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Mit Managementwissen für Recht sorgen

Wie Mexikos Bundesstaat Guanajuato die Strafrechtsreform umsetzt
Mexikos Justiz

Wie ist die Justizreform von 2008 bis heute umgesetzt worden?

© iStock/ Sadeugra

2008 wurde in Mexiko eine wegweisende Reform des Strafrechtes verabschiedet: der Wechsel von einem inquisitorischen zu einem akkusatorischen System. Konkret bedeutete das die Einführung der Unschuldsvermutung und öffentliche, mündliche Anhörungen und Gerichtsverhandlungen. Bis dahin waren Strafverfahren ausschließlich schriftlich durchgeführt worden und ein Richter hatte allein auf Grundlage von Schriftsätzen und Aktenlage über das weitere Schicksal eines Angeklagten zu entscheiden, ohne diesen überhaupt gesehen oder angehört zu haben. Angeklagte saßen und sitzen bis heute nicht selten jahrelang ohne rechtsgültiges Urteil in Untersuchungshaft. Die Einführung des neuen Systems sollte dies ändern. Für die Umsetzung dieser grundsätzlichen Reform hatte der Gesetzgeber den 32 mexikanischen Bundesstaaten acht Jahre Zeit gegeben. Ab Juni 2016 sollte das neue System in allen Bundesstaaten vollständig umgesetzt sein und überall Anwendung finden. Doch die Realität sieht anders aus.

Der Stiftungspartner México Evalua begleitet die Umsetzung der Strafrechtsreform von Anfang an und veröffentlicht jährlich einen Bericht über den Umsetzungsstand der Reform. Der Bericht für 2016 fiel ernüchternd aus. Es heißt darin, dass kein einziger der 32 Bundesstaaten die Reform pünktlich und vollständig umgesetzt hat. Dabei weißt der Umsetzungsstand zwischen den verschiedenen Bundesstaaten starke Unterschiede auf. Spitzenreiter in der Umsetzung ist der Bundesstaat Guanajuato, der im Industriegürtel des zentralen mexikanischen Hochlandes liegt. Schlusslicht  in der Umsetzung ist der arme, südliche Bundesstaat Guerrero. Warum ist der Bundesstaat Guanajuato in der Umsetzung so viel erfolgreicher als die Mehrheit der anderen Bundesstaaten?

Paradigmenwechsel für alle Beteiligten

Als die Reform 2008 verabschiedet wurde, erklärten der Gouverneur und seine zuständigen Landesminister und Behördenleiter die Reform zur ressortübergreifenden Chefsache. Die Tatsache, dass auf diese Weise viel Kompetenzgerangel vermieden werden konnte und die für die Umsetzung Verantwortlichen mit der Unterstützung von höchster Stelle rechnen konnten, hat die Umsetzung wesentlich vereinfacht. Eine wichtige Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung der Reform war der gemeinsame politische Wille. Trotzdem bleiben bei einem grundsätzlichen Reformvorhaben dieser Größenordnung immer viele Schwierigkeiten in der technischen Umsetzung und der Teufel liegt bekanntlich im Detail.

Birgit Lamm in Guanajuato

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unterstützt den Umsetzungsprozess.

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Zum einen bedeutete dieser Wechsel (und bedeutet es bis heute) einen kompletten Paradigmenwechsel für alle Akteure, die an Strafverfahren beteiligt sind. Denn alle sind im und für das alte, inquisitorische System ausgebildet worden und müssen sich erst in das neue akkusatorische System einarbeiten und ihr neues Rollenverständnis finden. Außerdem gab es keine Erfahrungswerte darüber, welche Ressourcen für die Umsetzung des neuen Systems überhaupt nötig sein würden. Wie viele Richter, Staatsanwälte, Räumlichkeiten für Anhörungen und Verhandlungen etc. würden notwendig sein, um das neue System arbeitsfähig zu machen? Was würde die Umstellung kosten? Der Präsident des Obersten Landesgerichtes und seine Richterkollegen hatten jedenfalls keine Anhaltspunkte darüber, wie viele zusätzliche Ressourcen sie im Finanzministerium beantragen und begründen sollten. Aber der zuständige Abteilungsleiter Mauricio Ontiveros fand eine interessante Lösung für diese Frage. Er ist Betriebswirt mit einem zusätzlichen Master-Abschluss in industriellem Qualitäts- und Prozessmanagement. Bevor er seine Tätigkeit für die Justizbehörden in Guanajuato aufnahm, arbeitete er im Bereich Qualitätsmanagement bei einem deutschen Automobil-Zulieferer in Guanajuato und hatte einen Lehrauftrag für Betriebswirtschaft an der Universität. Nur eines war er nicht: Jurist. Mauricio Ontiveros übertrug seine Erfahrung mit der Analyse und Simulation von betrieblichen Arbeitsabläufen auf die Arbeitsschritte, die in einem Strafverfahren notwendig sind. Die Statistik-Experten des mathematischen Institutes CIMAT der Universität von Guanajuato unterstützten ihn dabei. In drei Monaten erarbeiteten sie eine Simulation, die die notwendigen Ressourcen für das Funktionieren des neuen Systems ermittelte. Als Messwerte stützte sich das interdisziplinäre Team auf erste Erfahrungen, die der nördliche Bundesstaat Chihuahua gemacht hatte, der bereits etwas früher mit der Umsetzung der Reform begonnen hatte. Das Ergebnis war überraschend: anstelle der 70 zusätzlichen Richterstellen, die der Gerichtspräsident ursprünglich beantragen wollte, waren tatsächlich nur 7 neue Richterstelle notwendig, so errechnete es die Simulation. Auf dieser Grundlage wurden schließlich die notwendigen Gelder für die Umsetzung der Reform wissenschaftlich ermittelt und bereitgestellt – und unnötige zusätzliche Kosten vermieden.

Richter zum Praktikum bei Automobilzulieferer

Auf der Basis von Leistungsindikatoren, sogenannten KPIs, wird der Leistungsgrad und der Umsetzungserfolg der Reform nun behördenintern überwacht und zwischen den beteiligten Behörden in Abstimmungs- und Koordinationsrunden gemeinsam vorangetrieben. Mauricio Ontiveros stützt sich bei der Umsetzung wiederum auf seine betrieblichen Erfahrungen aus der internationalen Automobilindustrie. Neue Mitarbeiter, die die Gerichte einstellen, lernen bei Betriebsbesichtigungen und Praktika in den Werken der internationalen Firmen, die in Guanajuato produzieren, die unternehmerische Herangehensweise an effiziente und effektive Arbeitsprozesse kennen. Ein zukünftiger Richter bei einem Automobilzulieferer im Praktikum? Bringt das etwas? – „Unbedingt“, meint Mauricio Ontiveros. „Die neuen Kollegen kommen mit einer ganz anderen Sichtweise auf Arbeitsabläufe zu uns zurück, wenn sie sich die Produktionsabläufe der internationalen Firmen angeschaut haben.“ – Globalisierung und internationale Wertschöpfungsketten haben also nicht nur die bekannten „Spill-over-Effekte“ auf andere, lokale Unternehmen, die effizientere Arbeitsabläufe von globalen Unternehmen übernehmen, sondern können sogar für Verwaltung und Politik Effizienzgewinne bringen, also sektorübergreifende „Spill-over-Effekte“ erzielen. Das Beispiel der Justizbehörden in Guanajuato belegt dies sehr anschaulich. Es belegt aber auch eine weitere wichtige Erkenntnis aus dem Management: nämlich, dass erfolgreiche betriebliche Prozesse nicht ohne weiteres übertragbar sind, weil sie eng mit einer spezifischen Betriebskultur verknüpft sind. Der Bundesstaat Guanajuato stellte diese Simulation auch anderen Bundesstaaten zur Umsetzung der Reform zur Verfügung. Dort konnte das Instrument aber nicht erfolgreich genutzt werden, weil der politische Wille und der ressort-übergreifende Konsens zur Umsetzung nicht ausreichend vorhanden war.

Der Bundesstaat Guanajuato nimmt in diesem Bereich zwar eine Vorreiterrolle ein, doch gibt es auch dort noch zahlreiche Probleme zu überwinden, bis die neue Strafprozessordnung voll umgesetzt ist. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unterstützt den Umsetzungsprozess gemeinsam mit ihrem mexikanischen Partner México Evalua. Im Frühjahr 2017 wurde gemeinsam mit den beteiligten Behörden in Guanajuato und unter Hinzuziehung eines deutschen Fachexperten eine Sachstandsanalyse durchgeführt, um zu sehen, wie das neue System, insbesondere die mündlichen Anhörungen und Verhandlungen, aktuell funktionieren. Auf Grundlage dieser Erhebung wird nun im Herbst ein gemeinsamer Aktionsplan erarbeitet, der 2018 in die Umsetzung gehen soll. Ziel ist es, den Bundesstaat Guanajuato darin zu unterstützen, nicht nur weiterhin im Ranking der 32 mexikanischen Bundesstaaten die Nr.1 zu bleiben, sondern sich zu einem Modell-Bundesstaat in der Umsetzung der neuen Strafrechtsreform zu entwickeln, der auch für andere Bundesstaaten Vorbildcharakter hat bei der erfolgreichen Umsetzung von politischen Konzepten, insbesondere im Bereich Rechtsstaatlichkeit.

Birgit Lamm leitet das Regionalbüro Lateinamerika der Stiftung für die Freiheit in Mexiko-Stadt.