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Libanon vor der Wahl - Libanon vor dem Wandel?

So viele registrierte Kandidaten und Kandidatinnen wie nie zuvor
Wahlwerbung

Jede Werbefläche wird für Wahlwerbung genutzt. Das mittlere Plakat weist auf die erstaunlich hohe Anzahl weiblicher Kandidaten hin

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

„Rien ne va plus – Nichts geht mehr.“ Seit gestern steht fest, welche Kandidaten die Libanesen am 6. Mai in ihr Parlament wählen können. Doch diese Wahl ist besonders. Sie ist die erste seit neun Jahren. Hunderttausende der extrem politisierten libanesischen Gesellschaft wählen somit zum ersten Mal in ihrem Leben. Ein neues Wahlgesetz sorgt außerdem dafür, dass sich erstaunlich viele Kandidaten überhaupt zur Wahl stellen. Was bedeutet das für den Verlauf der Wahl – insbesondere vor dem Hintergrund der zu erwartenden Polarisierung der unterschiedlichen Lager?

Über fünf Millionen US-Dollar hat der libanesische Staat in den letzten Wochen eingenommen. Geld, das von den sich zur Wahl stellenden Kandidaten kommt, denn diese hatten jeweils eine Gebühr in Höhe von 5.300 US-Dollar zu zahlen, um sich zu registrieren. 976 Kandidaten taten dies. Dies allein ist bereits ein Novum. Noch nie gab es so viele Kandidaten. Noch nie gab es so viele Kandidatinnen. Aber dies war nur der erste Schritt. Gestern endete die Frist zur Erstellung der erforderlichen Wahllisten, und die Wähler erwarten nun mit Spannung, welche Kandidaten sich zu einer Liste zusammengeschlossen haben.

Da es die erste Wahl seit 2009 ist, gibt es eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Erstwählern; eine Gruppe, die vor allem die unabhängigen Kandidaten für sich gewinnen wollen. Diejenigen Kandidaten, die keiner etablierten Partei und keinem der zwei großen politischen Blöcke zugehörig sind und hauptsächlich aus der Zivilgesellschaft kommen, könnten potentiell auch vom neuen Wahlrecht profitieren. In der Vergangenheit wurden Wahlen im Libanon nach dem Mehrheitswahlrecht abgehalten, in welchem nur der Kandidat mit dem höchsten Stimmanteil ein Mandat erhält und alle anderen leer ausgehen. Nun versucht sich der Libanon an einer Verhältniswahl, also einer Verteilung von Mandaten im Verhältnis zur Gesamtheit der gesammelten Stimmen. Vieles ist somit neu und vieles nicht ganz klar. Denn ob am Ende auch die traditionellen Blöcke im Parlament bestehen bleiben werden, ist durchaus fraglich.

Historisch spalteten sich die Parteien im Jahre 2005 in das pro-syrische Lager der „Allianz des 8. März” und die eher pro-westlichen Gegner der damaligen syrischen Besatzer der „Allianz des 14. März”. Die Blöcke folgten dabei keiner gemeinsamen Ideologie, sondern definierten sich vor allem durch ihre Position gegenüber Syrien und dem Assad Regime. So kooperiert die liberale Future Movement Partei des Premierministers Saad Hariri in der „Allianz des 14. März“ mit der christdemokratischen Partei Kataeb und auch der Progressiven Sozialistischen Partei. Auf Seiten der „Allianz des 8. März“ findet sich unter anderem die schiitische Hisbollah, die christlich-nationalistische Freie Patriotische Bewegung des Präsidenten Michel Aoun als auch die rechtsextreme Syrische Nationalsozialistische Partei. Schon aus den derzeitigen Listenzusammenstellungen wird sichtbar, dass dieses Blockdenken nur noch bedingt zeitgemäß ist und strategischen Überlegungen unterworfen wird.

Ein frischer Wind

Neben dem neuen Verhältniswahlrecht birgt eine weitere fundamentale Neuerung Potential für große Veränderungen. Die zuvor vom Wahlrecht ausgeschlossene libanesische Diaspora kann nun zum ersten Mal mit abstimmen. Dies ist besonders interessant, da die Anzahl der außerhalb der Heimat lebenden Libanesen mit ungefähr 15 Millionen deutlich höher ist als die vier Millionen Bürger innerhalb des Zedernstaates. Viele der Ausgewanderten verließen den Libanon auf Grund des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 oder aus Mangel an sozialökonomischen Perspektiven. Die Auswirkungen der nun gewachsenen – und schwer kalkulierbaren – Wählerschaft auf das Wahlergebnis sind von nicht zu vernachlässigender Bedeutung.

Ebenfalls für frischen Wind sorgt die erhöhte Anzahl an unabhängigen und nicht religiös verankerten Kandidaten. Sie sind ein Symbol für die Relevanz einer extrem engagierten Zivilgesellschaft, welche in den letzten Jahren enormen Zulauf gewonnen hat. Die darin organisierten, oftmals jungen und gut vernetzten Libanesen versuchen vor allem durch die sozialen Medien auf sich aufmerksam zu machen und sich von den Kandidaten der etablierten Parteien abzusetzen. Das Momentum dieser Bewegungen und nicht-traditionellen Gruppen hatte seinen Ursprung in der Abfallkrise von 2015. Die damalige Unfähigkeit des Establishments, der wachsenden Müllberge Herr zu werden, verursachte Proteste in allen größeren Städten des Landes und resultierte in Wahlerfolgen der neuen Bewegungen in den Kommunalwahlen 2016.

Der Aufstieg dieser neuen Akteure ist ein Indikator des gesteigerten Engagements für das Wachstum und den Wohlstand des Landes unter den Bürgern. Die damals relevanteste Gruppe, die es über eine gemeinsame Wahlliste zu großer Unterstützung brachte, war Beirut Madinati (Meine Stadt Beirut). Doch genau an diesem Beispiel zeigt sich, wie schwer es ist, aus zivilgesellschaftlichem Engagement eine ernst zu nehmende politische Bewegung zu formen: Beirut Madinati wird der libanesische Wähler auf dem Wahlzettel vergeblich suchen.

Der Status quo

Traten im Jahr 2009 noch insgesamt 702 Kandidaten zu den Parlamentswahlen an, sind es in diesem Jahr dagegen 976, von denen 111 weiblich sind. Beides sind Höchstwerte im Libanon.

Das neu aufkommende Gefühl der politischen Beteiligung und das neue Wahlgesetz mögen zwar den Weg für bislang unbekannte Kandidaten ebnen, doch es entstehen auch neue Herausforderungen. Die anstehenden Wahlen scheinen mehr Konflikte zwischen den Vertretern der Zivilgesellschaft zu verursachen als zwischen ihnen und der etablierten politischen Klasse. So sahen sich insbesondere viele unabhängige Kandidaten gezwungen, ihre Kandidatur nicht aufrecht zu erhalten, da sie daran scheiterten, Allianzen zu schmieden und gemeinsame Wahllisten zu erstellen. Lediglich eine Schirmorganisation mit dem Namen Tahalof Watani (Allianz meines Landes) vereint zahlreiche individuelle Kampagnen aus verschiedenen Wahlbezirken des Libanon.

Aber selbst zum jetzigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob Tahalof Watani eine gemeinsame Plattform der verschiedenen Wahlprogramme oder lediglich eine lose Verbindung unabhängiger Wahllisten darstellt. Und genau diese Unklarheiten führen zur Entmutigung vieler engagierter Libanesen, die auf der Suche nach geeigneten Kandidaten außerhalb historisch gewachsener Gewohnheiten sind. Eine zu große und unabgestimmte Aufteilung der unabhängigen Kandidaten führt nun dazu, dass sich die kleinen Gruppierungen durch das Verhältniswahlrecht gegenseitig Stimmen im selben Bezirk entziehen und so die Chancen für den Erfolg aller Kandidaten geringer ausfallen.

Darüber hinaus wird es nicht ausreichen, politische Veränderung im Libanon auf „likes” und „shares” in den sozialen Medien zu reduzieren. Die einzige Möglichkeit, sich gegen das Establishment durchzusetzen, liegt darin, eine aktive Rolle zu spielen, direkt mit den Wählern zu interagieren, ihre Ängste und Wünsche zu verstehen und sich für politische und organisatorische Legitimität einzusetzen. Dies gelingt den neuen Mitspielern im politischen Betrieb des Libanon noch nicht, und so werden die unabhängigen Kandidaten wahrscheinlich nichts anderes bleiben, als was sie derzeit sind: Kandidaten.

Wo stehen wir heute?

Angesichts der regionalen Konfliktlage, sind die anstehenden Wahlen wegweisend für das Land. So spiegeln nicht wenige Aussagen der Wahlkämpfer die lokalen und regionalen Sorgen wider. So stilisierte Premierminister Saad Hariri seinen Wahlkampf bereits zum Kampf für die Identität des Libanons und verkündete, dass „Jeder Wähler, der am 6. Mai zuhause bleibt, eine Stimme für Hisbollah und niemanden sonst” abgeben würde. Er beschwor die Bewohner der Hauptstadt, seiner Partei Future Movement das Vertrauen zu schenken, indem er hinzufügte: „Ihr, die Bürger von Beirut, aus allen religiösen Gruppen, ihr werdet der Hisbollah nicht erlauben, Beirut durch die Wahlurnen in ihre Finger zu bekommen!” Wie erfolgreich Future Movement mit dieser Strategie sein wird, ihre Sitze im Parlament zu verteidigen, bleibt abzuwarten.

Die Lage zur anstehenden Wahl im Libanon ist komplex bis unübersichtlich und insbesondere in ihren Feinheiten vom Ausland aus schwer nachzuverfolgen. In Zusammenarbeit mit einem politischen Blogger hat die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Libanon und Syrien eine übersichtliche Anlaufstelle geschaffen: www.128Lebanon.com

www.128Lebanon.com

Screenshot der Website www.128Lebanon.com

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die neue Webseite (am 6. Mai werden 128 Abgeordnete gewählt) vereint verschiedenste Umfrageergebnisse, Analysen und Hintergrundinfos an einem Ort. Dadurch haben die Wähler die Möglichkeit, die politischen Geschehnisse in den nächsten Wochen im Auge zu behalten. Darüber hinaus gibt die Seite auch Interessierten aus aller Welt Zugriff auf Hintergrundinformationen in englischer Sprache und bezieht dadurch eine deutlich größere Zielgruppe ein. Solche Initiativen – wie auch eine neue Handy-App „Elections2018" –  mit der Wähler eine Schnellübersicht von Kandidaten und Wahllisten erhalten, nähren die Hoffnung, dass die Libanesen doch noch gut informiert eine Entscheidung bei ihrer Wahl treffen können.

Dirk Kunze leitet das Projektbüro Syrien der Stiftung für die Freiheit in Beirut.

Poliana Geha ist Programmmanagerin im Büro Beirut.

Philip Müller ist Praktikant im Stiftungsbüro Beirut.