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Tschechien: Gericht weist Regierung in die Schranken

Richter erklären Einschränkungsmaßnahmen als unrechtmäßig
Karlsbrücke mit Passanten
Nach der Lockerung staatlicher Corona-Beschränkungen spazieren wieder viele Menschen auf der Karlsbrücke in Prag. © picture alliance/Ondrej Deml/CTK/dpa

Mit der Einführung eines Ausreiseverbots für die eigenen Bürger gehörten bislang die tschechischen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie zu den schärfsten in Europa. Vorletzte Woche hob das Prager Stadtgericht vier Maßnahmen des tschechischen Gesundheitsministeriums auf, die die Freizügigkeit der Bürger und den Einzelhandel beschränkten. Etliche Juristen meinen, dieses Urteil erhöhe die Chancen von Geschäftsleuten und Unternehmern, Schadensersatz vom Staat zu verlangen. Manche Rechtsexperten betonen auch, dass die tschechische Regierung die Notwendigkeit für die wesentlichen Einschränkungen der Grundrechte und Grundfreiheiten ausführlicher begründen müsse.

Am Donnerstag vorletzte Woche erklärten die Richter mehrere Maßnahmen bezüglich der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Schließung der meisten Geschäfte und Dienstleistungen als unrechtmäßig, da diese Restriktionen nur auf den vom Gesundheitsministerium erlassenen außerordentlichen Maßnahmen beruhten und nicht von der Regierung unter den Bedingungen des Krisengesetzes erklärt wurden. Das Gericht gab damit der Klage des Gesundheitsrechtsexperten Ondřej Dostál statt, der die Regelungen als willkürlich, chaotisch und unverständlich bezeichnete.

In seiner Pressemitteilung erklärte das Stadtgericht, dass es nicht die Angemessenheit, sondern die rechtliche Form der Maßnahmen beurteilt hätte. Die Regierung bekam eine Frist von vier Tagen, um die Regelungen in einer gesetzeskonformen Weise, d.h. als Krisenmaßnahmen, zu beschließen. Dies tat sie noch am Donnerstagsabend vorletzte Woche.

Der Vorsitzende des Gerichtssenats Štěpán Výborný betonte, dass die Behörden auch in der gegenwärtigen außerordentlichen Situation die Regeln einhalten müssten, um die Rechtsstaatlichkeit so weit wie möglich zu bewahren: „In einer Situation, in der der Ausnahmezustand erklärt wird, darf nur die Regierung die Grundrechte und -freiheiten in einem so massiven Ausmaß einschränken, und zwar durch einen aufgrund des Krisengesetzes erlassenen Beschluss.“ Ihm zufolge darf aber eine solche Befugnis nicht einem einzelnen Ministerium zur Verfügung stehen.

Umstrittene Entschädigungsansprüche

Der Jurist und Gesundheitsrechtsexperte Dostál hatte die Klage eingereicht, nachdem die Regierung ihre ursprünglich aufgrund der Notstandsdekrete beschlossenen Beschränkungen aufhob, worauf anschließend das Gesundheitsministerium sie umgehend wieder als außerordentliche Maßnahmen aufgrund des Gesetzes zur öffentlichen Gesundheit neu erließ. Durch Übertragung der Maßnahmen auf das Ministerium verloren Geschäftsleute, deren unternehmerische Tätigkeit durch die Restriktionen hart getroffen wurde, die Rechtsgrundlage für Entschädigungsforderungen gegen die Regierung. Ein Anspruch auf Entschädigung entsteht nämlich nur im Falle einer von der Regierung nach dem Krisengesetz erlassenen Beschränkung. „Es war eine juristische Spitzfindigkeit, damit die Regierung von der Zahlung des Schadenersatzes entpflichtet würde,“ vermutet Dostál.

Als der Gesundheitsminister Adam Vojtěch während der Pressekonferenz am Donnerstagsabend letzte Woche gefragt wurde, warum die Regierung die Erklärung der restriktiven Maßnahmen an das Gesundheitsministerium delegierte, antwortete er, dass das Gesundheitsministerium auch andere außerordentliche Maßnahmen erlassen hätte, die immer noch gültig blieben und die noch früher als der Ausnahmezustand in Kraft gesetzt wurden wären. „In einer solchen Situation war es uns nicht bewusst, dass wir nicht gemäß des Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vorgehen konnten“, sagte Vojtěch und fügte hinzu, dass der Fall noch vom Obersten Verwaltungsgericht beurteilt werden müsse.

Während der Pressekonferenz kündigte der Gesundheitsminister überraschendweise auch eine wesentlich schnellere Auflockerung der Maßnahmen gegen die Corona-Krise an. Dies begründete er mit der guten Entwicklung der epidemiologischen Lage in Tschechien. Neben der Aufhebung des Verbots der Bewegungsfreiheit wurden auch Auslandsreisen wieder genehmigt. Bei der Rückkehr nach Tschechien muss man sich jedoch mit einem negativen Coronavirus-Test ausweisen oder für zwei Wochen in Quarantäne gehen. Ausländer können in begründeten Fällen und unter bestimmten Bedingungen wieder einreisen. Menschen dürfen sich in Gruppen bis zu zehn Personen im öffentlichen Raum bewegen. Große Geschäfte, Restaurants, Hotels, Theater und Zoos dürfen im Laufe dieses Monats, also früher als gedacht, wieder öffnen. Ab Ende April wurden auch die Hochschulen im begrenzten Umfang geöffnet.

Einschränkungen der Grundfreiheiten müssen ausführlich begründet werden

Laut dem Experten für Verfassungsrecht, Jan Wintr von der Karlsuniversität Prag, ergibt sich aus der Gerichtsentscheidung unter anderem auch, dass die Regierung die Notwendigkeit für die restriktiven Maßnahmen, die die Grundrechte und -freiheiten wesentlich einschränken, ausführlicher erläutern müsse. „In einem Rechtstaat ist dies zu rechtfertigen,“ sagte er in einem Interview.

Auch ein anderer Verfassungsrechtsexperte der Karlsuniversität, Jan Kysela, glaubt, dass die Regierung ihre Schritte sorgfältig begründen müsse, um klar zu machen, dass diese nicht auf Zufall, sondern auf einer sorgfältigen Analyse beruhen, die die Auswirkungen der restriktiven Regelungen auf die bürgerlichen Grundrechte berücksichtige.

Außerdem neigen die beiden Experten zu der Meinung, dass es in der tschechischen Verfassungsordnung eher keine Rechtsgrundlage für die Schließung der Grenzen für die eigenen Bürger gebe. In einem Land, wo die Grenzen während der kommunistischen Zeiten für 40 Jahre undurchlässig waren, ist dies ein besonders heikles Thema. Über Klagen wegen des Ausreiseverbots werden die tschechischen Gerichte jedoch noch entscheiden. Eine Gruppe von Senatoren, die diesbezüglich eine Verfassungsbeschwerde einreichen wollte, stellte nach der Wiedereröffnung der Grenzen die Vorbereitung des Vorschlags ein.

Verlängerung des Notstands

Die Entscheidung des Stadtgerichts beeinflusste auch die Diskussion bezüglich der Verlängerung des Notstands in Tschechien. Der Premierminister Andrej Babiš war ursprünglich ebenso wie die Opposition der Meinung, dass es nach dem 30. April nicht mehr notwendig sei, den Notstand aufrechtzuerhalten.

Nachdem das Urteil des Stadtgerichts vorletzte Woche angekündigt wurde, beantragte jedoch die Regierung im Parlament, den Notstand bis zum 25. Mai auszudehnen, da die aufgrund des Krisengesetzes beschlossenen Maßnahmen nur im Notstand gültig bleiben können. Der Notstand wäre weiter erforderlich, damit die Handels- und Dienstleistungsbeschränkungen schrittweise im Laufe des Mais gelockert werden könnten.

Am Dienstag letzter Woche verabschiedete das Abgeordnetenhaus zunächst einen Kompromissvorschlag - die Notstandsausdehnung bis zum 17. Mai. Premierminister Babiš zufolge will die Regierung nächste Woche eine Änderung des Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vorlegen, um die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus doch bis zum 25. Mai zu beibehalten.

Tschechien ist ein Rechtsstaat

Bisher hat Tschechien die Epidemie im internationalen Vergleich sehr gut gemeistert, wozu die Regierung ohne Zweifel ihren Beitrag geleistet hat. Die Gerichtsentscheidung erinnert – ebenso wie die Parlamentsentscheidungen zur zeitlichen Begrenzung des Notstandes – jedoch daran, dass man auch in Krisenzeiten die Regeln des Rechtsstaats einhalten muss und dass die Maßnahmen, die das gesamte Land betreffen, parlamentarischer Kontrolle unterstehen müssen. Außerdem zeigt das Urteil, dass die liberal-demokratischen Institutionen, die als Grundlage zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit dienen, in Tschechien gut funktionieren. Das unterscheidet das Land von seinen mitteleuropäischen Nachbarn Polen und Ungarn.

 

Natálie Maráková ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.