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Migrations­ und Flüchtlingspolitik
„Eines Tages kehre ich zurück“

Der Leidensweg eines geflüchteten Journalisten
Cagdas Kaplan
Cagdas Kaplan in Athen.

Es mag sich anhören wie ein Klischee, aber meine Geschichte und die von vielen anderen Menschen aus der Türkei, kann dieses Klischee nur bestätigen: „Geographie ist Schicksal“.

Um zu verstehen, was ich genau damit meine, müssen wir an den Beginn meiner Geschichte zurückkehren. Keine Angst, ich werde nicht seitenlang über meine Kindheit berichten. Ich will lediglich die Geschehnisse verdeutlichen, die mich dazu gebracht haben, mich als Flüchtling auf einen riskanten Weg zu machen.

Ich kam als Kind einer Mischehe auf die Welt, meine Mutter war Türkin, mein Vater Kurde. Schon früh stellte ich mir die Frage, welche Sprache denn mein Vater mit seiner eigenen Verwandtschaft sprach. Und wieso spricht er mit uns in einer anderen Sprache? Problematisch wird es, wenn Sie anfangen zu fragen, wieso diese Sprache nicht auch auf der Straße oder in der Schule gesprochen wird. Sie verstehen auch nicht, wieso der Lehrer nervös reagiert, wenn man ihm diese Fragen stellt. Ehe Sie begreifen, was das alles auf sich hat, werden Sie bereits in frühen Jahren politisiert und aufmerksam auf ein Problem, das Sie Ihr Leben lang begleiten wird. Mit den Jahren begreifen Sie, dass in ihrem Land eigentlich ein Krieg herrscht, der aber nicht als solcher bezeichnet wird. Sie werden aufmerksam auf die Ungerechtigkeiten und die Leugnung, die von den allermeisten Menschen ignoriert werden.

Ähnlich wie andere Jugendliche hatte auch ich Träume. Mein Traum war es, als Journalist einen Beitrag für ein besseres und demokratischeres Land zu leisten. Ich finde, dies ist ein sehr ungefährlicher Traum, doch schnell begriff ich, dass einige andere dies nicht so sahen. Als Student fing ich an, meine ersten Erfahrungen als Journalist zu sammeln. Mein erster Artikel für die kurdische Zeitung Özgür Gündem hängt immer noch eingerahmt über meinem Bett. Jung und energiegeladen rannte ich von einer Nachricht zur anderen.

Als Journalist lernt man täglich dazu, die Realität formiert sich jeden Tag von neuem. Die Wahrheiten, die ich erfuhr, brachten mich manchmal an den Rand des Erträglichen. Ich wurde wütend und empörte mich, denn manches von dem, was ich erfuhr, schockierte mich. Doch als guter Journalist versuchte ich stets, die Nerven zu behalten und meine Emotionen zu kontrollieren. Doch es ist unmöglich, über das „Kurdenproblem“ zu berichten und nicht in Kontakt mit den Sicherheitsbehörden zu kommen.

So geschah, was geschehen musste. Zusammen mit 42 weiteren Kollegen einer kurdischen Nachrichtenagentur, für dich damals arbeitete, wurde ich im Jahr 2011 verhaftet. Wie es üblich ist in der Türkei, kamen die Polizisten mitten in der Nacht vor die Haustür. Danach folgten Polizeirevier, Gerichtsprozess, Haftbefehl und Inhaftierung. Diesen Ablauf kennt mittlerweile fast jeder Journalist in der Türkei.

Meine Beiträge, Interviews und Aussagen wurden von den Machthabern als „strafbar“ klassifiziert. Ich war also in ihren Augen gefährlich geworden. Mir wurde vorgeworfen, mit meinen Artikeln „das Ansehen der Türkei zu beschädigen“. Nach anderthalb Jahren kam ich wieder auf freien Fuß. Doch ich tat nicht das, was man von mir erwartet hätte. Letztlich sollen die Inhaftierungen dazu führen, dass sich Journalisten einen anderen Job suchen oder über Wetter oder Sport berichten. Nein, ich machte dort weiter, wo ich aufgehört hatte. Doch ich war nun auf der Schwarzen Liste der Behörden. Es folgten weitere Verhöre, kurzzeitige Inhaftierungen und Gerichtsprozesse.

Im Dezember 2018 hatte ich mittlerweile vier parallellaufende Gerichtsprozesse. Ich hätte jederzeit für mehrere Jahre hinter Gitter wandern können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein weiterer Haftbefehl erlassen worden wäre. Es war Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Ich musste mich entscheiden, aufgrund meiner journalistischen Tätigkeit entweder wertvolle Jahre meines Lebens im Gefängnis zu verbringen, oder als Flüchtling in einem fremden Land zu leben, dessen Sprache ich nicht beherrschte. Obwohl klar war, was auf mich zukommt, wenn ich in der Türkei bleibe, dauerte es viele Tage, Mut zu fassen. Die Entscheidung, zu flüchten, ist keine einfache. Weder gestern, noch heute oder morgen.

Mein Schicksal ist das eines Journalisten aus der Türkei, und somit nichts Besonderes. Tod, Gefängnis oder Flucht gehörten schon immer zum Schicksal dieser Menschen. Ich hatte mich vor Jahren für diesen Weg entschieden, so musste ich auch mit den Konsequenzen leben.

Mein Plan war es, zunächst nach Griechenland zu flüchten, und nach kurzer Zeit weiter nach Westeuropa zu reisen. Wenn Sie in den vergangenen Jahren als Journalist in der Türkei tätig waren, wissen Sie, wen sie für die Überfahrt nach Griechenland anrufen müssen. Kontakte zu Menschenschmugglern kursieren nicht nur unter syrischen Flüchtlingen, sondern auch unter Journalisten.

Es war der 3. Januar 2019. Zwei Schmuggler begleiteten mich an den Grenzfluss Meric/Evros, von da waren es nur wenige Minuten in einem Schlauchboot nach Griechenland. Bevor ich einstieg, schaute ich ein letztes Mal zurück in Richtung Heimat. Sollte ich das wirklich machen? Oder doch umkehren? Auch wenn man das Szenario etliche Mal im Kopf durchgegangen war: Wenn der Moment gekommen ist, bekommt in so einer Situation jeder weiche Knie. Ich versprach mir, irgendwann zurückzukommen.

Wie viele Menschen sind wohl vor mir diesen Weg gegangen? Wie viele werden nach mir diesen gefährlichen Weg auf sich nehmen? Wer waren diese Menschen? Was waren die Gründe für ihre Flucht aus der Heimat? Als Journalist würde ich eigentlich die Geschichten dieser Menschen aufschreiben. Nun war ich selbst auf der Flucht.

Nach wenigen Minuten war ich am gegenüberliegenden Ufer, im „Gelobten Land“ Europa. Die Schmuggler machten sich nicht einmal die Mühe auszusteigen, sie drehten direkt wieder um. Nun war ich da. Was nun? Es war mitten in der Nacht und es herrschte starker Nebel. Ich rief zunächst meine Familie und meine Freunde an. Sie sollten sich keine Sorgen machen. Dank der GPS-Funktion meines Handys machte ich mich auf den Weg zum nächstgelegenen Dorf.

Als ich nach einer Stunde Fußmarsch dort ankam, war es drei Uhr in der Nacht. Mein Plan war es, irgendwo die Nacht zu verbringen und am nächsten Tag mit dem Bus nach Thessaloniki zu fahren. Als es heftig zu schneien anfing, suchte ich nach einem trockenen Unterschlupf. Doch wo hätte ich mitten in der Nacht in dieser gottverlassenen Gegend klingeln können? In der Ferne sah ich Lichter in einem Haus leuchten. Ich nährte mich und konnte im Inneren einen älteren Mann ausmachen, der sich Kaffee zubereitete. Ich klopfte leise an das Fenster, um den Mann nicht zu erschrecken. Ich denke, ich war nicht der erste Ausländer, der diesen Mann mitten in der Nacht aufweckte. Er machte einen gelassenen Eindruck, so als ob er immer mal wieder mitten in der Nacht einen Unbekannten vor der Tür hätte. Später machte er mir klar, dass sich Einwohner der Grenzregion an Flüchtlinge gewöhnt hätten. Da er etwas Türkisch sprach, konnten wir uns verständigen. Ich war dankbar, im Trockenen und Warmen zu sein.

Einige Stunden später, als es draußen hell wurde, verabschiedete ich mich von dem alten Mann und ging zur Busstation in der Hoffnung, ein Bus würde vorbeikommen, der mich in die nächstgelegene Stadt bringen würde. Doch bevor der Bus kam, machte ich meine erste Bekanntschaft mit den griechischen Sicherheitsbehörden. Zwei Streifenpolizisten hielten an und fragten, wer ich sei und was ich um diese Uhrzeit dort machte.

Wenn Sie Flüchtling sind, haben sie nicht nur ihre Heimat hinter sich gelassen. Sie müssen auch ständig erklären, wieso sie auf der Flucht sind. Eigentlich ist es den Polizisten egal, woher sie kommen und was sie erlebt haben. Das „Kurdenproblem“ ist dem griechischen Staat genauso egal wie dem türkischen. Dennoch müssen Sie andauernd beweisen, was sie zur Flucht getrieben hat. So will es die Bürokratie. Sie müssen sich zudem ständig dankbar zeigen, dass man sie nicht ausweist. Sehr bald wird Ihnen klargemacht, welche Regeln Sie einzuhalten haben.

Die beiden Polizisten, die mich an der Busstation aufgriffen, befragten mich dort knapp eine Stunde. Ich sollte ihnen endlich sagen, wo die anderen aus der Gruppe seien, sonst würden sie mich sofort in die Türkei abschieben. Auch wenn ich ihnen immer wieder versicherte, dass ich alleine gekommen sei, beharrten sie auf ihrer Darstellung, wonach es weitere Flüchtlinge geben müsse. Diese verstörende Befragung und die Drohkulisse sollten mich auf das vorbereiten, was auf mich zukommen sollte in Griechenland.

Die beiden Polizisten brachten mich in die nächstgelegene Polizeistation, danach in ein Auffanglager für Flüchtlinge in der Grenzstadt Feres. Die hygienischen Verhältnisse waren miserabel, die Zustände glichen eher Arbeitslagern in autoritären Regimen als einem Auffanglager in einem europäischen Land. Die Behörden machten keinerlei Angaben darüber, wie lange sie mich dort behalten wollten. Diese Information entnahm ich den Kritzeleien an den Wänden. Ehemalige „Besucher“ dieser Zellen hatten festgehalten, dass sie nach zehn Tagen wieder freikamen. Dies waren also die Umstände, die ich bei meiner Ankunft in Griechenland antraf.

Nach einem Zwischenhalt im UN-Flüchtlingslager in der Stadt Orestiada fuhr ich mit den notwendigen Dokumenten nach Thessaloniki. Dort traf ich mich mit einem kurdischen Journalisten, der aus ähnlichen Gründen nach Griechenland geflüchtet war. Mit seiner Hilfe ersuchte ich einen Termin bei der Ausländerbehörde, denn ich wollte als politischer Flüchtling einen Asylantrag stellen. Und ja, ich bekam einen Termin: im Juni 2023. Ich hatte zuvor schon mitbekommen, dass die Mühlen der griechischen Bürokratie langsam mahlen, aber ein Termin in viereinhalb Jahren machte mich fassungslos.

Was sollte ich bis dahin machen? Ich habe bis zu meinem Termin weder einen offiziellen Status noch eine alternative Option. Wo, und vor allem wovon, sollte ich leben? Natürlich gab es keine Antworten auf diese Fragen. Ich sollte mich ja schließlich dankbar zeigen dafür, dass ich nicht abgeschoben wurde. Indirekt bietet Ihnen die griechische Bürokratie mit ihrer Schwerfälligkeit eigentlich eine weitere Option: ohne es auszusprechen wird Ihnen geraten, Schmugglern weitere tausend Euro zu zahlen, damit diese Sie nach Westeuropa bringen.

Dank finanzieller Hilfe meiner Freunde und meiner Familie konnte ich mich die ersten Monate über Wasser halten. Ich suchte über journalistische Interessenverbände nach legalen Wegen für die Übersiedlung in ein westeuropäisches Land, wo ich meiner Arbeit als Journalist hätte nachgehen können. Doch jedes Mal traf ich auf eine unsichtbare Mauer der Bürokratie. Auch illegale Versuche schlugen fehl.

Doch ich bin Journalist und Journalisten haben keine Heimat. Sie können von überall aus schreiben. Ich konnte nicht einfach dasitzen und darauf warten, dass ein Wunder geschieht. Geschichten, die erzählt werden mussten, gab es auch in Griechenland zuhauf. Also entschloss ich mich, die Schicksale der Flüchtlinge aufzuschreiben. Der Rest der Welt sollte ihre Geschichten kennen. Ich bin mittlerweile seit knapp eineinhalb Jahren in Griechenland und ich versuche weiterhin, am Leben zu bleiben, indem ich schreibe.

Doch ich habe auch neue Bekanntschaften gemacht. Dank der Vermittlung eines türkischen Journalisten, der schon seit Jahren in Griechenland lebt und den ich für seine Werke bewundere, lernte ich den griechischen Literaten Yorgo kennen. Yorgo hat mir ein Büroraum anvertraut und wir sind Freunde geworden. Ich habe viele weitere Menschen kennengelernt, die ich heute als Freunde bezeichne: Journalisten, die ähnlich wie ich aus der Türkei geflüchtet sind, oder griechische Kollegen, die sich mit uns solidarisieren.

Wer hätte das gedacht: Ich habe hier im Exil sogar meine Liebe Bercem gefunden. Sie ist die Tochter einer kurdischen Familie, die schon vor zwei Jahrzehnten nach Griechenland geflüchtet ist und seitdem hier lebt. Jetzt habe ich also eine Weggefährtin, ohne die das Leben im ungewissen Exil noch schwerer zu ertragen wäre.

Meine Hoffnung habe ich nicht verloren. Manchmal erinnere ich mich zurück an meine Überfahrt mit dem Schlauchboot, als ich mir schwor, eines Tages zurückzukehren. Diese Hoffnung habe ich weiterhin.

 

Übersetzt von: Aret Demirci