EN

Gaidar-Naumann-Forum
Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen

Karl-Heinz Paqué

Karl-Heinz Paqué

© dpa

Gemeinsam mit der russischen liberalen Yegor Gaidar Foundation-Stiftung und dem Deutsch-Russischen Forum (DRF) lud die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zum fünften  5. Gaidar-Naumann-Forum nach Berlin ein.  Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand das Verhältnis zwischen Sozialstaat und Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Hochrangige Experten aus Deutschland und Russland überlegten, wie die Einflüsse von Digitalisierung und Migration unsere Gesellschaft und Wirtschaft verändern. Für unseren Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Paqué ist die Frage der Wirtschaftsordnung von zentraler Bedeutung. Migration und Digitalisierung sind für ihn Teil der großen Herausforderungen für Gesellschaft, Staat und Ökonomie.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Bei seiner Eröffnungsrede zeigte sich Karl-Heinz Paqué sehr erfreut darüber, dass sich der deutsch-russische Dialog zu einer stabilen, fruchtbaren Tradition entwickelt hat.  Weniger erfreulich bewertete er die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, die sich seit der Annexion der Krim in einer Krise befinden: Gegenseitige Sanktionspolitik, der Bruch internationaler Abkommen, fortwährende Provokationen sowie Verstöße gegen die Menschenrechte feuerten die Eskalationsspirale an. Ein Ende sei nicht abzusehen. Für die Stiftung für die Freiheit bedeute dies umso mehr, "dass wir den Dialog weiterführen werden“.

Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen

Digitalisierung und Migration würden die Menschheit vor gewaltige Herausforderungen stellen.  Die Frage der Wirtschaftsordnung spiele hier eine absolut zentrale Rolle. In Russland sei der Liberalismus in die Defensive geraten: "Russlands Wirtschaft ist ein staatskapitalistisches System, das von der von Marktwirtschaft weit weg gerückt ist“, konstatierte der Ökonom.  Auch Deutschland stehe vor gewaltigen Herausforderungen: "Wir können über viele Entwicklungen in diesem Land auch nicht glücklich sein“, fuhr er zugleich eine Attacke auf die deutsche Bundesregierung. Die Große Koalition habe in wesentlichen Feldern buchstäblich nichts unternommen, um die großen Herausforderungen dieser Zeit anzugehen: Von der Renten- bis zur Einwanderungspolitik, von der Arbeitsmarkt- bis zur Haushaltspolitik. Von Lösungen und Innovationen keine Spur. Von einem gedeihlichen Wachstumsklima könne auch keine Rede sein. "Wir leben von der Substanz."

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Gemeinsam und international den Herausforderungen begegnen

Paqué ist überzeugt, dass diese Diskussion international geführt werden müsse. Von Russland könne Deutschland lernen, wie  unter schwierigen Bedingungen ein hohes Maß an Originalität und Innovationskraft an den Tag gelegt und auch dadurch eine Zukunftsperspektive geschaffen werden könne.

Boris Mints, Vorstandsvorsitzender der Yegor-Gaidar-Stiftung, widerspricht in einem Punkt: Die gegenwärtige Politik in Russland sei primitiv aufgebaut. In Russland interessiere man sich nur dafür, wie und was jetzt gerade erwirtschaftet werden könne. Er glaube aber auch, dass die Beziehungen zwischen den Menschen und Ländern besser werden könnten, wenn alle global dächten: "Wir sollten uns gemeinsam an die den großen Herausforderungen der Zeit wagen“, so sein Appell.

Es sind die Optimisten, die die Welt erneuern

Helena Melnikov, Mitglied des Vorstands des Deutsch-Russischen Forums e.V., konstatierte, dass Wachstum und Wohlstand nicht automatisch Hand in Hand mit Demokratie gingen. Für sie bilden Wertesystem,  Bildungssystem, Migration und digitaler Wandel Faktoren für den Wohlstand. "Migration würde sie als Faktor für und nicht gegen den Wohlstand begreifen. "Wachstum ist nur dort möglich, wo auch eine Integration ins unser System gelingt.“  Zum Kapitalismus gehöre aber immer auch Kooperation“, so Melnikov. Sie schloss ihren Vortrag mit einem Zitat von Friedrich Naumann: "Es wird richtig sein, wenn wir sagen, dass es die Optimisten sind, die die Welt erneuern. Dass alles, was an wirtschaftlicher oder sozialer Reform überhaupt entsteht, geschaffen wird von derjenigen Art Menschen, die nicht tot zu machen sind mit ihrem Glauben an die Menschheit und an den Fortschritt.“

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Die Rolle der Marktwirtschaft

In der anschließenden Diskussionsrunde, die Boris Mints moderierte, ging es um die Frage, ob Marktwirtschaft heute stärker Ungleichheit oder Krisen fördere oder sie weiter Motor für Fortschritt und Wohlstand sei.

Andrej Netschaew, Mitglied des Kuratoriums der Yegor Gaidar Foundation und ehemaliger russischer Wirtschaftsminster, erklärte, was für ihn die größten Probleme der russischen Wirtschaft seien. Er sieht sich als „Advocatus Diaboli“, als Vertreter des Kapitalismus. Er findet die Debatte über die soziale Ungleichheit übertrieben. Seiner Ansicht nach brauche Russland dringend Reformen: hinsichtlich  Bildung,  Militär, Steuerverwaltung und Pensionen.

Rostislaw Kapeljuschnikow, Professor beim Zentrum für Arbeitsmarktforschung, pflichtete ihm bei. Der Arbeitsmarktexperte monierte, die Gesellschaft sei derzeit besessen von der Debatte über Ungleichheit. Ungleichheit sei nichts Objektives. Gleichzeitig beschwor er den Erfolg der Marktwirtschaft.

Yvonne Bollow, Leiterin Eastern Europe und International Affairs der Metro Group, plädierte dafür, die Kräfte zusammenzuführen und zu bündeln, um die Demokratie voranzutreiben. Auch sie warb für Migration, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Für die Metro AG, die im größten Teil Russlands präsent ist, sei der Einfluss des russisch-ukrainischen Konfliktes problematisch. Der Markt sei immer schwieriger geworden „Protektionismus führt dazu, dass wir entmündigt werden. Wir müssen die Innovationskraft stärken und die Digitalisierung als Geschäftsmodell kann zur Transformation beitragen.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation

Der Hauptorganisator der Konferenz und Moderator des zweiten Panels, Julius von Freytag-Loringhoven, der Projektleiter für Russland & Zentralasien der Friedrich-Naumann-Stiftung, vertiefte in seiner Podiumsrunde das Thema Digitalisierung. Er fragte, ob die digitale Revolution mehr Chancen für  Unternehmer, Fortschritt und Innovation böte oder obsie eher eine Bedrohung für Arbeitsplätze und die Rechte der Bürger darstelle. Thomas Sattelberger, MdB Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und  Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages, meinte: "Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf die Arbeitswelt sind ein Blick in die Kristallkugel. Ich glaube, man kann zumindest von vier Zwiebelschalen neuer Formen von Arbeit sprechen."

Den Zwiebelkern stelle die Frage dar, wann, wo, mit wem und wie jemand arbeitet, was durch die Arbeit mit orts-und zeitunabhängigen digitalen Medien zunehmend auch in die Souveränität des arbeitenden Menschen übergehen kann", erläuterte Sattelberger. Die zweite Zwiebelschale sei, dass es zunehmend sogenannte Clickworker gebe, "also Menschen, die sich mit digitalen Medien auf digitalen Plattformen für Aufträge bewerben oder geworben werden". Die dritte Zwiebelschale sei die Plattformökonomie, etwa Amazon Fresh oder Uber, wo auf digitalen Plattformen gesteuert und dann die Dienstleistung oder das Produkt in der Realwirtschaft ausgeliefert werde. "Und die vierte Dimension ist die Frage, inwiefern Roboter und Automaten Arbeitsplätze ersetzten und ob neue geschaffen werden", hebt Sattelberger hervor. Das seien  die vier großen Themen, die in ihrem Umfang und ihrer Intensität offen anstünden.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Bürgerrechte und Trollarmeen

Oksana Moros, Dozentin, Hochschule für soziale und wirtschaftliche Wissenschaften in Moskau setzte sich wiederum mit einem ganz anderen Aspekt der Digitalisierung auseinander: den sog. Troll-Fabriken, den weniger subtilen und völlig offenen Formen russischer Propaganda. Sie hätten eine politische Mission und verstünden sich als „Waffe wie jede andere“. Die Troll-Armeen aus dem Kreml hätten online den Raum übernommen. „Die Trolle wollen vernichten und halten sich nicht an die Normen“, so ihre ernüchternde Einschätzung. „Troll-Fabriken“ seien in Russland Symbole des neuen digitalen Zeitalters geworden.

„Hass im Netz ist real“, sagte auch Ann Cathrin Riedel, Vorsitzende von LOAD e.V. –  Verein für liberale Netzpolitik.  Sie ist von der Frage getrieben, wie die Welt besser gemacht werden könne und hielt ein Plädoyer für Bürgerrechte, Datenhoheit und Datensicherheit. Mit Blick auf das Netzwerkdurchsetzungsgesetzes kritisiert sie, dass diese Gesetze gegen Trolle die normalen Bürgern noch mehr träfen als die Trolle selber. Eine Rettung vor Hate Speech und Fake News stelle es jedenfalls nicht dar.

Julius von Freytag-Loringhoven  berichtete, dass die Stiftung schon länger mit anderen Partnern an konkreten Antworten zur Gestaltung der Digitalen Revolution arbeite. So habe sie in Moskau mit den russischen Journalisten Andrej Soldatov und Irina Borogan, mit Konstantin Kuhle, ehemaliger Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen, sowie dem ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum das Thema Bürgerrechte im Digitalen Zeitalter diskutiert. Die Runde beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie Datensammler und neue Technologien die Grundrechte der Bürger gefährdeten und was man dem entgegensetzen könne. Das Einfordern von mehr Transparenz von Staat und Big Data und neue digitale „Bürgerrechte“ wie das „Recht auf Vergessen“ schlugen russische und deutsche Teilnehmern als erste Lösungsansätze im Umgang mit scheinbar übermächtigen Akteuren im Netz vor.

In der Runde wurden viele Themen angeschnitten aber eine klare Einordnung fehlt noch immer. Freytag-Loringhoven versprach, die Stiftung suche weiter nach Antworten. Sie wolle das Verhältnis zwischen Bürger und Staat klären, um in dieser neuen Welt Teil der Innovationen sein zu können.

Chancen von Migration und Kapitalismus

Beim dritten Panel, das Ralf Erbel, Leiter des Regionalbüros Berlin-Brandenburg, moderierte, ging es darum, auszuloten, welche Chancen sich aus dem Zusammenspiel von Migration und Kapitalismus ergeben und  welche Bedingungen  geschaffen werden müssten. Renata Alt, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, und Ewgenij Gontmacher, Prof. Higher School of Economics und Mitglied der Expertengruppe Europäischer Dialog, warben beide für das Einwanderungskonzept der FDP. Renata Alt, die in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren wurde, plädierte zudem dafür, die Blue Card weiter auszubauen, allein um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken.

Das sieht auch Gontmacher so. Er hält Russlands Einwanderungspolitik einerseits für „relativ liberal“ meinte aber andererseits, dass Russland kein Einwanderungsland sei. Die Migrationsgesetzgebung habe einen wellenförmigen Verlauf. „Russland ist imperial im Umgang mit den ehemaligen Sowjet-Ländern.“ Die Einwanderung werde als ein Unterpfand der Außenpolitik eingesetzt. Es müsse unterschieden werden zwischen Wirtschafts-Migranten und Kriegs-Flüchtlingen, so wie die FDP das vorschlage.

Holger Kolb, Stellvertreter der Geschäftsführung,  Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für  Integration und Migration, wiederum fand, dass Deutschland sich besser verkaufen müsse. Er verwies  auf das Beispiel Kanada, das in allen Diskussionen angeführt werde. „Kanada präsentiert sich besser, aber die Gesetze sind nicht besser.“, sagt der Experte.

Das 5. Gaidar-Nauman Forum hat gezeigt, dass den Herausforderungen der Digitalen Revolution gemeinsam mit guten Ideen begegnet werden muss. Das Fortführen des Dialogs ist unerlässlich, da Deutschland wie Russland am Anfang dieses Prozesses stehen.