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Internationales
„Gute Ideen sind jetzt gefragt"

Alexander Graf Lambsdorff im Interview in der neuen Ausgabe der liberal

Dieser Artikel ist zuerst erschienen im liberal-Magazin 03.2018.

Alexander Graf Lambsdorff spricht in liberal darüber, wie der Brexit doch noch verhindert werden könnte, was die drängendsten Probleme in Europa sind und über eine Strategie, wie mit Trump umzugehen ist. 

Kirstin Härtig: Alexander Graf Lambsdorff, Sie haben nach eigenen Worten das beschauliche „Bonn im Herzen, die Welt im Blick“. Mit welchen Gefühlen betrachten Sie das politische Geschehen auf der globalen Bühne von Bonn aus?

Alexander Graf Lambsdorff: Die Bundesstadt Bonn ist in den vergangenen Jahren zum deutschen Nord-Süd-Zentrum ausgebaut worden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist hier, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Bonn ist der deutsche Sitz der Vereinten Nationen. Deshalb sind viele wichtige Nicht-Regierungsorganisationen hier vertreten. Von daher ist der Bonner Blick ein Nord-Süd-Blick, der in Zeiten der Massenmigration und Fluchtursachenbekämpfung sehr wichtig ist.

Und wie sieht es von Berlin aus, wo Sie jetzt im Bundestag wirken?

Wenn wir den Fokus gesamtdeutsch aufziehen, sehen wir, dass die Welt um uns herum sich in den vergangenen 20 bis 25 Jahren dramatisch verändert hat. Das Russland, mit dem Kohl und Genscher das gemeinsame Haus Europa bauen wollten, ist nicht mehr da. Stattdessen haben wir ein autoritäres, nach außen aggressiv auftretendes Russland. Mit der Annexion der Krim haben wir einen direkten Angriff auf die Friedensordnung in Europa. Wir haben in der Türkei ein Land, in dem nach der letzten Wahl der Übergang zur Diktatur beschleunigt weitergeht. Und wir haben im Süden aus dem Arabischen Frühling heraus eigentlich nur noch Tunesien als Hoffnungsschimmer. Mit anderen Worten: Die Lage ist sehr, sehr schwierig. Und wenn man dann noch nach Krisenszenarien sucht, muss man leider auch den Blick gen Westen richten, wo wir mit dem Brexit einen Triumph der Populisten und im Weißen Haus einen triumphierenden Populisten sitzen haben.

Beobachten Sie in dieser Situation jetzt eine Art von Aufwachen?

Ja und nein. Medial findet Außenpolitik zweifellos mehr Interesse. Aber institutionell sind wir in den 1960er- und 70er-Jahren verhaftet. Es gibt ein Silo-Denken in den verschiedenen Ministerien, aber keine breite Debatte darüber, mit welcher Strategie Deutschland sich in dieser neuen Welt behaupten kann. Wir müssen das überwinden und brauchen in dieser Hinsicht neue Ideen. Wie behauptet sich Deutschland? Wie schützen wir unsere Interessen? Was können wir für unsere Werte tun? Diese Fragen müssen beantwortet werden, und ich merke, dass die Menschen im Land das auch so sehen. Es gibt in allen Veranstaltungen ein starkes Bedürfnis nach Einordnung und Erklärung. Im Berliner Politikbetrieb ist das anders, da ist die Pfadabhängigkeit so stark, dass ein Umsteuern nicht erkennbar, von vielen auch nicht gewollt ist.

Ist es derzeit mehr Traum oder Albtraum, Außenpolitiker zu sein in einer Welt, in der alte Bündnisse und alte Weggefährten über Nacht 180-Grad-Kehrtwenden vollziehen?

Freude bereitet die Tatsache, dass das Thema Internationale Politik mehr Interesse bekommt. Für diejenigen, die sich so wie ich beruflich damit befassen, war es immer wieder frustrierend zu sehen, dass internationale Politik im Zweifel immer hinter Fragen der Sozial- oder Wirtschaftspolitik einsortiert wurde – weil viele einfach nicht verstanden haben, wie wichtig das internationale Umfeld dafür ist, dass wir sozialen Frieden und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft haben. Das ändert sich gerade in der Öffentlichkeit, das ist gut. Jetzt muss die Politik dem auch gerecht werden. Daran arbeite ich. Frust bereitet dagegen die Entwicklung im Westen. Der Brexit ist ein Schlag ins Kontor. Großbritannien ist das Mutterland des Liberalismus, und das verlässt jetzt die Europäische Union. Frust ist natürlich auch, dass im Weißen Haus zurzeit eine Politik gemacht wird, bei der man nicht sicher sein kann, ob sie nicht wirklich schwerste Schäden im regelbasierten System haben wird, das wir nach dem Zweiten Weltkrieg unter Führung und einer enormen Garantieleistung der USA für dieses System errichtet haben. An der Stelle muss ich sagen: Es ist schon beunruhigend.

Den Westen alter Schule gibt es in der Form nicht mehr?

Doch. Es gibt ihn noch. Der Westen ist keine geografische Kategorie, sondern der Westen ist die offene, liberale Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit, die Eigentumsgarantie, Toleranz, Marktwirtschaft und offene Debatten, strittige Diskurse, respektvolles Ringen um die besten Ideen und Lösungen. Das ist in meinen Augen das, was den Westen ausmacht. Und auch, wenn seine Führungsmacht auf Abwegen ist, dürfen wir nicht vergessen, dass den Westen auch eine institutionelle Stabilität auszeichnet, die berühmten „checks and balances“ der amerikanischen Verfassung. Niemand kann die Macht allein an sich reißen. Von daher halte ich es auch mit Blick auf Amerika für zu früh, den Westen abzuschreiben.

 

Ich will hoffen, dass die EU in zehn Jahren nicht die ist, die wir heute kennen – sondern eine bessere. Dabei wird es auf das deutsch-französische Verhältnis ankommen.

„Ich will hoffen, dass die EU in zehn Jahren nicht die ist, die wir heute kennen – sondern eine bessere. Dabei wird es auf das deutsch-französische Verhältnis ankommen."

© iStock / Getty Images Plus / VEX Collective

Sie kennen die Europäische Union aus Ihrer Zeit im EU-Parlament aus dem Effeff. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass die EU, wie wir sie heute kennen, in zehn Jahren noch existiert?

Ich will hoffen, dass die EU in zehn Jahren nicht die ist, die wir heute kennen – sondern eine bessere. Es wird dabei ganz zentral auf das deutsch-französische Verhältnis ankommen. Das reale Gewicht der beiden Länder in der EU ist hoch. Deutschland ist die mit Abstand größte Volkswirtschaft der Union und Frankreich das einzige ständige Mitglied des Sicherheitsrats mit nuklearer Bewaffnung, das wir in der Europäischen Union haben. Die beiden Führungsmächte müssen sich zusammenraufen. Deutschland und Frankreich machen einfach so viel aus in der Europäischen Union. Eine Einigung zwischen beiden allein reicht allerdings nicht aus. Wir brauchen auch die anderen Großen in der EU: Italien, Polen und Spanien. Aber in Italien und Polen gibt es Probleme mit der inneren Verfassung dieser Länder und auch Grund zur Sorge.

Die Liberalen in Großbritannien haben noch Hoffnung, dass sich die Bürger in einem neuen Referendum anders entscheiden, als sie es vor zwei Jahren getan haben. Teilen Sie diese Stimmung?

Wir unterstützen als Freie Demokraten die Forderung unserer Schwesterpartei, die sagt: Vote on the facts. Man solle eine Abstimmung über die Tatsachen machen und nicht über die Lügen, falschen Behauptungen und Luftschlösser der Brexit-Befürworter im ersten Referendum. Ich glaube, immer mehr Menschen in Großbritannien verstehen, dass das tatsächlich eine Lügenkampagne war. Die berühmten 350 Millionen Pfund, die jede Woche ins nationale Gesundheitssystem überwiesen werden könnten, haben sich ja schon einen Tag nach der Abstimmung als plumpe Lüge erwiesen. Insofern ist es fair, was die Liberal-Demokraten in Großbritannien vorgeschlagen haben: ein Referendum mit verschiedenen Optionen. Eine könnte die Möglichkeit sein, in der EU zu bleiben, man kann einen konkreten Ausstiegs-Deal zur Abstimmung stellen oder einen No-Deal-Exit. Vielen Menschen in Großbritannien ist ja seit dem Referendum sehr bewusst geworden, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union einen hohen Wert und ein Austritt ohne Deal katastrophale Folgen hat.

Wenn Sie eine Rangfolge der, sagen wir mal, ein, zwei, drei größten Probleme, die Europa und speziell die EU gerade beschäftigen, erstellen müssten – wie sähe die aus?

Das größte einzelne Problem ist sicherlich, dass wir nicht schlauer sind als unsere Vorfahren vor 100 Jahren. Dass wir glauben, das Wiederauftauchen alter europäischer Gespenster wie Nationalismus, autoritärer Versuchungen und des Protektionismus sei neu oder harmlos. Diese drei Elemente ergeben zusammen das, was wir umgangssprachlich Populismus nennen. In meinen Augen ist das das Gefährlichste: Dass Demokraten nicht verstehen, dass wir eine Entwicklung haben wie vor 100 Jahren und daraus auch nicht die richtigen Schlussfolgerungen ziehen für notwendige Problemlösungen.

Wie sollten diese Lösungen Ihrer Meinung nach aussehen?

Die eine ist eine rechtsstaatliche Herangehensweise in der Frage der Migration, mit einem Zuwanderungsgesetz, mit einer klaren Unterscheidung zwischen Flucht, Asyl und Migration. Mit einem auch klaren Vollzug von Ausweisungen, wenn es keinerlei Chancen auf Verbleib gibt. Das Vertrauen in Handlungsfähigkeit und an Rechtsstaatlichkeit ist ganz wichtig. Denn auf dem Misstrauen kochen ja viele dieser populistischen Parteien ihr Süppchen. Das Zweite ist, die gesamte Sicherheitsarchitektur in der Europäischen Union drastisch zu stärken. Das heißt ganz konkret, eine Stärkung von Frontex über die 10.000 Mann hinaus, die jetzt avisiert worden sind. Und die Ermächtigung an Frontex, auch eigenständig zu handeln. Dazu gehört auch der Ausbau von Europol zu einer Art europäischem Bundeskriminalamt, um in der Terrorbekämpfung voranzukommen. Dann ist eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik notwendig ,und tatsächlich muss auch die Frage der Wirtschafts- und Währungsunion gestellt werden. Es muss auf der nationalen Ebene eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik betrieben werden, um neue Dynamik zu entfachen. Das gilt gerade für die Länder mit hoher Arbeitslosigkeit. Diskussionen über ein Eurozonen-Budget verdecken nur das zugrunde liegende Problem mangelnder Strukturreformen wie etwa in Italien.

Können Sie erklären, warum die EU-Mitglieder im Osten des Kontinents derzeit so bocken und so blocken? Was ist da schiefgelaufen, wenn man sich die Euphorie, die in den frühen Neunzigern da war nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs, anschaut? Wo ist die hin?

Wir dürfen nicht alle Länder im Osten über einen Kamm scheren. Die baltischen Staaten – Estland, Lettland, Litauen – beispielsweise sind sehr liberal. Da gibt es keine Probleme etwa beim Thema Migration. Das sieht in Polen, in der Slowakei und in Ungarn, teilweise auch in Tschechien leider anders aus. Aber vergessen wir nicht: In Westeuropa haben wir seit Jahrzehnten Zuwanderung. Wir haben gelernt, dass Integration anstrengend ist, aber auch enorm gewinnbringend, wenn sie gelingt. Das war für Länder hinter dem Eisernen Vorhang überhaupt nicht der Fall. Dort gab es über 40 Jahre Ein- und Ausreiseverbote und eine homogene Gesellschaft. Wir überfordern diese Länder, wenn wir versuchen, an sie dieselben Maßstäbe anzulegen, die man an Rotterdam, Köln oder Bordeaux anlegt. Das kann man mit Bratislava, Krakau oder Györ nicht machen.

Wie sollte sich Deutschland, das ja sehr viele Flüchtlinge aufgenommen hat und noch aufnimmt, in dieser Situation verhalten?

Ich warne davor, als Deutsche mit erhobenem Zeigefinger durch die Gegend zu laufen und zu behaupten, wir seien wegen unserer Flüchtlingspolitik moralisch überlegen und die wahren Europäer. Wenn wir ganz ehrlich sind, tun sich die östlichen Bundesländer doch auch schwerer mit dem Thema Zuwanderung und Integration als die westlichen. Und Deutschland hat die Griechen und Italiener über Jahre hängen lassen, weil wir uns einer Reform des DublinSystems verweigert haben. Denken Sie an Lampedusa, wo Hunderte von Menschen ums Leben gekommen sind und Leute wie der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich bräsig erklärt haben: Damit müssen die Italiener eben allein zurechtkommen. Als Zweites müssen wir eine geduldige Politik machen. Wir können nicht erwarten, dass die osteuropäischen Länder auf einen Schlag so ticken wie wir, und müssen eben auch andere Modelle europäischer Solidarität denken – zum Beispiel ein stärkeres Engagement bei der Sicherung der Außengrenzen.

Ich warne davor zu behaupten, wir Deutsche seien wegen unserer Flüchtlingspolitik moralisch überlegen und die wahren Europäer. Auch wir tun uns schwer damit.

Alexander Graf Lambsdorff ist seit 2014 stellvertr. Präsident des Europäischen Parlamentes
Alexander Graf Lambsdorff

Absenken des Zeigefingers und mehr Verständnis für die Hintergründe der Entwicklung heißt, dass Rechtsverstöße wie in Ungarn oder Polen hinzunehmen sind?

Absolut nicht. Da haben wir Liberale aus dem Europäischen Parlament heraus das sogenannte Rechtsstaatsverfahren etabliert. Damit kann man deutlich machen, dass von allen EU-Ländern erwartet wird, sich an die Werte der EU-Verträge zu halten, die sie ja immerhin selbst unterschrieben haben. 

Sie haben in den USA gelebt, dort mehrere Jahre studiert und gearbeitet. Was erleben wir dort derzeit: die Amtszeit eines Narzissten, eines Spielers, der den Immobilienmarkt mit Politik verwechselt, aber mit seinen Methoden bisweilen Erfolg hat?

Ich bin kein Freund der Pathologisierung des amerikanischen Präsidenten. Das hilft uns nicht weiter, sondern nur analytische Präzision: Was will er eigentlich erreichen? Was tut er? Wie müssen wir die Maßnahmen bewerten? Gibt es dahinter eine größere Strategie? Der Konsens bei den Beobachtern in Washington: Es gibt sie nicht. Mit einer Ausnahme, und diese Ausnahme lautet: Was er im Wahlkampf versprochen hat, setzt er auch um. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Rücksicht auf internationale Organisationen, Partner und Allianzen. Er setzt es einfach um. Da sind manche Dinge dabei, die wir massiv kritisieren müssen, beispielsweise der Anschlag auf das regelbasierte Handelssystem. Es ist rechtswidrig, was er da tut. Aber andere Dinge, bei denen er voranschreitet, kann man nachvollziehen, zumal sie in einer gewissen Kontinuität seiner Vorgänger stehen – etwa bei der Frage der Verteidigungsausgaben. Schon Bill Clinton und Barack Obama haben angemahnt, dass Europa hier mehr tun muss, sie haben es einfach freundlicher getan – mit dem Ergebnis, dass in Europa niemand reagiert hat.

Ist Trump also ein Betriebsunfall der Geschichte?

Nein, ich glaube das nicht. Er ist Ausdruck einer Frustration, eines Vertrauensverlustes gegenüber den Institutionen und Prozessen westlicher Demokratien. Er ist ja nicht der einzige Populist, der zurzeit Erfolg hat. Das kann man in Frankreich beobachten, in Italien, in Österreich, leider auch hier bei uns. Deswegen ist der Wahlsieg von Trump ein Aufruf an diejenigen, die an der parlamentarischen Demokratie hängen, sich zu fragen: Wie stellt man verloren gegangenes Vertrauen wieder her? Wie schafft man es, dass die Menschen sich nicht solchen Nationalisten zuwenden? Ich glaube, ein entscheidender Faktor ist, dass die demokratischen Systeme in den letzten Jahrzehnten überkomplex geworden sind und dass deswegen in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger einfach nichts „passiert“. Das geht auf der kommunalen Ebene los mit einzelnen Bauprojekten und zieht sich hoch auf die nationale Ebene. Wie oft wurde im Bundestag über eine Steuerreform geredet – und wie wenig ist dabei herausgekommen? Ich glaube, die Menschen akzeptieren eher, dass nach einer Kontroverse auch mal was umgesetzt wird, als dass ständig vertagt, verschoben und weiter debattiert wird.

Gibt es eine Strategie von Deutschland und Europa auf „America first“?

Für mich gibt es die. Sie fußt auf zwei Elementen. Das eine ist: Dialog, Dialog, Dialog, Dialog – mit allen Amerikanern. Wir haben in der FDP dazu ein 10-Punkte-Papier entwickelt. Wir müssen raus aus der reinen Wahrnehmung der Küsten-Eliten und rein ins flache Land. Wir haben vorgeschlagen, dass Deutschland ein Konsulat im Mittleren Westen aufmacht, damit wir auch das andere Amerika verstehen, nicht nur das liberale Ostküsten- und Westküsten-Establishment. Diesen Dialog zu verbreitern, zu vertiefen, auch für die Zeit nach Trump, ist ganz wichtig. Das Zweite ist: „America first“ heißt ja „international cooperation second“. Dadurch gerät das regelbasierte System, das gerade für Deutschland so wichtig ist, in Gefahr. Daher sollte Deutschland eine Gruppe von Ländern zusammensuchen, die ein ähnlich großes Interesse daran haben, dass dieses regelbasierte System und Multilateralismus nicht geschwächt und Kooperationsformate entwickelt werden. Ich denke da an Länder wie Kanada, Japan, Australien oder Brasilien.

Sie haben in Ihren jüngsten Debattenbeiträgen und Interviews durchblicken lassen, dass Sie etwas mehr Ehrlichkeit aus Sicht Deutschlands nicht fehl am Platze fänden, weil auch wir Fehler gemacht haben – etwa mit Verweis auf das Chlorhühnchen das Handelsabkommen mit den USA unter einem anderen Präsidenten zu torpedieren oder dass absurde Zollbestimmungen dazu führen, dass amerikanische SUVs sündhaft teuer werden bei der Einfuhr nach Deutschland.

Ich glaube, dass der Kampf der linken Populisten von Linkspartei, Verdi und Attac, aber leider auch der Grünen gegen TTIP, CETA und andere Handelsabkommen uns als Exportland direkt und absehbar in die Sackgasse führt. Dass TTIP in Europa so schwer beschädigt worden ist, ist in allererster Linie das Ergebnis einer deutschen Debatte gewesen. In anderen Ländern gab es immer solide Mehrheiten dafür. Es ist nicht gelungen, diesen Konflikt rechtzeitig aufzulösen. Als Trump dann gewählt wurde, hat er sich wie Sahra Wagenknecht, Anton Hofreiter und Alexander Gauland auch gegen TTIP gestellt, und damit war die Sache tot. Hier, glaube ich, gibt es Anlass zur Selbstkritik auch in der deutschen Medienlandschaft. Es wurden Unwahrheiten verbreitet, Panik gemacht und Agenda-Journalismus betrieben. Das war ein echter medialer Herdentrieb, den wir da beobachten konnten.

Wie realistisch ist die Chance auf TTIP light?

Was Juncker in Washington erreicht hat, ist schon bemerkenswert. Die EU und die USA werden sich zusammensetzen, um ein Abkommen zu erreichen, das die Abschaffung gegenseitiger Zölle auf vereinzelte Güter zum Inhalt hat. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung und ein positives Signal für den Freihandel. Noch wichtiger ist aber, dass es auf lange Sicht zu einem wirklichen umfassenden Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU kommt. Wie das dann am Ende heißt, spielt keine Rolle. Ob es dazu kommt, hängt allerdings stark vom Willen des US-Präsidenten ab, so will es die amerikanische Verfassung. Und dieser Präsident ist sprunghaft, wie wir wissen. Dieses Mal hatte er einen guten Tag aus Sicht des Freihandels, niemand kann aber wissen, wie der nächste sein wird. Trotzdem sind die Bundesregierung und die EU in der Pflicht, hier nichts unversucht zu lassen, Donald Trump vom Nutzen des transatlantischen Freihandels zu überzeugen.

In der Berichterstattung und Fokussierung auf USA versus Europa wird ein wesentlicher Spieler weitgehend vergessen: China. Ist das nicht eigentlich der weitaus größere Konflikt, der in ein paar Jahren wirtschaftlich wie politisch hochkommt: USA gegen China?

Der Konflikt läuft schon. Die innerwestlichen Konflikte, die wir zurzeit haben, verstellen den Blick darauf, dass der eigentliche Konflikt derjenige ist zwischen liberalen, toleranten, offenen und rechtsstaatlichen Gesellschaften auf der einen Seite und einem staatskapitalistischen, autoritären, kommunistischen, marktwirtschaftliche Prozesse massiv verzerrenden System auf der anderen Seite. China ist eine Welthandelsmacht, tut aber so, als ob es noch Entwicklungsland sei. Die Regierenden in der Volksrepublik lachen sich ins Fäustchen, wenn sie die Konflikte im Westen sehen. Für China sind die USA der wirtschaftliche Hauptkonkurrent. Es will daher Europa als strategischen Partner gewinnen. Und die USA stoßen Europa gerade vor den Kopf. Wenn wir eine werte- und interessengeleitete Politik machen, kann China nicht unser strategischer Verbündeter sein, sondern die von mir genannten verbundenen Länder, die auch von der inneren Verfassung her unseren Werten entsprechen.

Wir sprachen bereits über Sicherheit. Was bedeutet es für die Weltordnung, wenn der Weltpolizist nicht mehr dauerhaft anwesend ist?

Die NATO hat gerade eine neue Mission im Irak beschlossen, und auch die Afghanistan-Mission geht bis auf Weiteres erst mal weiter mit den USA. Insofern ist ein Rückzug des Weltpolizisten politisch sichtbar, aber nicht militärisch, übrigens auch nicht in Europa. Natürlich lässt sich das auf Dauer nicht trennen. Für uns in Europa bedeutet das deshalb ganz klar, dass wir uns in die Lage versetzen müssen, unsere Interessen und Werte in unserer Nachbarschaft zu schützen. Ich denke hier insbesondere an den Balkan, Nordafrika, die Sahel-Zone. Das bedeutet ganz konkret den Ausbau unseres unterentwickelten diplomatischen Apparats, eine Stärkung der Bundeswehr und die Verbesserung der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit in der Europäischen Union.

Alexander Graf Lambsdorff ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort stellvertretender Vorsitzender der Fraktion der Freien Demokraten, deren außenpolitischer Sprecher er ist. Zuvor war er Mitglied des Europäischen Parlaments.