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NATO
70 Jahre NATO: Zum Geburtstag viel Streit

Trotz Differenzen - NATO auch weiterhin Garant für Frieden und Sicherheit
NATO Jubiläum

Außenministerkonferenz in Washington, DC zum NATO Jubiläum am 4. April 2019.

© picture alliance / AP Photo

Die Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag der NATO stehen im Zeichen der anhaltenden Verstimmung zwischen den transatlantischen Partnern. Das fröhlichere NATO-Jubiläum gab es bereits im März: Warschau, Prag und Budapest feierten 20 Jahre NATO-Osterweiterung. 

Zum Geburtstag viel Streit

Sebastian Vagt

Die NATO erreicht ein Alter, das für Verteidigungsbündnisse einzigartig ist. Sie wird 70 Jahre alt und hat damit den Konflikt, für den sie ursprünglich gegründet wurde, fast 30 Jahre überdauert. Nordamerikanern und Europäern gilt sie nach wie vor als institutioneller Kern der transatlantischen Freundschaft und als Garant für Frieden und Sicherheit in Europa. Die Feierlichkeiten zum Geburtstag der Allianz werden jedoch von den aktuellen Spannungen zwischen Amerikanern und Europäern und von den zukünftigen Herausforderungen überlagert.

Neue Bedrohungsszenarien

Anders als die meisten Militärbündnisse in der Geschichte durfte sich die NATO nach Ende des Kalten Krieges neu erfinden. Statt als Bollwerk gegen den Warschauer Pakt diente sie den transatlantischen Partnern fortan zur Krisenintervention. Auf den Krieg in Jugoslawien folgten die langwierigen Einsätze im Irak, in Afghanistan und in Libyen. Obwohl die NATO nach bald 20-jährigem Engagement immer noch um die Stabilisierung Afghanistans kämpft, liegt der Fokus der Allianz spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland auf einer neuen Bedrohung: erstarkende Mächte, die die bestehende liberale Weltordnung mit militärischen und anderen Mitteln herauszufordern bereit sind. Russland unter Führung Wladimir Putins hat dies mit begrenzten Mitteln bereits erfolgreich getan. China wird mit Blick auf die demografische und wirtschaftliche Entwicklung langfristig über Fähigkeiten verfügen, dies noch erfolgreicher zu tun, wenn es den Willen dazu entwickelt.

Über dieses Bedrohungsszenario dürfte im transatlantischen Bündnis Einigkeit bestehen. Uneinig ist man sich jedoch darüber, wie diesen Bedrohungen am besten zu begegnen ist und wie die Lastenteilung zwischen den US-Amerikanern und den übrigen Verbündeten, insbesondere Deutschland, auszusehen hat. 

US-Präsident Trump hat die vergleichsweise niedrigen Verteidigungsausgaben der meisten westeuropäischen Alliierten zum Top-Thema gemacht. Nur fünf von 29 Bündnispartnern erreichen bereits das für 2024 vereinbarte Ziel, Mittel in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die eigenen Streitkräfte auszugeben. Noch weniger schaffen es dabei, auch den geforderten Anteil von 20 Prozent an Investitionen in Entwicklung und Beschaffung von Waffensystemen zu leisten.

Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz (SPD) verpasste den Jubiläumsfeierlichkeiten vor diesem Hintergrund einen weiteren Dämpfer, als er vor wenigen Tagen die geplante Erhöhung des deutschen Verteidigungsbudgets radikal zusammenstrich. Seitdem bestehen berechtigte Zweifel, ob Deutschland wenigstens sein selbst gestecktes Ziel von 1,5 Prozent erreichen kann. 

Beistand nur auf dem Papier?

Bei den Amerikanern entsteht so der Eindruck, dass viele europäische Bündnispartner sicherheitspolitische Trittbrettfahrer seien. Untermauert wird dieses Empfinden von einer öffentlichen Umfrage des Forschungsinstituts Pew aus dem vergangenen Jahr. Demnach glauben 65 Prozent der Deutschen, dass die Amerikaner einen Bündnispartner im Falle eines militärischen Angriffes durch Russland verteidigen würden. Nur 40 Prozent der Befragten sind dagegen der Meinung, dass auch die Bundeswehr ihrer Bündnisverpflichtung in einem solchen Szenario nachkommen solle. Ganz anders lauten die Umfrageergebnisse in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten, wo sowohl das Vertrauen auf amerikanischen Beistand als auch die Bereitschaft zum eigenen Engagement gleichermaßen hoch sind. 

Viele europäische Mitgliedstaaten sind umgekehrt davon erschüttert, dass Präsident Trump bereits mehrfach sowohl die Existenz der NATO als auch die Beistandsverpflichtung gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages infrage gestellt hat. Denn die Abschreckung eines militärischen Angriffes ist nur nachhaltig möglich, wenn sich alle Bündnispartner auch glaubhaft zu ihrer Beistandsabsicht bekennen. Weiteren Schaden genommen haben die transatlantischen Beziehungen durch den unvermittelten Austritt der USA aus mehreren für die Sicherheit Europas elementaren Vertragswerken, allen voran dem Pariser Klimaschutzabkommen, dem Atom-Abkommen mit dem Iran und dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag). Auf europäischer Seite wachsen seitdem Zweifel, inwiefern die Amerikaner auch nach der Präsidentschaft Donald Trumps noch bereit sein werden, gemeinsame Ziele im Bereich des Klimaschutzes und der Abrüstung zu verfolgen. 

Gemeinsamkeiten stärken

Eine Schlüsselrolle für die Zukunft der transatlantischen Allianz werden ausgerechnet die europäischen Initiativen für eine engere Verteidigungszusammenarbeit spielen. Wird es den Europäern gelingen, ihren amerikanischen Bündnispartnern zu vermitteln, dass die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU keine Konkurrenzorganisation sondern eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO ist? Und werden die Amerikaner akzeptieren können, dass die Europäer ihre Waffensysteme in Zukunft womöglich häufiger selbst entwickeln und seltener in den USA beschaffen werden?

Klar ist, dass auch die permanente strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) der Europäischen Union in der Verteidigungspolitik nur Erfolg haben kann, wenn die europäischen Staaten mehr in ihre Streitkräfte investieren. In diesem Fall zumindest dürften sich amerikanische und europäische Interessen treffen.

Erfolgsmodell NATO-Osterweiterung

Detmar Doering

Tschechien, Polen und Ungarn machten am 12. März 1999 den Anfang. Vor fast genau 20 Jahren – und 50 Jahre nach ihrer Gründung - wurde die NATO um Mitglieder erweitert, die noch nicht allzu lange zuvor im Kalten Krieg auf der gegnerischen Seite gestanden hatten. Für das Sicherheitsbündnis begann eine Wachstumsphase sondergleichen: 2004 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien, 2008 Albanien und Kroatien und schließlich 2017 Montenegro.

Keine Zweifel bei den Beitrittsländern

In den neuen NATO-Staaten gibt es bis heute kaum irgendeinen Zweifel daran, dass der vor 20 Jahren begonnene Prozess der Osterweiterung der richtige Weg war. Selbst der Nationalpopulismus, der sich in den vergangenen Jahren in einigen mitteleuropäischen Ländern – man denke an Polen und Ungarn – ausgebreitet hat, richtet sich zwar häufig gegen die Europäische Union, selten aber gegen die NATO. Sie ist das eine übernationale Globalisierungsprojekt, das fast überall akzeptiert ist.

Selbst die Regierung Orbán, die wegen ihres „Schmusekurses“ gegenüber Wladimir Putin von vielen NATO-Experten bereits als eine Art Sicherheitsrisiko betrachtet wird und als Gegnerin der Sanktionspolitik gegenüber Russland nach der Krimkrise auftritt, enthält sich jeglicher prinzipiellen Anti-NATO-Rhetorik. Zu hoch ist die Bedeutung des Bündnisses für die eigene Sicherheit, zu hoch die Beliebtheit der NATO im Lande.

Und natürlich auch dort, wo nationalpopulistische Strömungen kaum bemerkbar sind (etwa in den baltischen Ländern), wird die NATO-Mitgliedschaft bis heute als die wesentliche Errungenschaft gesehen, nicht selten noch mehr als die EU. In Tschechien ist der 12. März als Jahrestag des Beitritts ein offizieller Feiertag, wenngleich kein arbeitsfreier. Einen Feiertag zum Beitritt zur EU (der 2004 erfolgte) sucht man im Kalender vergebens. In Deutschland, wo die EU als das zentrale Friedens- und Wohlstandsprojekt im Mittelpunkt des politischen Konsenses steht, werden darüber nicht wenige Menschen verblüfft sein.

 

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Unterschiedliche Narrative

Um das zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass die Geschichte von Demokratie, Freiheit und Sicherheit in Mitteleuropa einem dezidiert anderen historischen Narrativ folgt und folgen muss als dies in Westeuropa im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen der Fall ist. Für die Bevölkerungen im ehemaligen Ostblock war die Frage des militärischen Schutzes für die errungene Freiheit prioritär. Ein anti-totalitärer Konsens und die Brisanz realer Bedrohungsszenarien (Russland) führten schnell zu einer höheren Gewichtung der Verteidigungsbereitschaft. Zudem erwartete man sich von geostrategischen Einbindungen eher einen Schutzschirm (NATO) und ein ökonomisches Fundament (EU) für die eigenständige Entwicklung. Das erklärt den Widerwillen vieler Menschen gegen den in Westeuropa und Deutschland weitgehend als Konsens verbreiteten Gedanken einer per se wünschenswerten tiefen Integration als höheres Politikziel. Die EU ist hier also noch auf der Suche nach einem gemeinsamen Narrativ, über das die NATO noch weitgehend verfügt.

Die Beliebtheit der NATO erklärt auch die starke Affinität der meisten Bevölkerungen und auch Regierungen in Mitteleuropa und dem Baltikum zu den USA. Die unterschiedlichen Perspektiven wurde schon im Irakkrieg 2003 deutlich, als es fast überall in Westeuropa zu Protesten gegen die US-Politik von Präsident Bush jr. kam, während in den Hauptstädten Mitteleuropas der Gedanke militärischer Operationen gegen totalitäre Regime (wie das von Saddam Hussein) grundsätzlich akzeptabel erschien, und es zu großen Demonstrationen für Bushkam.

Trump als Spaltpilz der NATO?

Die Herzensallianz mit den USA scheint auch die Ära Trump zu überstehen. Obwohl Präsident Trump bisweilen irritierende Signale zur Bereitschaft der USA abgab, kleineren Ländern in Europa im Bündnisfall beizustehen, scheint insbesondere die nationalkonservative Regierung Polens in einem engeren Verhältnis zu den USA ihr geostrategisches Glück zu suchen. Sie traut den westeuropäischen NATO-Partnern weniger über den Weg als Trump. Sie wirbt mit finanziellen Anreizen für eine starke dauerhafte Präsenz der US-Armee im Lande und versprach Ende 2018 sogar, einen möglichen US-Stützpunkt „Fort Trump“ zu nennen. Eine Sonderbeziehung bahnt sich an, die sich langfristig als Spaltpilz für die NATO erweisen könnte.

Viel hängt nun auch von den westeuropäischen Partnern und insbesondere Deutschland ab. Die unzureichende Ausrüstung der Bundeswehr und die Absichten des Finanzministers, den Verteidigungshaushaltnicht zu erhöhen, nähren lang gehegte Obsessionen der polnischen Regierung, dass Deutschland ihr gegen Russland nicht wirklich beistehen würde. 

Garant von Frieden und Sicherheit

Betrachtet man die Entwicklung der Länder des ehemaligen Ostblocks, die in die NATO aufgenommen wurden, mit denen, bei denen das nicht der Fall war (zuvörderst die Ukraine und Georgien, die beide schwere Territorialverluste durch russische Invasionen hinnehmen mussten), so ergibt sich eine äußerst positive Bilanz. Die NATO-Mitgliedschaft hat sich tatsächlich als Schutzschild für die betreffenden Länder bewährt.

Die NATO wurde ihrem Zweck, der Sicherung von Frieden und Sicherheit, gerecht. Ob dies auch weiterhin so bleibt, hängt auch davon ab, ob die „neuen“ Mitglieder ihre demokratische Kultur intakt halten und vor nationalistischen Versuchungen schützen können. Ansonsten droht eine allmähliche innere Erosion. Es wird ebenso darauf ankommen, dass auch die westeuropäischen Partner die historischen Gegebenheiten und legitimen Sicherheitsinteressen Mitteleuropas und des Baltikums anerkennen und ernstnehmen. Hier sind gerade in Deutschland mehr Entschlossenheit und Ideenreichtum nötig, als bisher gezeigt wurde.