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Landtagswahl
Nachdenken nach Erdbeben

Die Wahl in Bayern hat die politische Landschaft in Deutschland verändert – wie genau?
münchen

Welche Bedeutung hat die Bayern-Wahl für die bundesdeutsche Politik? 

© iStock / Getty Images Plus / jotily

Es war eine überaus wichtige Wahl in Bayern, mit einer für Landtagswahlen hohen Wahlbeteiligung. Parteien und Wähler, alle wussten, dass hier doch einiges auf dem Spiel steht. Das Ergebnis ist ein Erdbeben: schwere Schlappe für die CSU und eine Katastrophe für die SPD, grandioser Sieg für die Grünen, stabiles Hoch für die Freien Wähler, leichter Dämpfer für die AfD und schließlich Wiedereinzug der Freien Demokraten in den Landtag – mit 5,1 Prozent sehr knapp, aber mit starkem Anstieg der Anzahl von Wählerstimmen. Also: sechs Parteien im bayerischen Landtag. Unser Vorstandsvorsitzender Professor Paqué macht sich Gedanken über die politische Bedeutung der Wahl. Er meint: Herausforderung und Chance für die demokratischen Parteien.

Wer diese Wahl bundespolitisch verstehen will, muss mit dem Niedergang der Sozialdemokratie beginnen. Diese ehemals starke stolze Partei erzielte in Bayern weniger als 10 Prozent. Zugegeben, Bayern war immer schwierig für die SPD, aber die Niederlage reiht sich ein in eine lange Serie von Desastern:  Die Volkspartei der Arbeiter und Angestellten versteht anscheinend die Sorgen der Menschen nicht mehr. Ergebnis: 200.000 sozialdemokratische Wähler wanderten zu CSU, Freien Wählern und AfD, alles Parteien rechts von der SPD. Dabei gerieten die Sozialdemokraten zwischen die Stühle: Genau so viele Wähler verlor sie nämlich an die Grünen, also in die Arme derer, die man mit etwas Zuspitzung als Lifestyle-Linke bezeichnen könnte.

Den Grünen muss man uneingeschränkt gratulieren. Ihre Strategie, sich als unorthodoxe, emotionale, weltoffene Partei darzustellen, funktionierte rundum  bei allen inneren Widersprüchen des Programms. Die Grünen erhielten gerade in den gut situierten urbanen Milieus hervorragende Ergebnisse, aber eben im Wesentlichen aus zwei Quellen: SPD und CSU, insgesamt 370.000 Wähler, bestehend aus relativ weltoffenen vormaligen CSU-Wählern, die pro-Merkel und contra-Seehofer standen, und eben von einer SPD, die als Partei seit Jahren missmutig-sauertöpfisch daherkommt, keine Spur von Zukunftskonzepten für die Herausforderungen der nach-industriellen Gesellschaft.

Das war im Kern die große tektonische Verschiebung der Wahl. Der Rest ist schnell erzählt: eine CSU, die kurz vor Wahltore-Schluss den Schaden durch eine geschickte taktische Offensive noch begrenzen konnte  sie lag ja in Umfragen zwischenzeitlich schon deutlich niedriger als die erreichten 37,2 Prozent; Freie Wähler mit 11,6 Prozent, die mit ihrem Pochen auf "Unabhängigkeit" trotz programmatischer Unschärfe die ländliche Bevölkerung fast genauso gut emotional erreichten wie die Grünen die urbanen Wähler; eine AfD, die ihr Protestpotenzial mit lauter Rhetorik ausschöpfte, allerdings feststellen musste, dass nach den Ereignissen in Chemnitz doch die Menschen in Bayern davor zurückschreckten, einer derart aggressiv auftretenden rechtspolitischen Kraft zu viele Stimmen zu geben; und den Freien Demokraten, die zunächst einmal durch harte Arbeit ihre Kernwählerschaft mobilisieren mussten, gerade auch aus den jüngeren Wählerschichten mit optimistischem Blick in die Zukunft, was auch gelang  allerdings auf einem Niveau, das noch viel Luft nach oben lässt, vor allem in den ländlicheren Räumen.

Wählerwanderung

Die Wählerwanderungen in der Übersicht

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Was folgt daraus? Die Antwort ist banal: große Herausforderungen für alle demokratischen Parteien, aber ganz unterschiedliche. Die SPD muss zurück zu einem Kurs in der Tradition von Helmut Schmidt und Gerhard Schröder sowie vieler erfolgreicher sozialdemokratischer Kommunalpolitiker, die bürgernahe Persönlichkeit und Pragmatik im Zweifelsfall vor linke Programm- und Prinzipientreue stellen. Die CDU/CSU muss  viel stärker als bisher  die Sorgen eines eher konservativen Bürgertums ernst nehmen und damit rechtspopulistischen Tendenzen das Wasser abgraben. Die FDP muss weiter daran arbeiten, ihr Bekenntnis zur aufgeklärten Verantwortungsethik in konkrete politische Konzepte, Programme und Vorschläge umzusetzen, die dann auf die Sympathie jener Wählerschichten treffen, die eine Gesinnungsmoral der Bevormundung ablehnen. Und dies nicht nur in Städten, sondern auch in entlegeneren ländlichen Regionen, was derzeit noch auf große organisatorische Engpässe stößt.

Und die Grünen? Ihre aktuellen Erfolge könnten sie dazu verleiten zu glauben, sie hätten alles richtig machen. Kurzfristig stimmt dies aus ihrer Sicht auch, zumindest quantitativ: Wer will schon einer Partei, die gerade in Bayern ihren Stimmenanteil verdoppelt hat, Ratschläge geben, was sie besser machen könnte? Allerdings sind die Grünen derzeit genau jene Kraft, die  bei aller moralisierenden Rhetorik  nur jene anspricht, die in der Globalisierung erfolgreich vorankommen, die "Anywheres", wie es der britische Journalist David Goodheart formuliert hat, und nicht die "Somewheres", die bodenständig verwurzelt sind und an der Entwicklung zweifeln. Es gelingt den Grünen damit, von den großen Krisen ihrer Konkurrenten massiv zu profitieren. Aber sie liefern damit selbst auch keinerlei Beitrag zum Zusammenwachsen der Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Sie "surfen" mit egalitärer Rhetorik auf der Spaltung der Gesellschaft: zwischen Stadt und Land, zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten, zwischen strukturstarken und strukturschwachen Regionen. Noch sind sie damit sehr erfolgreich, aber man wird sehen, ob sie sich tatsächlich den Herausforderungen der gesellschaftlichen Spaltung, die sie selbst laut beklagen, politisch-programmatisch entziehen können.

Denn eines ist auch klar: Der Gewinn der Grünen geht in erster Linie zu Lasten der SPD, in zweiter Linie zu Lasten der CDU/CSU. In urbanen Spots des Life-Style-Bürgertums wie München-Schwabing führte dies bei der Bayernwahl dazu, dass Grüne mit 34,4 und FDP mit 12,6 Prozent der Stimmen zusammen fast die absolute Mehrheit haben. Aber in den Weiten Bayerns  und Deutschlands!  sieht dies ganz anders aus. Es wird also noch vieler Anstrengungen aller Parteien bedürfen, die Nation wieder zusammenzuführen. Eine klare neue politische Kontur lässt sich noch längst nicht erkennen.

Aber immerhin: Die Bayernwahl hat gezeigt, was sich bewegen kann  in einer vitalen Demokratie mit hoher Wahlbeteiligung. Die Zeit der einschläfernden Großen Koalition neigt sich dem Ende zu, Gott sei Dank. Selbst wenn sie die Legislaturperiode bis 2021 parlamentarisch übersteht: Im Geist und in der Sache hat sie sich längst völlig überlebt, nach wenigen Monaten. Das ist die einzig eindeutige Botschaft der Bayern-Wahl.