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Interview
Lockdown 2: „Eine gemeinsame Teststrategie in Europa wäre sinnvoll"

Ein Schild mit einem Piktogramm und dem Aufdruck "Mund und Nase bedecken" weist auf das Tragen von Schutzmasken hin.
© picture alliance/dpa | Federico Gambarini

Andrew Ullmann ist Mitglied der FDP-Bundestagsfraktion und Professor für Infektiologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Als Politiker und Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie, kritisiert er die Pandemie-Politik der Bundesregierung und fordert eine gemeinsame europäische Strategie.

Herr Ullmann, letzte Woche ist das neue Infektionsschutzgesetz in Kraft getreten. Wie bewerten Sie das Gesetz aus medizinischer Sicht?

Eine Analyse des Gesetzes fällt in zwei Teile. Zunächst ist dieses Gesetz ein Omnibus-Gesetz mit vielen unterschiedlichen Vorhaben. Es enthält einige Vorhaben, die medizinisch und politisch Sinn ergeben und die wir als Freie Demokraten begrüßen bzw. bereits unlängst gefordert haben. Hier wären als Beispiele die digitalen Meldeanbindung der Labore, FFP-2 Masken als Kassenleistung für vulnerable Gruppen und die Nutzung von tier- und zahnärztlichen Laboren für Corona-Tests zu nennen.

Doch das Gesetz hat auch eine andere Seite und zwar wurde der §28a im Infektionsschutzgesetz eingefügt. Dieser soll versuchen die Pandemiebekämpfungsmaßnahmen der Länder rechtssicher zu machen. Leider verfehlt er dieses Ziel komplett. Viele Maßnahmen sind weder hinreichend spezifiziert noch in Leitplanken gepackt. Zudem wird ausschließlich an der Inzidenzzahl von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner festgehalten. Diese Zahl ist weder wissenschaftlich noch medizinisch begründbar. Die einzige Erklärung vonseiten der Regierung lautet: ab einer höheren Inzidenzzahl findet keine ausreichende Kontaktnachverfolgung mehr statt. Daher ist durch diese Ungenauigkeiten zu befürchten, dass der Paragraf vor den Gerichten scheitern wird.

Und aus politischer Perspektive?

Zunächst muss man auf den Gesetzgebungsprozess eingehen, der bei den demokratischen Oppositionsparteien für Unverständnis gesorgt hat. Formal wurden die parlamentarischen Verfahren zwar eingehalten, doch eine ordentliche parlamentarische Beratung fand in der notwendigen Tiefe nicht statt. Ich kann mir z. B. nicht erklären, warum ein Eilverfahren notwendig war. Es ist doch besser, wenn wir die Rechtssicherheit der Maßnahmen ausführlich diskutieren und dann einen guten Vorschlag auf den Tisch bringen, als wenn dieser über das Knie gebrochen ist. In der öffentlichen Anhörung wurden Tage zuvor erhebliche Bedenken zur Rechtssicherheit geäußert. Auch aus politischer Perspektive muss ich bei meiner Kritik zum §28a bleiben. Mit dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz, legt die Bundesregierung nicht genau fest, was die Regierung in einer bestimmten Pandemie-Situation tun kann oder darf. Das war jedoch ihr erklärtes Ziel. So wird weder rechtliche Klarheit geschaffen noch staatliche Berechenbarkeit. Es gab einen Änderungsantrag der FDP-Fraktion, der diese Mängel beseitigt hätte. Er wurde von der Koalition leider abgelehnt

Die Fraktionen der Koalition haben dann in der Ausschussarbeit unser Verständnis vollkommen überreizt. Eine Stunde vor der Gesundheitsausschusssitzung am Montag wurden weitreichende Änderungsanträge komplett neu gefasst. Wir sprechen dabei von Anträgen, die u.a. Kosten von ca. 2,5 Mrd. € pro 100 Tage mit sich bringen. Es blieb uns keine Zeit, diese mehrseitigen Vorschläge ordentlich zu prüfen.

Halten Sie die bisher getroffenen Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens für ausreichend und zielgerichtet?

Zweifelsohne müssen Kontakte reduziert werden. Nur so senken wir auch nachhaltig das Infektionsgeschehen. Als Wissenschaftler bin ich jedoch eher durch Fakten und logischen Handlungen zu überzeugen. Dabei ist die Einhaltung der AHA-Regeln das Wichtigste. Doch das Handeln der Bundesregierung wirkt sehr häufig willkürlich, wenig zielgerichtet, und Entscheidungen scheinen aus dem Bauch heraus getroffen zu sein. Die Kommunikationsstrategie ist auch nicht besser, sie verbreitet absichtlich eine düstere Stimmung. So kann Infektionsprävention nicht nachhaltig funktionieren. Der Gesellschaft muss während einer Pandemiekrise realistische Perspektiven aufzeigt werden. Maßnahmen müssen verhältnismäßig, nachvollziehbar, logisch und parlamentarisch legitimiert sein. Nur wenn die gesamte Gesellschaft mitmacht und nicht eine einfache Mehrheit, dann werden wir das Pandemiegeschehen kontrollieren können.

Wenn sinnvolle Hygienekonzepte in Restaurants umgesetzt werden und funktionieren ist das Ansteckungsrisiko gering.  Dann soll ein Restaurant auch öffnen dürfen. Das schafft Akzeptanz. Bei Restaurants jedoch, die nachweislich die Hygienevorschriften vernachlässigen, hätte ich hingegen kein Erbarmen. Diese sollten schwere Sanktionen erfahren.

Gibt es Best-Practice Beispiele aus dem internationalen Raum, an denen wir uns in Deutschland bei der Bekämpfung der Pandemie orientieren könnten?

Es ist immer sehr schwer, den Blick ins Ausland zu werfen. Bei einer Pandemiebekämpfung greifen ganz viele unterschiedliche Faktoren ineinander. Klar ist, dass nur eine Kombination verschiedener Maßnahmen das Risiko der Infektionsübertragung minimiert. Einzelne differenzierte Maßnahmen in anderen Ländern sind gut, andere schlecht. Erfolgreiche Beispiele aus dem asiatischen Raum sind spannend. Taiwan beispielsweise ist global betrachtet eines der am besten auf eine Pandemie vorbereitesten Länder. Ihre Erfolge ausschließlich auf die Insellage zu reduzieren, springt zu kurz. Großbritannien ist ebenfalls eine Insel und dort sieht es nicht gut aus. Die konsequente Einhaltung von Isolierungs- und Quarantänemaßnahmen ist sicherlich ein Faktor des Erfolgs. Auch die konsequente Verfolgung von Infektionsketten mittels digitaler Apps hilft früh die Ketten klein zu halten. Aufgrund unserer Datenschutzvorgaben ist es nicht so einfach die Möglichkeiten der konsequente Überwachung einszueins auf Deutschland zu übertragen. In Deutschland sind wir verpflichtet ein Gleichgewicht zwischen Datenschutzbedenken und Gesellschaftsschutz zu finden. Denn die Überwachung von Infizierten und in Quaratäne befindliche Personen in Taiwan scheint 100% zu sein.

Hat sich die Bundesregierung ausreichend auf den bereits lange im Voraus angekündigten harten Corona-Winter vorbereitet?

Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten: NEIN. Offensichtlich sind im Sommer Überstunden im BMG abgebaut worden. Bereits im Mai gab es eine Forderung von mir, dass Gesundheitswesen, Wirtschaft und Schulsysteme einem Stresstest unterzogen werden sollten. Anhand von verschiedenen epidemiologischen Szenarien hätten wir die finanziellen, personellen und materiellen Ressourcen überprüfen können. So hätten alle Systeme widerstandsfähiger gemacht werden können. Stattdessen muss die Bundesregierung im gefühlten Wochentakt neue Verordnungsermächtigungen im Eilverfahren erlassen, da sie sich nicht ausreichend auf die zweite Welle vorbereitet hat.

Haben wir einen Rückfallplan für den Fall, dass die Kliniken in Deutschland überlastet sind?

Eine Überlastung der Kliniken gilt es zu vermeiden. Im März wurden Pläne geschmiedet, dass u.a. Rehabilitationskliniken in die akutstationäre Versorgung vorzeitig einspringen, um weitere Überlastungen zu verhindern. Schwerpunktmäßig werden schwere Fälle weiterhin in Krankenhäusern betreut. Andere Krankheiten, neben COVID-19, werden weiter existieren und daher bedarf es dringend der lokalen Koordination der stationären Versorgungsmöglichkeiten. Hier könnten Patienten nach Operationen zum Beispiel weiter in Rehakliniken betreut werden. Nur auf intensivmedizinische Betten mit oder ohne Beatmungsmöglichkeiten zu schauen, funktioniert zwar, wäre aber zu wenig.  

Ist die Debatte um den Infektionsschutz ausreichend kritisch?

Die Debatte zum Infektionsschutz muss kritisch geführt werden und das ist in einer Demokratie gut und richtig. Doch es gibt mehrere Möglichkeiten erfolgreich diese Pandemie zu bekämpfen. Leider wird man zu häufig nach geäußerte Kritik gegenüber der Regierung in derselben Gruppe wie Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker platziert. So besteht die Gefahr, dass Debatten nicht mehr differenziert geführt werden können. Es gibt nicht die eine richtige Lösung, um das Infektionsrisiko zu reduzieren. Deshalb muss die Debatte um den richtigen Weg weiterhin geführt werden, und nicht allein der Exekutive überlassen.   

Wie kann eine gemeinsame europäische Strategie gegen Corona aussehen?

Eine gemeinsame europäische Präventions-, Kommunikations- und Teststrategie ist längst überfällig. Alle europäischen Länder kämpfen gegen das gleiche Virus. Jedes Land trifft seine Entscheidungen dazu jedoch national bzw. regional. Um den grenzüberschreitenden Personenverkehr aufrecht zu erhalten, wären einheitliche Regularien und eine gemeinsame Teststrategie in Europa sinnvoll. Ungezielte Massentests, wie es sie im Sommer in Bayern gegeben hat, bringen kaum Mehrwert. Das Durcheinander von Verhaltensregeln bringt zudem auf Dauer wenig Akzeptanz in der Bevölkerung. Stattdessen hätte man diese Testressourcen gemeinsam mit anderen Staaten nutzen können, bspw. in Hotspots. Moderne Konzepte, neben der weiterhin gültigen AHA-LA-Regeln, wären die Einbindung alternativer Testverfahren, Luftfilteranlagen und die Weiterentwicklung von digitalen Konzepten im Unterricht und in der Pandemiebekämpfung. Durch gemeinsames Handeln könnte Europa eine führende Rolle auch bei einer zukünftigen Pandemie einnehmen.