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Frühkindliche Bildung
Geborgen die Welt verstehen lernen

Kleinkinder brauchen verlässliche, sorgsame Betreuer. Fehlt es jedoch am Geld, um für die notwendige Qualität zu sorgen, trifft das vor allem die Schwächsten.
frühkindliche Bildung
© picture alliance/Christian Charisius/dpa

„Ein Baby – das gibt es nicht“, verkündete einst der englische Psychoanalytiker D.W.Winnicot. „Es gibt nur ein Baby und einen Anderen.“ Er wollte damit sagen, dass kleinste Kinder eines „anderen“ Menschen in existentieller Weise bedürfen, um in die Welt eingeführt zu werden. Babys brauchen nicht nur rund um die Uhr Pflege und Versorgung, sie brauchen auch den „Anderen“ als Übersetzer der sie überwältigenden Eindrücke, um in ihm sicher geborgen zu lernen, die Welt mit all ihrer verwirrenden Vielfalt zu entziffern. Dieser „Andere“ bringt als dauernder Interpret,  Ordnung in das Chaos der Wahrnehmungen der kleinen Schützlinge.

Ohne diesen „Anderen“ wären kleinste und kleine Kinder hilflos, schutzlos und ahnungslos. Sie benötigen verlässliche Betreuer. Das waren traditionell die Mütter und Väter oder auch die Großeltern, Tanten und Onkel, Ersatzmütter wie Freundinnen der Familie und Kinderfrauen. Heute können es zudem auch Tagesmütter oder Krippenerzieher sein. Je kleiner das Kind ist, desto mehr Bedeutung kommt diesem „Übersetzer“ als Grundlage für eine vertrauensvolle Bindung zu. Je verlässlicher gebunden ein Kind seinen Weg beginnt, desto erfolgreicher wird sein Leben verlaufen.  Darum plädieren die Entwicklungspsychologen und Bindungsforscher wie etwa Karl-Heinz Brisch oder Hugo Lagercranz für eine Phase von ein bis zwei Jahren, bevor man ein Kleinkind in die Fremdbetreuung gibt.

Die Frühpädagogik, sie sich mit Fragen der Kleinkind-Bildung befaßt, ist in der Wissenschaft lange ein knappes Gut gewesen. Über Jahrzehnte gab es auf diesem Feld an den Universitäten in Deutschland weniger Professuren als beispielsweise für Japanologie. Und während man in anderen Ländern die Ausbildung des Betreuungspersonals für Krippen und Kindergärten professionalisierte, ließen die Deutschen ihre Jüngsten immer noch von unzureichend ausgebildeten sogenannten Kinderpflegerinnen betreuen. Dabei brauchen die Null- bis Dreijährigen weit mehr, als bloß satt und sauber versorgt zu sein. Sie brauchen eine altersgerechte, engmaschige Betreuung. Wenn es schon nicht praktisch darstellbar ist, dass eine Betreuungsperson in der Kita nicht mehr als zwei Kinder unter ihren Fittichen hat, dann muss bei den Kleinsten wenigstens das Verhältnis 1:3, das die Forschung weltweit empfiehlt,  gelten. Wer jemals Zwillings- oder Drillingsmütter erlebt hat, der weiß, dass es eine ungeheure Herausforderung bedeutet, sich um zwei oder drei Babys gleichzeitig zu kümmern. Fünf oder noch mehr Kleinkinder schaffen eine Konstellation, die Erzieher wie Kleinkinder an ihre Grenzen bringt.  

Frühkindliche Bildung soll für die Kinder da sein, nicht so sehr für die Eltern und schon gar nicht vorrangig für die Wähler. Auf gutem Niveau ist sie nur mit bestens ausgebildeten Erziehern möglich; mit einem kleinen Personalschlüssel, der Betreuungskontinuität garantiert; mit einem angemessenen Konzept und mit einer nicht zu langen Betreuungszeit für die Jüngsten von höchstens 30 Stunden je Woche. Das Gute-Kita-Gesetz, mit dem der Bund 5,5 Milliarden Euro bis 2022 über Länder und Kommunen ausschüttet, reicht nicht aus, um das zu gewährleisten. Bis zum Jahr 2025 werden mehr als 300.000 Erzieherinnen fehlen, wie das Deutsche Jugendinstitut berechnet hat. Weil man nicht warten will, bis das angehende Kita-Personal seine Hochschulausbildung abgeschlossen hat, breitet sich inzwischen das Modell der praxisorientierten Ausbildung aus, in dem Praktikanten die Kinder schon von Anfang an betreuen dürfen. Engpässe mögen sich so entschärfen lassen, aber dieses Personal ist wenig erfahren und wechselt häufig – was vor allem für die Kleinsten fatal ist.  Aus den Studien zur Bindungsentwicklung ist bekannt, dass sie aus wechselnden und immer wieder abgebrochenen Beziehungen nur eines lernen: Verlass ist auf niemanden. Wie gut ein Kleinkind in der Kita gedeihe, hänge sehr davon ab, wie viel Zeit es mit jemandem verbringe, „der nicht nur für es sorgt, sondern sich vor allem um es sorgt“, warnt die englische Entwicklungspsychologin Penelope Leach. 

Statt in die Personalentwicklung, einen kleinen Personalschlüssel und bessere Gehälter fließen die Milliarden aus Berlin ganz gegen den Rat der Fachleute, jedoch überwiegend in die Befreiung der Bürger von Gebühren. Mecklenburg-Vorpommern, nach einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung das deutsche Schlusslicht mit einem Personalschlüssel für die Kinderbetreuung von 4:1, verkündete die Gebührenbefreiung als eines der ersten Bundesländer. Die Landesregierung löste damit ein Wahlversprechen ein. Dabei mag die Gebührenfreiheit zwar die Wähler beglücken, doch für die Kinder ist sie kein Gewinn.

Beitragsfreiheit und Qualitätsverbesserung seien „de facto konkurrierende Ziele“, warnt zum Beispiel der Koblenzer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Stefan Sell. Auch aus soziologischen Gründen ist es dringend notwendig, vor allem mehr für die Qualität zu tun. Wie der amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger James Heckman festgestellt hat, investiert die Mittel- und Oberschicht viel in ihre Kinder, so wie auch intakte Familien weit mehr in ihre Kinder investieren als Alleinerziehende. Die Schere zwischen dem, was Familien aus den verschiedenen sozialen Gruppen für die Entwicklung ihrer Kleinsten tun können, hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter geöffnet. Dem damit verbundenen Auseinanderdriften der Gesellschaft kann man nur entgegensteuern, indem man früh in Bildung für die benachteiligten Kinder  investiert. Doch die politisch populäre Beitragsbefreiung für alle entzieht diesem Vorhaben die notwendige Finanzierung. „Bei reduzierten Mitteln“, mahnt der Ökonom Heckman, „müssen wir da investieren, wo der größte Gewinn erzielt wird“.  Dieser entsteht zweifellos bei den minder privilegierten Kleinsten. Durch Gebührenfreiheit indes und Schmalspur-Erzieher wird die defizitäre Krippe kaum an Qualität gewinnen können.