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Indisches Corona-Rettungspaket: Autark aus der Krise?

Wanderarbeiter
Wanderarbeiter und Familien kehren in ihre Heimatstädte zurück, als die indische Regierung eine landesweite Ausgangssperre verhängt hat. © picture alliance/Pacific Press Agency

20 lakh crore indische Rupien! Wer sich mit dem indischen Zahlensystem auskennt, weiß, dass das viel Geld ist, sehr viel Geld. In Indien wird nicht in Millionen und Milliarden gezählt, sondern in lakh (100.000) und crore (10.000.000). 20 lakh crore sind 20 Billionen. Das ist die Größe des Rettungspaktes, dass der indische Premier Narendra Modi in einer Fernsehansprache vergangene Woche Dienstag ankündigte. Umgerechnet sind das fast 250 Mrd. Euro bzw. 10% des indischen Bruttoinlandsprodukts. Indien spielt damit in der Liga reicher Industrieländer. Kaum ein anderes Schwellenland – und schon gar nicht der ewige Rivale China – greift der Wirtschaft in der Corona-Krise so beherzt unter die Arme.

Worüber der Premier am Dienstag nicht sprach, waren Details zum Rettungspaket, nicht untypisch für das Marketing-Genie Modi: groß in der Ankündigung, vage im Detail. Eben jene Details lieferte von Mittwoch bis Sonntag in einer Serie von fünf Pressekonferenzen Finanzministerin Nirmala Sitharaman. Dass es so viele Pressekonferenzen braucht lag nicht nur an der hohen Zahl unterschiedlicher Maßnahmen. Die Regierung schien die Gelegenheit auch nutzen zu wollen, strukturelle Reformen durchzusetzen. Selbst Profis waren zeitweise überfordert von der Zahl der Ankündigungen. An den Kapitalmärkten schwankte die Stimmung zwischen Entzücken und Verzweiflung. Nachdem der Leitindex SENSEX am Mittwoch um knapp 2% zulegte, gab er am Donnerstag um 2,6% nach.

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Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) sollen durch staatlich verbürgte Kredite mit bis zu drei Billionen Rupien unterstützt werden; die schon vor der Krise stark gebeutelten Stromversorger und Non-Banking Financial Corporations (NBFC) werden mit 900 Milliarden bzw. 300 Mrd. Rupien bedacht; das Budget für ein bereits existierendes Arbeitsbeschaffungsprogramm für den ländlichen Raum wird um 400 Milliarden Rupien aufgestockt. Und so ging es die ganze Woche weiter, Gesundheitssystem, Landwirte, Arbeitsmigranten, Bildungseinrichtungen, Rentner, für jeden war etwas dabei.

Experten bezweifeln, dass der Stimulus am Ende tatsächlich bei 20 Billionen Rupien liegen wird. Indische Banken ächzten bereits vor der Krise unter der Last von faulen Krediten und waren entsprechend zurückhaltend bei der Kreditvergabe. Es ist keineswegs sicher, dass die staatlichen Garantien ausreichen, um das Kreditgeschäft anzukurbeln.

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Neben den schwindelerregenden Summen, ließ das Leitbild des Rettungspaketes aufhorchen: Atmanirbhar Bharat – Autarkes Indien. Durch die Kombination von (begrüßenswerter) Deregulierung in zahlreichen Sektoren und (nicht begrüßenswerter) protektionistischer Maßnahmen soll Indiens Wirtschaft unabhängiger vom globalen Handel werden. Im Kohlebergbau werden private Investoren zugelassen um die heimische Kohleproduktion zu stärken – und so unabhängig von Kohleimporten zu werden. Ausländische Investoren dürfen künftig bis zu 74% der Anteile an Rüstungsunternehmen besitzen (bisher 49%), gleichzeitig dürfen zahlreiche Rüstungsgüter (die Liste wird noch vom Verteidigungsministerium erstellt) nur noch von in Indien produzierenden Unternehmen beschafft werden. Öffentliche Aufträge bis zwei Milliarden Rupien dürfen künftig nicht mehr international ausgeschrieben werden.

Das Rettungspaket macht deutlich, dass die indische Administration noch immer zutiefst den Autarkiefantasien Mahatma Gandhis und Jawaharlal Nehrus verhaftet ist. Während der Unabhängigkeitsbewegung war es Gandhi, der seine Landsleute anhielt, Waren aus britischer Fertigung zu boykottieren. Eine besondere symbolische Bedeutung kam dabei Textilien zu. Zusammen mit anderen Unabhängigkeitskämpfern organisierte Gandhi die Verbrennung britischer Textilien. Gandhi selber trug nur Khadi, ein von Hand gewebter heimischer Stoff aus Baumwolle. Auf vielen Bildern sieht man ihn an einem Spinnrad sitzen und selber Garn spinnen. Auf ersten Entwürfen der indischen Flagge prangte im Zentrum nicht, wie heute, das Ashoka-Rad, sondern ein Spinnrad. Bis heute wird Khadi von der indischen Regierung subventioniert. Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien schottete Indien sich mit hohen Zöllen und einem rigiden Lizenzsystem vom Weltmarkt ab. Die indische Wirtschaft blieb für Jahrzehnte hinter ihrem Wachstumspotential zurück. Eine Wachstumsrate von um die 3% im Jahr wurde vielfach als Hindu Rate of Growth bezeichnet. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet Indien in wirtschaftliche Schwierigkeiten und sah sich gezwungen ab Anfang der 1990er Jahre seine Wirtschaft zu öffnen. Es folgten mehr als zwei Jahrzehnte rasanten wirtschaftlichen Wachstums, wodurch sich Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreien konnten.

Auch wenn der Verstand indischen Politikern und Bürokraten sagt, dass freier Handel Wohlstand schafft, blieben die meisten im Herzen doch Protektionisten. Unabhängig davon welche Partei in Delhi an der Macht ist, kommen die Verhandlungen vieler Freihandelsabkommen deshalb nicht von der Stelle. Mit der Europäischen Union wird seit 2007 verhandelt und auch dem Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) trat Indien nach langen Verhandlungen letztendlich nicht bei. Es ist zu früh, um zu sagen, ob Atmanirbhar Bharat eine grundsätzliche Abkehr Indiens vom freien Handel bedeutet. Allerdings hat die Corona-Krise zu einem spürbaren Wandel in der Rhetorik geführt.