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Lateinamerika
Entwicklungspolitik: Wir dürfen Lateinamerika nicht aus den Augen verlieren

Analyse zur Lage der Region und Impulse für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit
Favelas in Brasilien

Lateinamerika beherbergt mit über 640 Millionen Einwohnern knapp 10% der Weltbevölkerung. Keine andere Region der Welt hat derart starke sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten. Es ist nach Nordamerika die Region, die die stärkste Affinität zu Europa hat, was sich auch in einer teils bis heute andauernden Migrationsgeschichte spiegelt. Die Idee der offenen Gesellschaft – Leitbild für die westlichen Länder – ist in vielen Kulturen anschlussfähig, wie die beeindruckende demokratische Entwicklung in Japan, Taiwan und Südkorea in Asien oder in Ghana und Botswana in Afrika zeigt. Aber sie ist auch ein konkretes Produkt der historischen Entwicklung in Europa, und Lateinamerika mit seinem von Europa stark geprägten kulturellen Erbe hat einen hohen Grad an Überschneidung mit Deutschland und Europa, was die gesellschaftliche Wertebasis angeht. Die Region ist daher unser natürlicher Partner, wenn es um die Verteidigung der Idee der Menschenwürde und Freiheit geht. Sie ist aber aufgrund des wirtschaftlichen Booms in Asien einerseits und der Sorge um die Entwicklung in der arabischen Welt und in Afrika mit ihren direkten Auswirkungen auf Europa andererseits etwas aus dem Blickwinkel geraten. Das darf nicht in eine zu große Vernachlässigung der Region münden, denn die Region steht vor großen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die viele Fortschritte der letzten Jahre rückgängig machen könnten.

Wirtschaftspolitik

Die Wirtschaftsstrukturen in Lateinamerika weisen ein disparates Bild auf. Einerseits sind in den letzten Jahrzehnten viele wichtige Liberalisierungsschritte erfolgt, die unbestreitbar große Wirkung gezeigt haben. Die Öffnung der mexikanischen Wirtschaft, verstärkt durch das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, hat in Mexiko zu einem Industrialisierungsschub geführt und im Land einen soliden Exportsektor geschaffen, der die frühere einseitige Abhängigkeit des Außenhandels von Ölexporten beendet hat. Chile hat geradezu asiatische Wachstumsraten hingelegt und sich zu einer der reichsten Volkswirtschaften der Region gewandelt. Allerdings sind die Volkswirtschaften leider in vielen Bereichen noch stark oligarchisch oder staatswirtschaftlich geprägt. Der Zugang zu wirtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten ist für breite Schichten nach wie vor weitgehend versperrt, was es sich in einer Unzufriedenheit der Bevölkerung wiederspiegelt. Wenn sie sich trotz wirtschaftlicher Fortschritte weiterhin keine privaten Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen leisten können und auf die staatlichen Dienste miserabler Qualität angewiesen bleiben, wächst der Ärger und entlädt sich immer wieder – in 2019 etwa in Bolivien und Chile.

Eine weitere Herausforderung auf wirtschaftlicher Ebene stellt die hohe Informalität dar, in vielen Ländern verursacht von klientelistischen Politikmodellen, die politisch gut vernetzte Großunternehmen privilegieren, während sich ein Großteil der Bevölkerung mit ineffizienten und oft regulierungswütigen Bürokratien beschäftigen muss. Selbst ein OECD-Mitgliedsland wie Mexiko hat einen informellen Sektor, der ca. 60% der Wirtschaft ausmacht.

Es bleibt deshalb eine Herausforderung für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, ordnungspolitische Reformen zu unterstützen, die den Zugang der Mikro- und Kleinunternehmer zur Formalität verbessern und damit auch die Korruption zurückdrängen.

Einfluss Chinas in der Region

Ein starkes und zunehmendes Engagement Chinas, teilweise auch Russlands, in der Region ist zu erkennen, insbesondere in Diktaturen wie Kuba, Venezuela und Nicaragua, aber auch in mehreren anderen Ländern. China schafft gezielt neue Abhängigkeiten, um eigene technische und wirtschaftliche Standards durchzusetzen und um eigene politische Positionen durchzudrücken, etwa gegenüber der internationalen Menschenrechtspolitik oder speziell gegenüber Taiwan, das in der Region traditionell einige Freunde hat. Die Durchsetzung von eigenen technischen und wirtschaftlichen Standards ist aber gerade im Falle der Digitalwirtschaft alles andere als eine harmlose Konkurrenz, denn hier geht es um den Aufbau eines von China kontrollierten Systems asymmetrischer Beziehungen. Deutschland und die EU müssen sich dieser Unterminierung des offenen Weltmarkts stärker entgegenstellen; zum einen durch eine Wiederbelebung der WTO, zum anderen durch die Intensivierung eigener Handelsverträge wie dem derzeit verhandelten Abkommen der EU mit Mercosur. Die gegenwärtige Tendenz, Handelsabkommen mit allerlei zusätzlichen Maximalforderungen zu Themen wie dem Schutz des Regenwaldes oder Standards der Arbeitsgesetzgebung zu überfrachten, sollte dabei nicht zu weit getrieben werden. Wenn ein Abkommen deswegen scheitert, ist weder dem Regenwald oder dem Arbeiterschutz geholfen, noch erreichen wir die Wohlstandsgewinne, die intensiverer Handel für beide Seiten bieten. Stattdessen profitiert China, das keine derart umfassenden Forderungen auf anderen Politikfeldern stellt. Hier muss gerade die deutsche Politik sicherstellen, dass unsere Beziehungen zu Lateinamerika bewahrt und ausgebaut werden, anstatt leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu werden.

Bildungspolitik

Eine zentrale Schwäche in der Region ist das Bildungswesen. Lateinamerika schneidet bei den PISA-Tests der OECD regelmäßig schwach ab. Im Schnitt liegen die Lernleistungen der Schüler Lateinamerikas drei Jahre hinter dem OECD-Durchschnitt, selbst in den regionalen Musterländern Uruguay und Chile beträgt der Abstand noch zwei Jahre (PISA 2018). Das ist eine dramatische Situation, die gesellschaftliche Ungleichheit zementiert. Die besten Posten gehen daher meist an die Kinder von Familien, die sich eine private Bildung, oft inkl. eines Auslandsstudiums, leisten können, während Kinder aus ärmeren Familien ihr Leben lang benachteiligt bleiben. Warum ist das so? Das Bildungssystem ist unterfinanziert und oft dysfunktional, weil politische Interessen einer Qualitätsverbesserung im Weg stehen. Lehrergewerkschaften sind mächtig. In Mexiko, beispielsweise, können Lehrer ihren Posten an ihre Kinder vererben, ob die nun etwas taugen oder nicht, und die Verteilung von Stellen im Bildungssektor ist Teil des klientelistischen Politikmodells. Parteien haben ein großes Interesse an den Lehrern, und nicht an dem, was die Kinder lernen.

Hier wäre es wichtig, Initiativen im Bereich der dualen Bildung zu stärken, da die Region auf diese Weise ihr industrielles Potenzial ausschöpfen kann. Hier besteht einerseits großes Interesse am deutschen Modell, aber auch hier besteht das Problem der mangelnden Stetigkeit der Politik. Nötig ist von deutscher Seite ein kontinuierlicher begleitender Politikdialog, geduldiges Erarbeiten von praktischen Angeboten und eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft, insbesondere der Wirtschaftsverbände und Handelskammern.

Demokratie

Lateinamerika hat seit den 80-er Jahren eine umfassende Demokratisierungswelle erlebt. Die früher häufigen Militärregierungen sind fast völlig verschwunden. Aber dennoch sind diese Fortschritte gefährdet. Wir haben einerseits einen Fortbestand von Diktaturen und autoritären Regimes, die linksgerichteten Diktaturen in Kuba, Nicaragua und Venezuela oder autoritäre Regierungen wie in El Salvador. Besonders bedenklich ist, dass an sich demokratisch verfasste Länder wie Brasilien und Mexiko demokratische Institutionen aktiv untergraben. Die Corona-Krise hat die Situation verschärft, da sie Regierungen einen Vorwand zur größeren Machtentfaltung auf Kosten von Kontrollinstanzen gegeben hat. Insgesamt ist deshalb Lateinamerika zwar immer noch deutlich demokratischer als Afrika, der Nahe Osten oder Asien, aber es ist auch die Region, die in den letzten 10 Jahren die größten Rückschläge an demokratischer Qualität zu verzeichnen hat.

Das sind Entwicklungen, die uns nicht gleichgültig sein können. Da sich derzeit autoritäre Modelle dank der Unterstützung durch China und Russland wieder im Aufwind befinden, kommt es mehr denn je darauf an, demokratische Kräfte in der Welt zu stärken, und Lateinamerika mit seiner relativ starken demokratischen Tradition muss da Priorität sein.

Rechtsstaatlichkeit – Sicherheit und Menschenrechte

Eine weitere Herausforderung der Region ist die eklatante Schwäche der Rechtsstaatlichkeit, die zu hohe Kriminalität und weitverbreitete Straflosigkeit führt, was die Legitimität des Staates unmittelbar untergräbt. Die Region hat in den letzten Jahrzehnten durchaus Fortschritte gemacht, aber diese sind fragil und werden durch charismatische Populisten bedroht, die Beschränkungen ihrer Macht durch Gesetze und eine unabhängige Justizablehnen. Die weltweite Erfahrung seit den 80-ern zeigt, dass die Einführung demokratischer Wahlen wesentlich einfacher ist als die Entwicklung solider rechtsstaatlicher Strukturen. Besonders schwierig ist eine Reform der Sicherheitskräfte hin zu mehr Professionalität in Verbindung mit konsequenter Achtung der Menschen- und Bürgerrechte. Ausbildungsstandards sind oft sehr niedrig, selbst in relativ reichen Ländern wie Mexiko, der Polizeiapparat ist zu stark politisiert und die Bezahlung ist schlecht. Das führt zu Korruption und Unsicherheit. Im Kampf gegen die Drogenkriminalität bestehen die Drogenkartelle in manchen Fällen aus früheren Elitesoldaten, die von den Amerikanern für teures Geld perfekt ausgebildet wurden und sich dann für die besseren Verdienstmöglichkeiten im „privaten Sektor“ entschieden haben. Die Drogenkriminalität und die damit einhergehende Korruption hat mittlerweile viele Staaten der Region zu einem gefährlichen Maß ausgehöhlt.

Die Zivilgesellschaft muss auch hier eine wichtige Rolle spielen – Menschenrechtsorganisationen leisten wichtige und mutige Arbeit, oft unter hohem persönlichen Risiko. Sie verdienen stärkere und kontinuierliche Unterstützung, denn Reformen in diesem Bereich dauern lange. Das erfordert auch einen begleitenden Rechtsstaatsdialog auf Regierungsebene und eine klare Haltung gegenüber der Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit, die stark von Russland und China in der Region gefördert wird. Machen wir uns nichts vor: auch die Rechtsstaatlichkeit, insbesondere der Schutz der Menschenrechte, und damit die verbindlichen Gründungsprinzipien der Vereinten Nationen stehen heute mehr denn je zur Disposition.