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Kommunale Identität
Opfer der Gebietsreform

Ein aktuelles Gutachten der Friedrich-Naumann-Stiftung zeigt, dass die Gebietsreform gravierende Folgen hat.
Paqué
Karl-Heinz Paqué © Photothek / Thomas Imo

Dieser Artikel wurde am Sonntag, 21. Juli 2019, in der Mittelbayerischen veröffentlicht und ist online hier zu finden.

Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Arbeitsplatz sei lediglich einen zehnminütigen Spaziergang von Ihrem Wohnsitz entfernt. Ihre Kinder erreichen die Schule bequem zu Fuß und den Bürgermeister Ihrer Gemeinde duzen Sie schon seit Jahren. Nur kurze Zeit später jedoch benötigen Sie eine einstündige Autofahrt, um zu Ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Ihre Kinder müssen auf dem Weg zur Schule in drei verschiedene Busse umsteigen und der Bürgermeister ist bereits in eine andere Stadt versetzt worden. Was ist geschehen? Höchstwahrscheinlich wurden Sie Opfer einer jener großflächigen Gebietsreformen, die Gemeinden neu ordnen sollen und dafür auf Zwangsfusionen zurückgreifen – mit gravierenden Folgen, wie ein aktuelles Gutachten der Friedrich-Naumann-Stiftung zeigt.

Die Forscher fanden heraus, dass die emotionale Verbundenheit der Bürger mit der örtlichen Gemeinde – auch kommunale Identität genannt – den gesellschaftlichen Zusammenhalt in bisher ungeahntem Maße stärkt. Bürger, die sich ihrem Wohnort verbunden fühlen, sind aufgeschlossener gegenüber Diversität, engagieren sich öfter im Ehrenamt vor Ort und sind stärkere Befürworter der Demokratie. Gebietsreformen, wie sie insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern in großer Zahl durchgeführt wurden, schaden der kommunalen Identität dagegen nachhaltig – und bieten somit auch eine Erklärung für den Aufstieg der AfD im Osten der Republik: Wirkt eine stark ausgeprägte kommunale Identität präventiv gegen die Ammenmärchen rechter Scharfmacher, führt ihre Schwächung zum genauen Gegenteil. Sie bereitet den politischen Nährboden für die Populisten.

Ein englisches Sprichwort besagt: Die Menschen, nicht die Häuser, machen die Stadt. In diesem Sinne muss die Politik das Bedürfnis der Bürger nach kommunaler Identifikation wieder stärker ins Zentrum der politischen Agenda rücken. Und neue Formen demokratischer Teilhabe wie digitale Ehrenamtsbörsen haben das Potenzial, die kommunale Identität zu stärken, wenn sie direkte Begegnungen vor Ort fördern. Statt Zwangsfusionen zu beauftragen muss die individuelle Verantwortung der Kommunen gestärkt und so dem Populismus der Wind aus den Segeln genommen werden.

 

Karl-Heinz Paqué ist Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.