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Interview
„Diese Leute werden Sie auffressen"

Karl-Heinz Paqué erklärt im Interview mit Spiegel Online den Drall der Ökonomen zum Populismus
AfD Parteitag
Alice Weidel auf dem Bundesparteitag der AfD. © picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Ökonomen haben die AfD gegründet und ihr den ersten Erfolg beschert, 2014 mit dem Einzug in das Europaparlament, lange vor Beginn der Flüchtlingsdebatte. Auch heute steht an der Spitze der AfD mit Jörg Meuthen ein habilitierter Ökonom. In der Corona-Pandemie wiederum hat sich der VWL-Professor Stefan Homburg zu einem Wortführer der »Querdenken«-Bewegung aufgeschwungen.

Roland Tichy, einflussreicher Wirtschaftsjournalist und lange Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, reitet mit seinem Webportal »Tichys Einblick« sehr erfolgreich auf der rechtspopulistischen Welle. Lässt sich das noch mit dem Abdriften Einzelner erklären – oder gibt es doch eine strukturelle Anfälligkeit einer Disziplin, vielleicht sogar des Liberalismus?

Karl-Heinz Paqué, 64, kennt das schwierige Spannungsverhältnis zwischen praktischer Politik und wissenschaftlicher Theorie: Er war für die FDP Finanzminister in Sachsen-Anhalt, und er ist Professor für Internationale Wirtschaft an der Universität Magdeburg. Paqué ist zudem Vorsitzender der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung. In einem Interview mit dem „Spiegel" erklärt er den Drall seiner Zunft zum Populismus.

Herr Paqué, haben die Volkswirtschaftslehre und der Liberalismus einen Rechtsdrall?

Nein! Aber die Idee, die sehr weit wegführen kann vom Staat, ist die Idee des Marktes. Wer leidenschaftlicher Marktwirtschaftler ist, der hat eine natürliche Skepsis gegenüber dem Staat. Der Staat steht da immer in der Pflicht. Er muss belegen, dass er für die eine oder andere Aufgabe tatsächlich nötig ist: Wie viele Steuern darf er erheben? Wofür darf er sie erheben? Diese Staatsskepsis ist – völlig zu Recht – ein Leitmotiv des Liberalismus. Das kann verführte Geister dazu bringen, den Staat systematisch ideologisch zu verteufeln. Das sieht man bei den amerikanischen Libertären. Trotzdem ist es falsch, dem Liberalismus eine Nähe zu rechtem Gedankengut nachzusagen.

»Ich habe damals zu Lucke gesagt: ›Diese Leute werden Sie auffressen‹. Er wollte das nicht wahrhaben.«

Karl-Heinz Paqué

Ist das nicht eine intellektuelle Spitzfindigkeit?

Gegenfrage: Was ist rechts? Rechts sind Faschismus und Nationalsozialismus. Beides hat mit Liberalismus nichts zu tun. Selbst bei einem Libertären ist die intellektuelle Schnittmenge mit den Rechten eigentlich gering. Die »Sünde« des Libertären ist, dass er im Herzen Anarchist ist. Er will, dass der Staat gar nichts tut. Der Staat im Faschismus und Nationalsozialismus hingegen hat eine starke Rolle. Beides waren und sind immer Bewegungen gegen die liberale Demokratie.

Machen Sie es sich mit der Verteidigung des Liberalismus da nicht zu leicht? In den USA haben viele Libertäre erst die populistische Tea-Party-Bewegung stark gemacht und dann den Trumpismus.

Wie gesagt: Die Libertären sind in gewisser Weise naive Theoretiker. Sie glauben, es ginge ohne das Gewaltmonopol des Staates. Sie haben das Prinzip des Ordoliberalismus nicht begriffen …

…in dem es der Staat ist, der den Rahmen setzt für Wettbewerb und freien Markt. Viele in der AfD führen sich heute aber so auf, als wären sie die wahren Erben von Ordoliberalen wie Ludwig Erhard.

In Deutschland liegt dies auch daran, dass es in der AfD viele verirrte Konservative gibt, die in CDU und CSU heute keine politische Heimat mehr sehen. Viele von denen sind eigentlich Marktskeptiker, die wollen lieber mehr Staat, lieber mehr Sicherheit. CDU und CSU haben diese Denkrichtung stark vernachlässigt. Deshalb schließen sich diese Menschen der AfD an.

Noch mal zurück zu den Wirtschaftswissenschaften: Wie erklären Sie sich denn den Drang vieler Ihrer Kollegen in die Politik, den wir in den vergangenen Jahren erlebt haben? Und warum landen so viele im Dunstkreis der AfD? Sie selbst sind ja auch überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft, aber seit Jahrzehnten unverbrüchlich Mitglied der FDP.

Ich denke, es gibt eine deformation professionelle, die das begünstigt. So etwas sehen Sie bei allen Disziplinen: Soziologen zum Beispiel sehen die Gesellschaft immer in großer Gefahr, sie haben ein eher pessimistisches Weltbild. Politikwissenschaftler sehen die Welt aus Perspektive von Machtmechanismen, was auch eher skeptisch macht. Ökonomen hingegen blicken eigentlich optimistisch auf die Welt, weil sie sich mit der Selbstregulierung durch Märkte beschäftigen. Dies verleitet allerdings zur Modellgläubigkeit. Eigentlich ist das ein Teil der Qualität unserer Disziplin: Unter allen Sozialwissenschaften haben wir die anspruchsvollsten Modelle; auch das Testen der Modelle mithilfe der Ökonometrie ist außerordentlich weit entwickelt. Mathematik und Statistik sind also auf der einen Seite das scharfe intellektuelle Messer der Ökonomie. Sie machen die Ökonomen stolz und manchmal auch ein bisschen arrogant. Man blickt dann allzu leichtfertig herab auf die Kolleginnen und Kollegen anderer Sozialwissenschaften, die – überspitzt formuliert – im Nebel herumstochern. Ökonomen sind dagegen sehr präzise in der Erfassung von Zusammenhängen, von Kausalitäten und Korrelationen.

Die Mathematisierung wird Ökonomen immer wieder vorgeworfen.

Die Stärke der Modelle verleitet dazu, sie zu ernst zu nehmen. Bernd Lucke hat einmal sinngemäß gesagt: Was in der Theorie richtig ist, das kann in der Praxis nicht falsch sein. Das ist ein unglaublicher Satz, fast schon totalitär. Wenn ich also etwas in der Theorie herausgefunden habe und es in der Theorie stimmt, dann muss ich es nach seiner Ansicht keinem Realitätstest mehr unterwerfen. Und wenn die Wirklichkeit das trotzdem nicht hergibt, dann ist die Wirklichkeit falsch und muss neu geknetet, also uminterpretiert werden. Ergebnis: Die Realität, wie sie geschieht, wird dann oft völlig heruntergespielt im Vergleich zur Theorie. Das ist eine Geisteshaltung, die unter Ökonomen durchaus verbreitet ist. Sie findet sich auch bei vielen, die aus der ordoliberalen Tradition kommen, die politisch in Deutschland sehr erfolgreich war. Wenn die Dinge nicht nach der traditionellen Theorie laufen, dann suchen viele nach einem bösen Buben. Das hat gelegentlich etwas Sektiererisches.

Paqué
Karl-Heinz Paqué © Photothek / Thomas Imo

Ein böser Bube wie die Europäische Zentralbank (EZB), die viele deutsche Ökonomen verantwortlich halten für eine vermeintliche »Enteignung« der Sparer durch niedrige Zinsen?

Viele sagen: Das darf doch nicht sein, dass der Zins negativ ist! Es ist aber so. Das liegt bei Weitem nicht nur an der EZB. Es handelt sich um einen langfristigen, sehr stabilen Trend. Die Zinsen sinken bereits seit den Achtzigerjahren, und damals hat noch niemand auch nur im Traum an eine Europäische Zentralbank denken können. Der wahre Grund für die niedrigen Zinsen ist die Veränderung der Kapitalknappheit in den vergangenen Jahrzehnten. Damit werden einige meiner Kollegen nicht fertig. Sie suchen nach einer einfachen Erklärung, dem bösen Buben eben, der die Welt so verändert hat, dass ihre Gesetze nicht mehr funktionieren. Das hat manchmal sogar den Hauch einer Verschwörungstheorie.

Anders formuliert: Haben Ökonomen besonders oft ein Problem damit, wenn sich die Welt um sie herum verändert?

Ja, das war schon zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanzigerjahre so, denn die passte nicht in die vorherrschende Modellwelt. Es durfte sie eigentlich nicht geben, aber es gab sie. Mit der Fixiertheit auf Modelle geht auch oft eine starke Regelgläubigkeit einher. Wenn sie ein Regelwerk entwickelt haben, ein System der Gesetzmäßigkeiten, dann müssen diese Regeln auch eingehalten werden. Das ist grundsätzlich richtig. Mir selbst ist das natürlich auch nicht fremd, ich bin ja auch ein Ordoliberaler. Dennoch weiß ich: Es gibt Situationen, in denen die alten Regeln über den Haufen geworfen werden müssen.

Fällt Ihnen ein Beispiel dafür aus der jüngeren Vergangenheit ein?

Als in der Finanzkrise die Regierungen die großen Banken gerettet haben. Mir war klar: Da könnte alles zusammenbrechen, es könnte ein run on banks einsetzen. Leute wie Bernd Lucke und andere dagegen haben nichts aus der Großen Depression, der Weltwirtschaftskrise gelernt. Es geht da übrigens nicht um Kleinigkeiten, die Krise 1930–32 hat in Deutschland Hitler an die Macht gebracht! Ein anderes Beispiel ist die grundsätzliche Frage nach der Aufgabe der Zentralbank …

…die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland sehr erfolgreich die Inflation bekämpft hat – ein Übel, vor dem viele Bürger noch heute Angst haben.

Daraus haben einige dann den Schluss gezogen, Notenbanken dürften immer nur für Preisstabilität verantwortlich sein, nicht aber für Kriseninterventionen wie während der Finanzkrise ab 2008. Ich habe das mit Kollegen oft diskutiert. Einen habe ich mal gefragt, was er tun würde, wenn verunsicherte Sparer die Bank stürmen, weil sie Angst bekommen, ihre Ersparnisse könnten entwertet werden. Er hat erwidert, so etwas komme in seiner Welt, in der zu normalen Zeiten die Regeln eingehalten würden, nicht vor, weil die Bank dann eben glaubwürdig sei.

Die Rettung der Banken, der Eurozone und von Griechenland bescherte der AfD den ersten großen Schub: Sie zog 2014 – die Fluchtkrise war noch gar nicht abzusehen – mit 7,1 Prozent ins Europaparlament ein. Zu den sieben Abgeordneten gehörten neben Lucke auch der Tübinger VWL-Professor Joachim Starbatty und Ex-BDI-Chef Henkel.

Dieser Erfolg war eine direkte Folge der Euro-Rettungspolitik: 2011 und 2012 hatte die EZB alle geldpolitischen Schleusen geöffnet. Dann kam diese Gruppe und hat argumentiert: Das darf es nicht geben, das ist gegen die Regeln.

Viele deutsche Ökonomen argumentierten damals, den Griechen fehlten die richtigen Anreize zu weitreichenden Reformen.

Es gibt in der VWL leider gelegentlich einen sklavischen Glauben an monetäre Anreize. Grundsätzlich stimmt es ja auch: Die Planwirtschaften des Ostblocks sind deshalb gescheitert, denn dort fehlten vor allem die Anreize der Marktsignale. Monetäre Anreize sind zu Recht fundamentale Konzepte der Ökonomie. Politische Prozesse sind aber viel komplexer: Wie ein Anreiz auf einen Menschen wirkt, lässt sich nicht eins zu eins auf Nationen und Staaten übertragen. Da spielt politisches Vertrauen eine Rolle, auch die öffentliche Symbolik der helfenden Hand.

Viele deutsche Ökonomen forderten, Griechenland sollte den Euro verlassen, die Drachme einführen, abwerten – und mit billigen Exporten seine Wirtschaft beleben.

Diese Idee war allein aus geopolitischer Sicht abenteuerlich. Griechenland ist nicht irgendein Land. Es liegt in der Ägäis, am Schnittpunkt der Interessensphären von EU, Türkei und Russland. Dieses Land einfach aus der Eurozone herauszukicken wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen. Es hätte die Geometrie der Macht im Südosten Europas fundamental verändert, und zwar zum Schlechteren.

Das mag sein, aber haben die Professoren nicht zumindest damit recht, dass Griechenland es wirtschaftlich leichter gehabt hätte ohne Euro?

Ich warne vor dem naiven Glauben, das Land wäre schon gesundet, wenn es einfach nur den Rezepten des IWF gefolgt wäre. Für einen Exportboom nach einer Abwertung braucht ein Land eben auch eine gesunde, starke industrielle Basis. Griechenland hätte auch wirtschaftlich sehr leicht ins Bodenlose fallen und zu einem zweiten Fall Argentinien werden können, mit grassierender Inflation und Währungsverfall.  

Der Griechenlandstreit hat die alte AfD zum Aufstieg gebracht, die Euro-Professoren. Haben die Ökonomen eine Mitschuld, dass rechtes Gedankengut in Teilen der Elite salonfähig geworden ist?

Das war jedenfalls nicht länger nur der Stammtisch. Damals haben westdeutsche Akademiker begonnen, sich dem rechtem Milieu gegenüber zu öffnen. Ich habe 2014 gemeinsam mit Herrn Lucke in Hannover bei einer Veranstaltung die Euro-Rettungspolitik diskutiert. Im Saal waren etwa 200 Leute, davon vielleicht 30 von der AfD. Lucke präsentierte seine Argumente sachlich, untermauert mit Schaubildern – fast wie in einer gediegenen Vorlesung. Aber diese 30 Räuberhäuptlinge in den Reihen haben gebrüllt und gejohlt. Ich habe damals zu Lucke gesagt: »Diese Leute werden Sie auffressen.« Er wollte das nicht wahrhaben.

»Wenn die Dinge nicht nach der traditionellen Theorie laufen, dann suchen viele nach einem bösen Buben. Das hat gelegentlich etwas Sektiererisches.«

Karl-Heinz Paqué

Sie sind selbst Minister in Sachsen-Anhalt gewesen. Hat es Sie überrascht, dass so viele Ihrer Kollegen auf einmal über die AfD in die Politik strebten?

Wenn man Einfluss haben will auf die Politik, muss man in die Politik gehen. Insofern war das Verhalten der Kollegen konsequent. Aber es war naiv. Denn das Problem ist: Man muss dann auch in verrauchten Hinterzimmern Kompromisse ausverhandeln, und zwar bei der AfD mit den vielen radikalen Rechtspopulisten der Partei. Wenn man wirklich im Gesetzbuch landen will, dann muss man auch raus aus seinem Modell. Sonst gehört man nicht dahin. Herr Lucke ist da ein gutes Beispiel: Er ist rein in die Politik, hat sein Modelldenken aber nie abgelegt. Er lieh damit dem Rechtspopulismus den Glanz der Reputation seines Faches.  Natürlich waren die Euro-Professoren selbst vom Wesen her keine Populisten. Sie wollten rationale Lösungen, aber das Ergebnis war ein Chaos. Mich erinnert das immer an »Biedermann und die Brandstifter« von Max Frisch. Die Biedermänner, von denen wir hier reden, sind alle hoch angesehen – aber sie verstehen nichts von den Gefahren, mit denen sie hantieren.

Was ist dran an dem Vorwurf, die VWL – früher mal »Nationalökonomie« genannt – ziehe einen bestimmten Menschenschlag an, weil es ja letztlich auch um einen mit wirtschaftlichen Mitteln ausgetragenen Verdrängungswettbewerb der Staaten gehe?

Nichts. Beim Bekenntnis zum Freihandel geht es ja nicht etwa um die Ausschaltung der Konkurrenz, um »rivalry of nations«, sondern um internationale Arbeitsteilung, von der alle Seiten profitieren. Das Gleiche gilt für Regionen innerhalb eines Landes. Marktwirtschaft ist eben offener Wettbewerb zugunsten der Konsumenten, nicht Sozialdarwinismus.

Und was ist mit Ausbildung an den Universitäten, der akademischen Sozialisation von Ökonomen?

Die VWL zieht Technokraten an, Leute, die gut in Mathematik und Modellen sind, teils mit einer Neigung, das zu verabsolutieren. Wer studiert VWL mit Erfolg? Das sind oft Leute, die ein Talent haben im stringenten mathematischen Formulieren. Üblicherweise sind es eben nicht die Leute, die in »verrauchten Hinterzimmern« Nächte durchverhandeln könnten, um zu politischen Kompromissen zu kommen. Das liegt ihnen nicht.

In diesem Jahr ist mit Stefan Homburg ein Ökonom in die Schlagzeilen gekommen, der der Bundesregierung einen diktatorischen Stil nach chinesischem Vorbild vorwirft und schon im Sommer behauptet hat, die Pandemie sei vorbei. Sein Fall wirkt auch deshalb etwas rätselhaft, weil er bis vor Kurzem noch selbst zu dem Establishment gehörte, das er jetzt so vehement verteufelt: Er saß im Beirat des Finanzministeriums, hat Christian Wulff beraten, Friedrich Merz und Angela Merkel.

Ich kenne ihn gut. Er war in den Neunzigerjahren an der Universität Magdeburg tätig. Er hat hier nach der Wende beim Aufbau unserer Fakultät hervorragende Arbeit geleistet. Er hat das glänzend gemacht.

In den Neunziger- und Nullerjahren gehörte er zu den prominentesten Volkswirten. Er saß auch in der »Reformkommission Soziale Marktwirtschaft« der Bertelsmann Stiftung, die um die Jahrtausendwende teils radikal marktwirtschaftlich anmutende Reformen für den deutschen Sozialstaat diskutierte. Diese Konzepte bestimmten damals die Schlagzeilen. Es wurde aber nie etwas daraus.

Ich staune immer wieder, wie gut sich modellverliebte Leute damit einrichten, öffentlich ihre Aufschläge zu machen, sich aber gar nicht darum kümmern, wie das umgesetzt werden könnte.

Homburg hat sogar mal gefordert, die Arbeitslosenversicherung abzuschaffen.

Das wäre eine Revolution gewesen. Wir haben die staatliche Sozialversicherung seit Bismarck. Eine Gesellschaft so drastisch umzustellen, das geht nur im Modell, aber nicht mit echten Menschen. Wie man es anders macht, das hat vor einigen Jahren der Ökonom Bert Rürup gezeigt. Er hat ja auch für Reformen der Sozialversicherung geworben. Er war langjähriges Mitglied einer Partei, der SPD, und er hat sich da intensiv politisch eingebracht. Rürup hat immer verstanden: Wenn ich meine Gedanken in den Gesetzen wiederfinden will, dann muss ich mit den Politikern reden. Klar kann das langwierig und nervig sein, da braucht man Geduld.

Gelegentlich wirkt es so, als sei die Ökonomie in Deutschland besonders dogmatisch. Hat das etwas mit dem Gründungsmythos der Bundesrepublik zu tun? Ludwig Erhard und die Bundesbank gelten als die Säulen des deutschen Nachkriegserfolgs, ebenso das Erbe der Ordoliberalen.

Die Idee der sozialen Marktwirtschaft und des Ordoliberalismus ist tief verknüpft mit der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte nach dem Krieg. Man muss dabei auch die Perspektive sehen: Der Aufschwung kam damals mit Wucht, und das nach einer völlig verkorksten Weimarer Republik. Mein Vater war Jahrgang 1922. Er hat nach dem Krieg seinen Augen nicht getraut, und vielen Intellektuellen ging es ähnlich. Das ist ein positiver Gründungsmythos. Nur ist darüber auch vergessen worden, dass damals natürlich gar nicht die reine Marktwirtschaft herrschte, so wie wir das heute verstehen. Es gab zum Beispiel bis lange in die Fünfzigerjahre hinein keine freien Kapitalmärkte. Die junge Bundesrepublik war wirtschaftspolitisch also viel näher an der Weimarer Republik, als man das heute wahrhaben will. Der radikale Bruch mit der Vergangenheit war ein Mythos. Der Erfolg aber war real, auch wenn später nachgewiesen wurde, dass auch andere Länder ähnlich dynamisches Wachstum nach einem Krieg verzeichnet haben. Erhards Ausspruch vom »Wohlstand für Alle« hat eine ganze Generation geprägt.

Die Kritik am Euro und der EZB sind aber doch in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Könnte das damit zu tun haben, dass auch die Bedeutung von Bundesbank und D-Mark in Deutschland rückwirkend überhöht worden sind?

Das ist so. Viele Eurokritiker haben sich ja immer an dem vermeintlichen Teuerungsschub gestoßen, den die Europäische Währungsunion gebracht habe. In Wahrheit ist die Inflationsbilanz des Euro sehr viel besser, als es die der Mark je war. Wir hatten in den Siebzigerjahren auch eine Zeit sehr hoher Inflation, viel höher als jemals unter der Ägide der EZB. Aber meinen Sie, das würde jemand zur Kenntnis nehmen? Die interne Stabilität der Mark war geringer als die des Euro. Nur: Das können Sie den Leuten wieder und wieder sagen, sie glauben es trotzdem nicht.

Spielen die Medien eine Rolle, eine gewisse Nachfrage nach radikaler Kritik?

Ich glaube im Grundsatz nicht, dass Medien die Welt verändern. Ihr Einfluss ist geringer, als viele Beobachter meinen. Schauen Sie sich den Umschwung in den Sechzigerjahren zu SPD-Kanzler Willy Brandt an: Der eher konservative Springer-Verlag war damals sehr viel mächtiger als heute, konnte das aber auch nicht verhindern. Später haben alle eher links orientierten Medien Helmut Kohl belächelt, der sich aber durchgesetzt hat, weil er ein großartiger Politiker war. Medien sind aber prozyklisch und verstärken die Wellen. Gesucht wird beständig nach der nächsten Katastrophe. Alles muss entweder total bergab gehen oder steil bergauf. Wer differenziert argumentiert, hat es schwer, zitiert zu werden. Das verstärkt einige Effekte der Polarisierung. Auf der anderen Seite stellen wir fest, dass viele Redaktionen Kanzlerin Merkel seltsam aus dem Feld der Kritik entrückt haben. Das ist auch nicht gut. Die Zeit der Hofberichterstattung gehört ja doch der Vergangenheit an, oder?

Dieses Interview erschien erstmals am 27.12.2020 auf Spiegel Online.