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Musterknabe mit Potential

Tschechiens Aufstiegsgrenzen
V4-Musterknabe mit Potential

Grenzstein Tschechische Republik

© pixabay.com, bearbeitet

Die Tschechische Republik erobert langsam die vorderen Ränge in den meisten weltweiten Vergleichsindizes. Sie gilt als glückliches, sicheres Land  mit hoher Lebensqualität. Seit neuestem ist Tschechien – überraschenderweise – sogar auf Platz 5 des Nachhaltigkeitsindex der Vereinten Nationen gelandet. Das ist bemerkenswert, denn so weit hat es noch kein Transformationsland des ehemaligen Ostblocks gebracht. Trotz solcher Erfolgsmeldungen steht Tschechien noch vor vielen Aufgaben.

Die Tschechische Republik ist in Sachen “nachhaltiger Entwicklung” laut den Vereinten Nationen (VN) Nummer 5 in der Welt und lässt die übrigen Länder der Region deutlich hinter sich. Das ist eines der Ergebnisse des neuen Nachhaltigkeitsindex der VN. Die langfristigen Nachhaltigkeitsziele der VN gibt es seit 2015. Der Index basiert auf 17 verschiedenen Kriterien, darunter Armut, Bildung, Gesundheitswesen, Wachstum, Gleichberechtigung, Arbeitsbedingungen und saubere Energien.

Die vier führenden Länder sind übrigens, wenig überraschend, die Dauerspitzenreiter aller Weltindizes, die skandinavischen Staaten. Die übrigen 5 Plätze unter den Top 10 wurden an Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich und Slowenien vergeben. Das Ergebnis für die übrigen Visegrad-Staaten (V4) fiel erwartungsgemäß schlechter aus: Polen steht auf Platz 27, die Slowakei auf Platz 23 und Ungarn auf dem 18. Rang.

Die Nachhaltigsten von allen?

Am Beispiel Tschechiens zeigt sich, dass im Gegensatz zur allgemeinen Erwartungshaltung, Nachhaltigkeit mit einer liberalen Wirtschaftsordnung sehr wohl vereinbar ist. Wie der Index für Wirtschaftsfreiheit zeigt, hat sich das Land in den letzten Jahren in Sachen Marktwirtschaft von Platz 59 (2010) auf Platz 31 im letzten Jahr verbessert. Solides Wachstum und bei einer Arbeitslosenquote von 3,4 % (Eurostat, Jan. 2017) beinahe Vollbeschäftigung waren die Folge.

Das erklärt, warum in Tschechien die VN-Nachhaltigkeitskriterien beim Kampf gegen Armut zu 99,7% erfüllt wurden. Das betrifft auch Gesundheitswesen, Wasserversorgung, gute Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum. Schwächen sieht man allenfalls noch bei der Gleichberechtigung - Männer verdienen rund 22% mehr als Frauen - sowie bei den Mängeln im Bildungssystem und der Nutzung sauberer Energien.

Aller Wirtschaftsfreundlichkeit zum Trotz bescheinigt der Index den Tschechen leider auch, dass sie noch einiges tun müssen, um Innovationen in Industrie und Infrastruktur zu verbessern. Hier fand sich der schwächste Punkt in der Bilanz Tschechiens.

Tschechien auf dem Weg nach oben

Insgesamt scheint es mit Tschechien also nach oben zu gehen. Das sagen auch andere internationale Vergleichsstudien. Im Weltfriedensindex belegt das Land Platz 6 – was deutlich besser ist als in den anderen Visegrad-Ländern, wo Ungarn auf Platz 15, die Slowakei auf Platz 26 und Polen auf Platz 33 liegen (Deutschland belegt den 16. Platz). Beim Glücksindex der VN liegt Tschechien auf Platz 23 und damit ebenfalls deutlich vor den anderen V4-Staaten.

Im Index der Lebensqualität liegt Tschechien auf Rang 22 von 128. Die tschechische Gesundheitsvorsorge, die politischen Rechte, die Redefreiheit und die innere Sicherheit – sie alle liegen über dem Durchschnitt in der Region. Dabei gibt es allerdings eine Auffälligkeit: Beim Subkriterium zur Toleranz gegenüber Ausländern liegt das Land nur auf Platz 112.

Liberales Land, konservative Menschen

Und da ist auch der Haken an der Sache: Tschechiens erfolgreiche Wirtschaftspolitik stößt an ihre Grenzen, was ihren “Nachhaltigkeitserfolg” vielleicht schon bald in Frage stellen kann. Das Land verfolgt eine rigide Anti-Immigrationspolitik, angefeuert durch eine xenophobe Stimmung gegen Asylsuchende. Das macht sich bereits jetzt schmerzlich bemerkbar. Firmen müssen Aufträge ablehnen, weil sie keine qualifizierten Arbeitskräfte mehr finden. Liberale Wirtschaftspolitik und konservative Gesellschaftspolitik passen eben nicht wirklich zusammen.

Ja, die Zahlen besagen, dass sich Tschechien besser entwickelt als die meisten Nachbarländer. Aber es gibt Dinge, die das Land noch von den anderen Ländern des Westens und der EU trennen.

Bevor die Tschechen zu echten “Global Playern” werden, müssen sie weltoffener werden, das heißt, weniger konservativ, sondern liberaler und moderner. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht noch nicht, dass die Zukunft des Wirtschaftswachstums (wenn es denn nachhaltig sein soll) in modernen Technologien, Digitalisierung, Start-ups, gleichen Verdienstchancen für Frauen und moderner Umwelttechnik liegt. In diesem Kontext sind Firmen, die an Arbeitskräftemangel leiden und Aufträge ablehnen, weil das Land sich vor Einwanderung fürchtet, kein gutes Omen. 

Tschechien geht es zurzeit wirtschaftlich besser als anderen Ländern, nicht wegen, sondern trotz seiner Politik. Es ist ein Land, dessen Staatsapparat den niedrigsten Digitalisierungsgrad und die schlechtesten rechtlichen Bedingungen für Start-ups aufweist. Die Tschechische Republik ist ein Land der Widersprüche, aber auch ein Land mit großem Potential. Sobald die Tschechen ein wenig weltoffener werden, ihre Angst vor dem Unbekannten ablegen und sich eine modernere Denkart zulegen, kann dieses Potential in einen Riesenerfolg umgewandelt werden.

Adéla Klečková ist Projektmanagerin im Projektbüro Mitteleuropa und Baltische Staaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Prag.