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Migrationspakt
Raus aus dem Reformstau: was bringt der neue Migrationspakt der EU?

Flüchtlinge
© picture alliance/dpa | Socrates Baltagiannis  

Die Stimmung war angespannt, als Margaritis Schinas und Ylva Johansson letzten Mittwoch mit ihrem Migrationspakt vor die Presse traten. „Niemand wird zufrieden sein“, prophezeite die EU-Kommissarin für Migration und interne Angelegenheiten die Reaktionen auf die mehr als 300 Seiten starken Vorschläge. Erwartungsgemäß stimmten die Regierungschefs der Visegrád-Staaten wenige Tage später den Kritikerchor an.

Während insbesondere Menschenrechts- und Migrantenorganisationen gegen den Pakt Sturm liefen, da dieser ihrer Meinung nach zu sehr auf restriktive Migrationsverhinderung ausgerichtet sei, signalisierten nicht nur Ungarn, Polen und die Slowakei, sondern auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, dass sie den Vorschlägen nicht so einfach zustimmen würden.

Die Stoßrichtung: durch den Fokus auf Rückkehr Kompromissfähigkeit herstellen

Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass das diskursive Framing des Paktes von einer restriktiven Rhetorik der Migrationsverhinderung geprägt war: wieder und wieder betonte Kommissarin Johansson, dass sich die EU künftig verstärkt auf die Rückführung abgelehnter Asylbewerber konzentrieren sollte. Dennoch beinhaltet der Pakt sinnvolle Vorschläge für ein wirkliches Vorankommen und für eine schrittweise Überwindung des Reformstaus des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Blicken wir einen Moment zurück: Die legislativen Vorschläge, die zu Beginn der Migrationskrise 2015 erarbeitet wurden, beruhten insgesamt auf einem verpflichtenden Verteilungsschlüssel mit klaren Kriterien – eine Pille, die die Visegrád-Staaten bis zuletzt nicht bereit waren, zu schlucken. Immer mehr setzte sich die Annahme durch, dass nur eine „Koalition der Willigen“ - also eine Gruppe von Mitgliedstaaten, die zur regelbasierten Aufnahme von Geflüchteten bereit ist - eine Alternative darstellen könnte, um sich in der Formulierung einer rationalen GEAS-Politik nicht länger von einer Blockademinorität ausbremsen zu lassen. Im Gegenzug würden lediglich monetäre oder technische Unterstützung im Grenzmanagement verlangt werden. Doch damit wollte sich die Europäische Kommission nicht zufriedengeben.

Ihr neuer Vorschlag besteht nun in einer Wahloption der verpflichtenden Solidarität im Krisenfall, bei der Mitgliedstaaten zwischen der direkten Aufnahme von Menschen mit anerkanntem Flüchtlingsstatus (relocation) oder der Rückführung abgelehnter Asylbewerber (return sponsorship) wählen können, was aus Brüsseler Sicht durchaus als Überraschungscoup gewertet wurde. Der Vorschlag kann mit dem Fokus auf die Rückführung eine pragmatische Lösung darstellen, um die Blockadehaltung einiger Mitgliedstaaten zu verhindern und doch noch zu einer wirklichen gesamteuropäischen Verantwortungsteilung zu kommen. Allerdings hat sich inzwischen rumgesprochen, dass auch das sogenannte „return sponsorship“ einer Aufnahme von Migranten durch die Hintertür gleichkommt: denn Mitgliedstaaten wären nach 8 Monaten (bzw. 4 Monaten im Krisenfall) erfolgloser Rückführung zur dauerhaften Aufnahme der Menschen gezwungen. Inwieweit dieser Vorschlag auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten stößt, ist daher absolut offen.

Die Erkenntnis: die EU-Migrationspolitik legt die Schwachstelle des EU Governance-Systems offen

Neben diesen Fragen der konkreten Ausgestaltung des Migrationspakts, die in den kommenden Wochen insbesondere im Rat der EU kontrovers verhandelt werden dürften, zeigt sich hier eine Schwachstelle im politischen System der EU: eine formale Mehrheitsentscheidung alleine reicht nicht aus, wenn diese de facto durch kooperationsunwillige Staaten ausgehebelt wird. Die gemeinsame Migrations- und Asylpolitik der EU ist seit dem Vertrag von Amsterdam in weiten Teilen in die supranationale Zuständigkeit der EU übergegangen, was bedeutet, dass Entscheidungen per Mehrheitsbeschluss und damit theoretisch auch gegen den Willen einzelner Staaten beschlossen werden können. Die Diskussion der verpflichtenden Quote zur Verteilung von Geflüchteten innerhalb Europas hat jedoch gezeigt, dass dies nicht praktikabel ist, wenn der EU de facto die Sanktionsmöglichkeiten bei Nicht-Einhaltung dieser Regeln fehlen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Idee des „return sponsorship“ zu verstehen, das eine gesamteuropäische Lösung in dieser politisch so umstrittenen Frage zu automatisieren versucht. Flankiert werden soll dies zudem durch einen neuen EU-Beauftragten für Rückkehrpolitik sowie weitere Gesetzesvorhaben im Frühjahr 2021. Dies wäre in jedem Fall ein entscheidendes Vorankommen im Grenzmanagement. Jedoch darf die EU sich nicht darauf versteifen, eine Zustimmung aller Mitgliedstaaten um jeden Preis zu erzielen. Sollten die kooperationsunwilligen Staaten weiterhin jegliches Vorankommen ausbremsen, wäre die Idee einer verstärkten Zusammenarbeit in Form einer „Koalition der Willigen“ weiterhin die Ultima ratio.

Die Prämisse: ohne die Kooperation mit Herkunftsstaaten wird es nicht gehen

Mit dem Fokus auf Rückführungen trägt die Kommission nicht zuletzt der Realität Rechnung, dass ein Großteil der nach Europa kommenden Menschen keinen Schutzanspruch geltend machen kann. Allein 2019 wurden von den knapp 541.000 Erstentscheidungen zu Asylanträgen nur 38% angenommen. Darunter sind neben visabefreiten EU-Nachbarländern wie Georgien (knapp 20.000 Anträge) vor allem auch afrikanische Staaten mit geringer Anerkennungsquote (z.B. Nigeria, Guinea oder Marokko). Richtigerweise erkennt der neue Migrationspakt hierbei die zentrale Rolle der Kooperation mit den Herkunftsländern an, die entscheidend für die Rücknahme ihrer Staatsangehörigen ist. So schön die Idee auf dem Papier wirkt, dass sich die Mitgliedstaaten fortan die unbequeme Aufgabe der Rückführung teilen, so  unklar ist, warum dies auf einmal besser funktionieren sollte. Denn selbst Staaten wie Frankreich oder Spanien, die historisch bedingt enge Beziehungen mit einigen Herkunftsländern pflegen, scheitern häufig an der fehlenden Rücknahmebereitschaft der Herkunftsländer. Es ist eher unwahrscheinlich, dass andere Mitgliedstaaten, wie z.B. Ungarn oder Finnland, hier mehr Aussicht auf Erfolg hätten. Was es wirklich bräuchte, um das Migrationsmanagement, insbesondere mit afrikanischen Staaten, zu verbessern, wird im Vorschlag jedoch größtenteils ausgeklammert: es fehlt an Anreizen, um der viel beschworenen Partnerschaft „auf Augenhöhe“ Substanz zu verleihen. Dies könnten neben monetären Anreizen vor allem legale Migrationswege und Ausbildungspartnerschaften mit Afrika sein, doch hierüber schweigt sich der Pakt aus. „Arbeitsmigration muss mitgedacht werden“, so Jan-Christoph Oetjen, Mitglied der Renew-Europe Fraktion im Europäischen Parlament im Interview mit der FNF. Zwar ist angedacht, weitere Vorschläge zu legaler Migration im nächsten Frühjahr zu präsentieren, doch hat die migrationspolitische Vergangenheit gezeigt, dass ein Vorankommen nur dann möglich ist, wenn verschiedene Migrationsaspekte in einem ganzheitlichen Ansatz zusammen gedacht werden.

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Der Fallstrick: operative Umsetzung durch die Mitgliedstaaten ist entscheidend

Neben diesen konzeptuellen blinden Flecken bleibt insbesondere abzuwarten, wie die Mitgliedstaaten die Vorschläge, sollten sie in mehr oder weniger abgeänderter Form noch bis Ende des Jahres im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft beschlossen werden, in der Praxis umsetzen werden. Angedacht und dringend notwendig ist die Beschleunigung der Asylverfahren an der EU-Außengrenze im Rahmen eines neuen 12-wöchigen Grenzverfahrens (EU Border Procedure) sowie einer 5-tägigen Vorprüfung (pre-screeing). Diese soll neben der Identitätsfeststellung und Sicherheitschecks im Eurodac-System vor allem eine schnelle Entscheidung über die Bleibeperspektive herbeiführen, sodass schnell klar sein sollte, ob ein Asyl- oder Rückführungsverfahren Anwendung findet. Hierfür sollen die personellen und technischen Kapazitäten an den EU-Außengrenzen aufgestockt und die EU-Grenzstaaten durch verstärkte Unterstützung der EU-Asylbehörde unterstützt werden. Auf dem Papier löst dies die Dublin-Regelung ab, aber es bleibt fraglich, inwieweit eine Unterstützung durch die EU die Situation vor Ort grundsätzlich ändert. Letztendlich sind weiterhin Länder wie Italien, Griechenland oder Spanien primär für die Durchführung der Prozedur verantwortlich, da die Europäische Asylagentur sowie Frontex nur unterstützend, nicht aber hauptverantwortlich tätig werden. Daher kann von einem wirklichen Europäisierungsschub des Asylverfahren nicht die Rede sein; dieser wäre aber nötig, um letztlich auch die unmenschlichen Zustände in Lagern wie Moria zu beenden. Dennoch sind die neuen Vorschläge mehr als nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nun ist es an den Mitgliedstaaten, in den weiteren Verhandlungen Vorschläge für die Implementierung der Maßnahmen zu unterbreiten. Hoffentlich kommt dabei mehr als nur der kleinste gemeinsame Nenner heraus, damit Europa endlich ein Stück weit mehr seinem eigentlichen Anspruch einer humanen und zugleich effizienten Migrations- und Fluchtsteuerung gerecht werden kann.

Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.