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Wir sind zu schnell bereit, unsere Freiheit zu opfern

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kommentiert die Einschränkung der Bürgerrechte in der Corona-Krise
Eine Frau wird vor dem Betreten des Supermarktes auf Fieber kontrolliert.
Eine Frau wird vor dem Betreten des Supermarktes auf Fieber kontrolliert. © picture alliance / Photoshot

In der aktuellen Krise sind staatliche Einschränkungen nötig. Aber sie müssen eine Ausnahme bleiben, verhältnismäßig sein und schnellstmöglich auslaufen, schreibt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in einem Gastbeitrag für die Welt.

Gesetze sind die Grundlage eines jeden Rechtsstaats. Sie ordnen unser Zusammenleben. Sie sichern unsere Freiheit. Sie legen dem Staat Fesseln an. Gesetze sind das juristische Fundament unserer Demokratie. Soll ein neues Gesetz verabschiedet werden, wird unter Juristen häufig erbittert gestritten und gerungen, seltener auch in der breiten Bevölkerung. Es gibt Ausnahmen: Paragraf 218 im Strafgesetzbuch, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, führt noch heute zu gesellschaftlichen Kontroversen. Doch kein Gesetz hat in der Geschichte der Bundesrepublik zu vergleichbar großen Unruhen unter Juristen, Politikern und in der Bevölkerung geführt wie die Notstandsgesetze aus dem Jahr 1968.

Unter dem Motto „Keine NS-Gesetze“ riefen Gewerkschaften, Studentenbewegungen und die FDP zu einem umfassenden Protest gegen die neue Notstandsverfassung auf, die einen handlungsfähigen Staat in Krisensituationen gewährleisten soll. Die Gesetze ermöglichen es der Regierung, im Katastrophenfall Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis oder die Freizügigkeit einzuschränken.

Der Protest dagegen war auch deshalb so intensiv, weil der historische Stachel tief im kollektiven Bewusstsein der Deutschen saß: Hitler hatte die junge Demokratie der Weimarer Republik mithilfe zahlreicher Notverordnungen faktisch außer Kraft gesetzt. Die Notstandsgesetze, so war die Befürchtung, seien nur eine Neuauflage dieser demokratiezersetzenden Paragrafen. Dazu sollte mit der Einführung des Widerstandsrechts in Artikel 20 des Grundgesetzes ein Gegengewicht geschaffen werden. Die Angst vor den Notstandsgesetzen konnte das nicht lindern.

Maßnahmen geben Anlass zur Sorge

Trotz aller Proteste und Initiativen wurden die neuen Gesetze mit großer Mehrheit in der damals wie heute regierenden großen Koalition verabschiedet. Die Notstandsverfassung musste nie eingesetzt werden: Seit 1949 hat die Bundesrepublik keinen Krieg im eigenen Land, keine gewaltsamen Aufstände und keine Naturkatastrophe erlebt, die eine Anwendung legitimiert hätten. Und so legte sich die Sorge vor dem Missbrauch der gefährlichen Gesetze, die nach und nach in Vergessenheit gerieten. Dann kam das Virus.

Dass sich die Bürger in der dunkelsten Stunde nach dem verheißungsvollen Licht des starken Staates sehnen und darin den Beschützer in der Not suchen, ist nachvollziehbar. Im Zuge des sich dramatisch ausbreitenden Coronavirus ist dies nicht anders: Politiker, die schnell und entschlossen handeln, werden hochgelobt. Politiker, die abwägen und zögern, werden kritisiert. Spielen die Bedenkenträger nicht mit dem Leben ihrer Mitbürger? Rechtfertigt die rasche Verbreitung des Virus nicht drastische Maßnahmen? Muss die Bewegungsfreiheit der Bürger nicht eingeschränkt und direkte Kontaktaufnahme unterbunden werden?

An Instrumentarien zur Beschränkung der allgemeinen und individuellen Mobilität mangelt es den Entscheidungsträgern nicht: Die Katastrophenschutzgesetze der Länder und das Infektionsschutzgesetz werden bereits angewendet. Versammlungen mit mehr als zwei Personen sind verboten, einige Bundesländer haben umfassende Ausgangsbeschränkungen verhängt. Jens Spahn entmachtet im Eilverfahren die Länder und bündelt immer mehr Kompetenzen beim Bundesministerium für Gesundheit – dem er vorsteht. Aus medizinischer Sicht mögen all diese Maßnahmen notwendig sein, aus demokratischer Sicht geben sie Anlass zur Sorge. Und über alldem schwebt drohend die Anwendung der Notstandsgesetze als Ultima Ratio.

Nun sind wir heute von den politischen Zuständen der Weimarer Republik weit entfernt. Und dass sich eine Kanzlerin Angela Merkel mittels Notstandsgesetzen zu einer Autokratin aufschwingt, ist ausgeschlossen. Eine kritische Analyse staatlichen Handelns ist jedoch gerade in der Krise eine Notwendigkeit, ja die moralische Pflicht eines jeden mündigen Bürgers. Davon jedoch scheinen sich Teile der Bevölkerung bereits gelöst zu haben. Ministerpräsidenten, die noch keine Ausgangssperren verhängt haben, werden aufgefordert, genau dies zu tun. Der Ruf nach immer mehr Einschränkungen der individuellen Freiheit ist wohl einmalig in der jüngeren Geschichte dieses Landes. Wie so oft zeigt sich: Angst essen Freiheit auf.

Wenn Bürger fordern, die Notstandsgesetze als ultimativen Akt staatlicher Gewaltausübung in der Corona-Krise anzuwenden, zeigt das, wie locker die Fesseln des Staates heute sitzen. Wenn darüber diskutiert wird, ob man die Telefone der Bürger überwachen sollte, um die Einhaltung von Ausgangssperren zu kontrollieren, zeigt das, wie schnell wir bereit sind, unsere Freiheit auf dem Altar der Sicherheit zu opfern. Dass diese Maßnahmen juristisch fragwürdig sind, gerät dabei schnell in Vergessenheit.

Keine moralisch eindeutige Antwort

Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, so heißt es in einem derzeit viel zitierten deutschen Sprichwort. Es stellt sich allein die Frage, wie lange eine Situation „außergewöhnlich“ ist und sein darf. Die außergewöhnlichen Maßnahmen, die Politiker heute treffen, zielen darauf ab, dass sie eine Verbesserung der Situation herbeiführen. Beim Coronavirus heißt das konkret, dass sie die Verbreitung des Virus verlangsamen sollen. Doch was geschieht, wenn das nicht gelingt? Wenn im Gegenteil die Infektionszahlen weiter rapide ansteigen? Wenn mangels ausreichender Tests gar nicht festgestellt werden kann, wie hoch die Zahl der Infizierten tatsächlich ist? Ist die Situation dann noch außergewöhnlicher, was wiederum noch außergewöhnlichere Maßnahmen rechtfertigt?

Eine moralisch eindeutige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Als Leitlinie dient der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als bindendes rechtsstaatliches Prinzip jeder hoheitlichen Gewaltausübung. Demnach ist eine Maßnahme dann verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt, geeignet, erforderlich und angemessen ist. Sollten sich die Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise verschärfen, werden Gerichte entscheiden müssen, ob der Staat härter als erforderlich durchgreift und in seine Schranken gewiesen werden muss.

Krisen führen regelmäßig zu umfassenden und oft notwendigen Einschränkungen der individuellen Freiheit. Und in besonderen Krisen sind besondere Maßnahmen unumgänglich. Die Ausbreitung des Coronavirus ist eine solche Krise, in der sich der Staat zum obersten Krisenmanager aufschwingt, während Demokratie und Freiheitsrechte leiden. Doch gilt auch in Krisensituationen wie dieser die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung, mit den Grundrechten als rechtsstaatlichem Fundament. Die Eingriffe in die individuelle Freiheit der Bürger müssen eine Ausnahme bleiben, verhältnismäßig sein und schnellstmöglich auslaufen. Denn auch in der Krise ist nicht alles erlaubt.

 

Dieser Artikel erschien am 25. März in der Welt und ist hier zu finden.

Zum Interview von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit Telepolis über die Beschneidung der Grundrechte aufgrund der Coronakrise.