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Migration
Was hat Halle oder Hanau mit Lesbos oder Edirne zu tun?

Oder warum bedarf es dringender denn je einer handlungsfähigen europäischen Migrationspolitik.
Kinder spielen in einem provisorischen Lager neben dem Lager in Moria
Kinder spielen in einem provisorischen Lager neben dem Lager in Moria © picture alliance/Angelos Tzortzinis/dpa

Was hat Halle oder Hanau mit Lesbos oder Edirne zu tun? Auf den ersten Blick wenig. Während es sich bei Halle und Hanau um zwei mittelgroße Städte in Deutschland handelt, gilt Lesbos gemeinhin als beliebte griechische Urlaubsinsel mit bewegter antiker Geschichte. Indes ist das im griechisch-bulgarisch-türkischen Dreiländereck gelegene Edirne bekannt als ehemalige Hauptstadt des osmanischen Reichs. Bei näherem Hinsehen wird der Zusammenhang aber (leider) allzu schnell klar. 

Lesbos liegt mit teilweise weniger als 10 Seemeilen Abstand unmittelbar vor der türkischen Küste. Die griechische Grenze ist von Edirne nur wenige Kilometer entfernt. Diese Lage macht beide Orte für Flüchtlinge aus der Türkei auf ihrem Weg nach Europa besonders attraktiv. Zwar verpflichtet das EU-Türkei-Abkommen die Türkei, eine illegale Migration in die EU zu verhindern. Menschen, die dennoch in einem europäischen Staat ankommen, werden registriert und haben Anspruch auf ein individuelles Asylverfahren. Da die Türkei die hohe Zahl der dorthin geflohenen Menschen zwischenzeitlich nicht mehr im Land halten will, sondern sie bewusst als Druckmittel einsetzt, ist deren Anzahl auf ca. 42.000 auf den griechischen Inseln gestiegen. An der türkisch-griechischen Landgrenze dürften nach vorsichtigen Schätzungen 10 bis 20.000 Menschen ausharren. Ob der türkische Angriff auf das syrische Idlib mit der Folge weiterer Fluchtbewegungen in die Türkei ursächlich ist oder es sich bereits um lange in der Türkei lebende Flüchtlinge handelt ist unklar.

Unmittelbare Folgen sind jedoch katastrophale humanitäre Zustände in den Lagern auf Lesbos, aber auch den anderen griechischen Inseln vor der türkischen Küste sowie im türkisch-griechischen Grenzgebiet. Die Aufnahmekapazitäten der Lager sind um ein Vielfaches überschritten und die hygienischen Zustände erbärmlich. Eine menschenwürdige Behandlung ist in keiner Weise gewährleistet. Zudem geraten die Meschen zunehmend durch die offene Feindseligkeit und einen rechten Mob unter Druck. An der Landgrenze werden die Menschen hingegen durch brutalen und mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrigen Gewalteinsatz vom Grenzübertritt abgehalten. Die Durchführung eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens ist unter diesen Umständen schlicht unmöglich. Das griechische Asylsystem ist zwischenzeitlich auch zusammengebrochen. Indes hat die türkische Regierung das Abkommen mit der EU für tot erklärt. Dies alles ergibt eine grausame Pattsituation. 

Schaut man hingegen nach Halle oder Hanau, so haben sich hier zwei der schlimmsten Anschläge in der deutschen Nachkriegsgeschichte ereignet. Während in Halle zwei Menschen starben und ein antisemitisches Massaker nur durch puren Zufall verhindert werden konnte, wurden in Hanau zehn Menschen grundlos erschossen. In beiden Fällen waren offenbar fremdenfeindliche und rechtsextreme Motive maßgeblich. Diese basierten teilweise auf Verschwörungstheorien. Beide Taten stehen in einer Reihe mit weiteren rechtsextremen Attentaten, wie dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Lübke und dem Angriff auf einen Eritreer in Wächtersbach.

Kommen jetzt einzelne Mitgliedsstaaten einschließlich Deutschland ihren humanitären Pflichten nach könnte dies Sogwirkung für weitere in der Türkei ausharrende Flüchtlinge haben. Zum anderen werden damit hierzulande Ängste an die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 wach. Die Furcht vor einer ungeregelten Zuwanderung sitzt tief in der hiesigen Bevölkerung. Nach einer aktuellen Umfrage sind die Überforderung des Staates durch Flüchtlinge und Spannungen durch den Zuzug von Ausländern die zwei größten Ängste der Bürgerinnen und Bürger. Diese Ängste sind Wegbereiter für bewusst Angst schürenden Parteien am rechten Rand, wie die AfD, insbesondere durch ihre teilweise als neofaschistisch eingestufter Parteigliederungen. Zugleich bilden sie den Nährboden für die Aussaat von Verschwörungstheorien. In letzter Konsequenz können diese zu Attentaten wie in Halle oder Hanau führen. 

Gleichzeitig aber werden damit die gemäßigten Parteien und Regierungen Europas unter Druck gesetzt, zur Vermeidung der weiteren Spaltung ihrer Gesellschaften und der Mitgliedsstaaten, die rigorose, zu Lasten der Geflüchteten gehende Haltung einzunehmen. Ob diese noch mit den Europäischen Werten wie Achtung der Menschenwürde oder Rechtsstaatlichkeit vereinbar sind erscheint zunehmend fraglich.

Diese Situation kann nur in enger Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten begegnet werden. Die folgenden Schritte und Maßnahmen sind dabei unabdingbar:

  • Die humanitäre Lage auf den griechischen Inseln und im Grenzgebiet zur Türkei ist umgehend zu verbessern. Hierfür sind die Menschen von den Inseln in Aufnahmelager auf dem Festland zu transportieren. An der Landgrenze sind Notunterkünfte einzurichten. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge ist zwar hoch. Bei einer entschiedenen Unterstützung Griechenlands durch die Mitgliedstaaten ist die Einrichtung von Notunterkünften jedoch durchaus möglich und aufgrund der humanitären Katastrophe alternativlos.
  • Die EU-Außengrenze mit der Türkei ist weiterhin wirksam zu kontrollieren. Die Mitgliedsstaaten müssen Griechenland auch hier unterstützen. Unkontrollierte Grenzübertritte müssen verhindert werden.
  • In den Aufnahmeeinrichtungen ist die zügige Durchführung von Asylverfahren zu gewährleisten. Hier bedarf es ebenfalls einer konsequenten Amtshilfe der griechischen Verwaltung durch die Mitgliedsstaaten. Das neu strukturierte holländische Asylverfahren könnte Vorbild sein.

Besteht kein Bleiberecht, ist der oder die Asylsuchende umgehend zurückzuweisen. Die Türkei wäre als sicherer Drittstaat zur Aufnahme verpflichtet. 

Besteht ein Bleiberecht sind die Menschen nach einem gerechten Schlüssel zwischen den Mitgliedsstaaten zu verteilen. Die Blockadehaltung einzelner Mitgliedsstaaten muss gebrochen werden und der europäische Solidaritätsgedanke sich durchsetzen. Der Europäische Gerichtshof hatte bereits eine im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015 mit Unterstützung Polens erhobene Klage Ungarns und der Slowakei gegen einen von der Dublin III Verordnung abweichende Verteilung abgewiesen. Auch setzten die EU-Verträge bei der Regelung von Asylfragen kein Einstimmigkeitsprinzip voraus.   

  • Das EU-Türkei-Abkommen ist neu zu verhandeln. Der türkischen Regierung ist deutlich zu machen, dass sich die europäischen Staaten nicht erpressen lassen. Die Unterstützung der türkischen Regierung bei der Aufnahme der in ihrem Land ankommenden und lebenden Flüchtlinge (Bau von Unterkünften, Schulen etc.) ist daher an strenge Bedingungen, wie gerade die bislang zugesagte Kontrolle ihrer Grenze zu Europa zu koppeln. Falls erforderlich, sollte auch vor Wirtschaftssanktionen nicht zurückgeschreckt werden. Denn nur ein wirksames Abkommen erlaubt es den Mitgliedsstaaten, die – längst überfällige Einigung – auf eine gemeinsame Asylpolitik und die Schaffung handlungsfähiger Strukturen herbeizuführen. 
  • Mit Blick auf die Behandlung der in Deutschland ankommenden Menschen durch das hiesige Asyl- und Aufenthaltsrecht ist klar zwischen dauerhaftem Asyl und auf den Zeitraum der Krise im Heimatland beschränktem Bleiberecht zu unterscheiden. Zugleich muss ein „Spurwechsel“ möglich sein. Andererseits ist bei Fehlen einer dauerhaften Bleibeperspektive ein Mechanismus für eine Rückführung zu verankern. Insoweit bestehende Defizite des hiesigen Rechtsrahmens und in der Umsetzung der Regelungen sollten unverzüglich beseitigt werden. 

Diese Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene stellen die Mitgliedsstaaten und daher auch Deutschland vor immense Aufgaben. Angesichts der zugespitzten und humanitär nicht länger tragbaren Situation sind sie jedoch zwingend. Europa und auch Deutschland bleibt keine andere Wahl. Ad hoc Reaktionen oder konzeptlose Einzelmaßnahmen verschiedener Mitgliedsstaaten schwächen dagegen die außenpolitische Rolle der EU und können das Flüchtlingsleid vergrößern. 

Zugleich aber sind Einzelmaßnahmen hierzulande zum Erhalt des Vertrauens in den Staat und die Funktionsfähigkeit seiner Organe zwingend. Denn letztlich kann nur so der Zulauf zu den rechtsextremen Rändern als vermeintliche „Heilsbringer“ verhindert werden. Es geht dabei um nicht weniger als die Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, letztlich die Verteidigung der freiheitlichen Grundordnung. 

Kehrt man nun an den Beginn dieses Beitrags zurück, so zeigt sich, dass in diesen Tagen die griechischen Inseln und Edirne und die Städte Hanau und Halle sehr eng bei einander liegen.