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Marktwirtschaft
Doch, sie lebt, die globale Marktwirtschaft

Unser stellv. Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Paqué über die "Krise des Kapitalismus"
Hält man sich an objektive Fakten von Lebensqualität und Wohlstand, bleibt von dem Verdikt der Kapitalismus-Kritiker fast nichts übrig.

Hält man sich an objektive Fakten von Lebensqualität und Wohlstand, bleibt von dem Verdikt der Kapitalismus-Kritiker fast nichts übrig.

© primeimages / iStock / Getty Images Plus / Getty Images

Dieser Artikel ist zuerst am 22. Juni 2018 in der Printausgabe Wirtschaftswoche erschienen und ist online hier abrufbar. 

Vergangene Woche hat Heiner Flassbeck an dieser Stelle einen "Nachruf auf die neoliberale Globalisierung" veröffentlicht. Dafür ist es, wieder mal, zu früh. Die Welt braucht pragmatische Reformen, keine radikalen Systembrüche. Auch in Deutschland besteht Handlungsbedarf.

Die Krise des Kapitalismus ist unter Intellektuellen zu einem Dauerthema geworden. Pünktlich zum 200. Geburtstag von Karl Marx erreichte diese Welle einen neuen Höhepunkt. Es wimmelt derzeit in den Medien von Menetekeln für die Marktwirtschaft. Seit den Siebzigerjahren hat es so etwas nicht mehr gegeben.  Waren es damals dogmatische Angriffe sozialistischer Denker auf ein System der angeblich ausbeuterischen Klassengesellschaft, so steht heute die Kritik an der liberal geprägten Globalisierung im Vordergrund, diesmal von links und rechts.  Die Globalisierung sei gründlich schiefgelaufen, wenn nicht gar gescheitert.

Ist dies wirklich so? Hält man sich an objektive Fakten von Lebensqualität und Wohlstand, bleibt von dem Verdikt der Kritiker fast nichts übrig. In den letzten Dekaden hat sich nämlich die Lebensqualität der Menschheit weltweit drastisch verbessert: Die Lebenserwartung ist deutlich gestiegen und die Anzahl der Menschen in bitterer Armut gesunken (trotz kräftiger Zunahme der Weltbevölkerung); Hungersnöte gibt es nur noch sehr selten, der Gesundheitszustand verbesserte sich, und das Pro-Kopf-Einkommen ging überall nach oben. Zugegeben, die Geschwindigkeit des Fortschritts ist unterschiedlich: Ost- und Südasien machten gewaltige Sprünge nach oben, allen voran China und Indien, die beiden bevölkerungsreichsten Nationen der Welt. Aber selbst Lateinamerika und Afrika kamen voran, wenn auch mit deutlich schwächerer Dynamik.

Übrigens wurden auch harte globale Rückschläge relativ gut aufgefangen. So hinterließ die Weltfinanzkrise nach 2008 keinen Scherbenhaufen wie die Weltwirtschaftskrise 1930-32. Damals folgte massiver Protektionismus und schließlich der Zweite Weltkrieg. Heute sind Wirtschaft und Handel auf moderatem, aber nachhaltigem Expansionskurs. Selbst in der krisengebeutelten Euro-Zone gibt es wieder solides Wachstum, die Beschäftigung steigt, und die Arbeitslosigkeit sinkt, in Deutschland sogar auf einen langjährigen Tiefstand.

Nur in einem Punkt muss man den Kapitalismuskritikern zustimmen: Es gibt neue große Herausforderungen. Dies sollte allerdings niemanden überraschen, denn der Fortschritt der Menschheit ist niemals geradlinig gewesen: Werden Probleme gelöst, tauchen neue auf. Ganz oben auf der Liste der Herausforderungen steht heute in den westlichen Industrienationen die Spaltung der Gesellschaft. Sie begann eher schleichend: zunächst in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, dann auch - wenngleich moderater - auf dem europäischen Kontinent. Es zeigte sich, dass es unseren westlichen Gesellschaften viel schwerer fällt als erwartet, sich den Anforderungen von Digitalisierung und Globalisierung zu stellen. Die Spuren der industriellen Schrumpfung sind nachhaltig und tief. Regionen und Bevölkerungsschichten, die besonders hart vom Strukturwandel getroffen sind, können nur schwer mithalten.

Der britische Journalist David Goodheart hat dies 2017 in seinem Buch "The Road to Somewhere" einprägsam beschrieben. Er unterscheidet gesellschaftlich zwischen zwei Gruppen: den "Anywheres", die mobil und zumeist gut gebildet sich dem Wandel anpassen - gewissermaßen auf ihm "surfen"; und den "Somewheres", die durch regionale und berufliche Verwurzelung sowie im Durchschnitt schlechtere Bildung den Anschluss verpassen oder zumindest hinterherhinken. Die "Anywheres" machen maximal ein Drittel der Bevölkerung aus und sind tendenziell die Gewinner von Digitalisierung und Globalisierung. Die "Somewheres" stellen mit zwei Drittel die klare Mehrheit und liefern den Pool für die tatsächlichen oder gefühlten Verlierer des Wandels.

Die Rückkehr zu geordneten Verhältnisssen

Diese Unterscheidung ist grob, aber hilfreich. Sie erklärt den Aufstieg des Populismus, wirtschaftlich und kulturell: Die Wahl Donald Trumps in Amerika, das Brexit-Votum im Vereinigten Königreich und die Wahlerfolge rechtsgerichteter Parteien wie hierzulande der Alternative für Deutschland lassen sich mit dem wachsenden Widerstand von gesellschaftlichen Gruppen erklären, die sich in ihren Interessen und Identitäten übergangen fühlen. In den USA spielt dabei die Forderung nach Protektionismus eine entscheidende Rolle, in Europa ist es die Angst vor Zuwanderung. Ihnen politisch zu begegnen ist nicht einfach, denn es gibt keine Patentrezepte, Menschen vor dem Wandel zu schützen, ohne die Offenheit einer Gesellschaft infrage zu stellen. Da liegt eine große, lange unterschätzte Aufgabe für die Arbeitsmarktpolitik, die schulische Bildung und die berufliche Qualifizierung. Der Staat und die Unternehmen müssen deutlich machen, dass sie die Menschen im Strukturwandel nicht alleine lassen. Hier ist in der Vergangenheit viel versäumt worden, auch in Deutschland, aber noch mehr in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und den mediterranen Ländern.

Ob dies genügt, die Welle des Populismus abzufangen, ist allerdings fraglich.  Hinzukommen muss ein kritischer Blick auf die Globalisierung selbst. Besonders drastisch zeigt sich dies am Aufstieg von China, dessen Wirtschaftssystem am besten als Staatskapitalismus - und nicht Marktwirtschaft - zu bezeichnen ist.  Mit Made In China 2015, einem gigantischen Programm der Industrie- und Technologiepolitik, hat der kommunistische Staatspräsident Xi Jinping die Weichen für eine merkantilistische Eroberung der Weltmärkte gestellt. Darauf hat die Welthandelsorganisation WTO bisher keine Antwort gefunden. Deshalb sind Donald Trumps Strafzölle gegen China zwar als Verletzung des WTO-Regelwerks inakzeptabel, machen aber durchaus auf ein ungelöstes Problem aufmerksam. Es wird künftig auch deutschen Beschäftigten in der Stahlindustrie oder im Maschinenbau kaum zu vermitteln sein, dass sie wegen des chinesischen Staatskapitalismus ihren Job verlieren - und nicht infolge eines fairen globalen Wettbewerbs. Hier muss die WTO ihre Regeln reformieren, sonst verliert sie jede Glaubwürdigkeit. Die Europäische Union und allemal Deutschland sollten dies anmahnen und nicht nur Donald Trumps aggressiven Protektionismus anprangern.

Ohnehin genügt es nicht, wenn die deutsche Politik mit dem Finger auf andere zeigt. Sie muss eigene Hausaufgaben machen. Eine zentrale wirtschaftspolitische Herausforderung ist dabei der riesige Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz. Dieser liegt seit einigen Jahren bei rund acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es darf nicht verwundern, dass dies nicht nur bei den Nachbarn in der Euro-Zone auf Kritik stößt, sondern eben auch Trumps Protektionismus Vorschub leistet. Dabei ist der Überschuss das Ergebnis nicht allein einer besonders starken Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, sondern auch einer allzu konservativen Finanzpolitik im Binnenmarkt, die sich strikt gegen kräftige Steuersenkungen wendet. Diese sind aber geboten, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch Investitionen und Konsum zu erhöhen und damit eben auch die Leistungsbilanz einem Ausgleich deutlich näher zu bringen.

Ähnlicher Handlungsbedarf besteht bei den Herausforderungen der Zuwanderung.  Die Unfähigkeit Europas, seine Außengrenzen zu kontrollieren, hat viele Menschen von der Globalisierung tief entfremdet und ihr Vertrauen in den Staat erschüttert. In der Theorie des Außenhandels gilt der freie Handel zu Recht als ein Ersatz für die internationale Mobilität der Menschen, die gerade durch den Handel in ihrem Heimatland besser bezahlte Beschäftigung in exportfähigen Wirtschaftszweigen eröffnet bekommen. Es wäre deshalb dringend nötig, den politischen Schwerpunkt wieder zurückzuverlagern auf die Unterstützung der Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens in Richtung einer Handelsintegration mit Europa - bei strikt kontrollierten Außengrenzen.

Fazit: Es bedarf einer Rückkehr zu Verhältnissen, die für ganz normale Bürgerinnen und Bürger als geordnet angesehen werden. Leider wird die Diskussion hierüber in unserem Lande allzu leicht diffamiert: als keynesianischer Linksruck in der Wirtschaftspolitik, wenn es um die Korrektur des Leistungsbilanzüberschusses geht; und als konservativer Rechtsruck in der Innenpolitik, wenn die Kontrolle der Zuwanderung auf der Tagesordnung steht.  Ideologische Vorwürfe und moralisierende Urteile helfen aber nicht weiter. Wir brauchen ein pragmatisches Umsteuern, und zwar aus der politischen Mitte heraus. Dann wird sich auch die globalisierte Marktwirtschaft als lebens- und leistungsfähig erweisen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie im Wettbewerb der Systeme die Nase vorn behält - trotz der Unkenrufe der Kapitalismuskritiker.

Karl-Heinz Paqué, 61, ist Professor für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er ist Mitglied im FDP-Bundesvorstand und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.