungen nicht mit ihnen abstimmen? Erst Ende Oktober hatte Präsident Donald Trump bekannt gegeben, amerikanische Truppen unverzüglich aus Nordost-Syrien abzuziehen – ohne vorher Frankreich oder Großbritannien zu informieren, deren Truppen in der Region gemeinsam mit den Amerikanern gekämpft hatten. Auf amerikanischer Seite fragt man sich zu Recht, ob die europäischen Verbündeten jemals ihren Versprechen nachkommen und mehr Geld in ihre eigenen Streitkräfte investieren werden. Amerikaner und Europäer fragen sich gemeinsam: wie soll die Allianz mit einem Mitglied wie der Türkei umgehen, dass völkerrechtswidrig in Syrien einmarschiert und sich sukzessive den Grundsatz der NATO, eine Gemeinschaft von Demokratien zu sein, ad absurdum führt?

Macron wird dafür kritisiert, mit diesen Einlassungen die Allianz zu schwächen. Das Gegenteil ist der Fall. Diese offensichtlichen Fragen nicht anzusprechen oder beiseite zu wischen, wäre geradezu absurd und würde die Glaubwürdigkeit der NATO erst recht unterminieren.

Weder der russische Präsident Vladimir Putin, der allgemein als wahrscheinlichster Initiator einer militärischen Aggression gegen NATO-Mitglieder gesehen wird, noch 64% der deutschen Bundesbürger, die in einer aktuellen Umfrage des Pew Research Centers die Beziehungen ihres Landes zu den USA als schlecht bewerten, brauchen Macrons Interview zu lesen, um sich der mangelnden strategische Abstimmung der NATO-Mitglieder untereinander bewusst zu werden. Der russische Präsident hat bisher trotzdem davor zurückgeschreckt, die baltischen Staaten oder Polen anzugreifen und die deutschen Bürger wählen mehrheitlich Parteien, die sich klar zur NATO bekennen. Denn wenngleich die internen Spannungen für alle Welt offensichtlich sind, hat die Bedeutung der NATO als Verteidigungsbündnis nicht gelitten.

Kopf kaputt, Seele intakt?

Macrons Kritik bezieht sich vor allem auf den „Kopf“ oder wie er sagt, das „Gehirn“ der NATO. Damit ist die strategische Abstimmung der Mitglieder untereinander gemeint, zum Beispiel bei der Durchführung von Einsätzen außerhalb des eigenen Bündnisgebietes, wie im Rahmen der Bekämpfung der Taliban in Afghanistan oder des so genannten Islamischen Staates in Syrien. Auch bei der Kündigung des INF-Vertrages, dem Rückzug der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und im Konflikt um das Atomabkommen mit Iran wurden fehlende Kommunikation und fundamentale Meinungsverschiedenheiten offenkundig. Vom „Kopf“ der NATO zu unterscheiden ist jedoch ihre „Seele“, die in Artikel 5 der NATO-Charta verankerte gegenseitige Beistandsverpflichtung im Falle eines Angriffes durch Dritte.

Vieles deutet daraufhin, dass die „Seele“ der NATO in einer guten Verfassung ist. Auch wenn die Rhetorik des US-Präsidenten bisweilen Zweifel an dessen Verlässlichkeit lassen mag, so sprechen mehr als 60.000 in Europa stationierte amerikanische Soldaten für ein umso stärkeres Bekenntnis zur Beistandsverpflichtung. Die 29 NATO-Mitglieder tragen gemeinsam zu mehr als der Hälfte des weltweiten Wirtschaftsvolumens bei und sind damit mit Abstand die mächtigste Allianz der Welt. Diese hat auch ihre Anziehungskraft auf ihre Umgebung nicht verloren. Schon bald wird Nordmazedonien als 30. Mitglied dem Bündnis beitreten.

Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Maas untermauerten ihre Kritik an Macron mit der Bemerkung, Europa könne sich nicht selbst verteidigen. Damit scheinen sie zu suggerieren, dass die eigene Verteidigungsunfähigkeit eine Voraussetzung wäre, um sich im Ernstfall des militärischen Beistandes der amerikanischen Partner sicher sein zu können. Interessanterweise sind ausgerechnet die USA das erste und bisher einzige Bündnismitglied, das den Beistand seiner Partner auf Grundlage von Artikel 5 in Anspruch genommen hat. Obwohl niemand daran gezweifelt hätte, dass die USA sich selbst verteidigen können, standen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 alle der damals 18 anderen Bündnispartner mit Worten und Taten solidarisch an der Seite der Amerikaner.

Die Frage lautet eher, wie lange die amerikanischen Partner bereit sind, eine Europäische Union zu verteidigen, die selbst nicht genug in ihre eigene Verteidigungsfähigkeit investiert. Die Entwicklung einer eigenständigeren europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist deshalb kein Widerspruch zur NATO, sondern eine Voraussetzung für ihren Fortbestand. In diese Richtung zielen auch die Überlegungen des französischen Präsidenten. Beim leaders meeting in London werden die Staats- und Regierungschefs kaum Zeit haben, diese Fragen eingehend zu diskutieren. Umso wichtiger ist es also, dass jemand den Anstoß für eine weitreichende öffentliche Debatte gegeben hat.

Sebastian Vagt leitet den Hub für Sicherheitspolitik der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.