#FREEDOMFIGHTSFAKE
"Infodemie" überrollt die Welt: Europa muss jetzt ein scharfes Schwert einsetzen

Noch nie haben sich Desinformationen so schnell und flächendeckend verbreitet und hartnäckig festgesetzt
Sabine Leutheusser
© Tobias Koch

Schon vor Corona stellten Fake-News eine große Gefahr dar, egal ob für die Gesellschaft, die Wirtschaft oder die Politik. Die Folge: fehlendes Vertrauen. Heute schenken die Menschen nicht nur Politikern, sondern auch Ärzten keinen Glauben mehr. Dagegen hilft nur eines: verstärkte internationale Zusammenarbeit.

Desinformationen sind nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Krise ein massives Problem für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – man denke nur an die zahlreichen „Fake News“, die der amtierende US-Präsident seit Jahren regelmäßig verbreitet. Doch seit Covid-19 das Weltgeschehen dominiert, nimmt die Verbreitung von Desinformationen die Ausmaße einer globalen „Infodemie“ an, wie die Weltgesundheitsorganisation warnt.

Eine neue internationale Studie des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit belegt nun eindrücklich diese Einschätzung: Über die Hälfte der Deutschen ist aufgrund der Zunahme von bewussten Falschinformationen beunruhigt.

Im internationalen Durchschnitt sind es sogar 74 Prozent der Befragten. Dramatisch und regional unterschiedlich sind die Verschwörungserzählungen, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben: Der Glaube, dass Corona eine chinesische Biowaffe sei, dass Bill Gates mehr Macht habe als die jeweilige Regierung im befragten Land, oder dass es Zusammenhänge zwischen dem 5G-Netzausbau und der Corona-Pandemie gebe.

Vertrauen in Ärzte und Politik sinkt

Besorgniserregend ist vor allem das länderübergreifende sinkende Vertrauen nicht nur in Politiker, sondern auch in Ärzte. 70 Prozent der Deutschen sagen, dass bewusste Falschmeldungen zu Corona das Vertrauen in diese Berufsgruppen untergraben. Die Folgen solcher Desinformationen können dramatisch sein: So starben in den ersten Monaten der Corona-Krise zahlreiche Menschen, weil sie den Behauptungen glauben schenkten, das Trinken von Desinfektionsmittel würde das Covid-19-Virus besiegen.

Es ist nur ein Beispiel von vielen, aber es verdeutlicht, welche Gefahr Desinformationen – nicht nur für die Demokratie – sondern auch für Leib und Leben von Bürgerinnen und Bürgern haben können.

Die Erfahrungen durch die Infodemie müssen umfassende politische Maßnahmen in Deutschland und Europa nach sich ziehen. Einer der wichtigsten und nachhaltigsten Punkte ist auch hier das Thema Bildung: Mit einer gesteigerten Medienkompetenz, der Fähigkeit, Inhalte kritisch zu hinterfragen und dem Wissen, dass es gezielt eingesetzte Desinformationskampagnen gibt, kann schon einiges erreicht werden.

Bildungskonzepte für Menschen jeden Alters

Bildungskonzepte müssen nicht nur für die Schulen, sondern für Menschen jeden Alters entwickelt werden. Eine Bundeszentrale für digitale Bildung könnte Materialien über Desinformation und ihre digitalen Verbreitungswege für Schulen bereitstellen, und Weiterbildungskonzepte für alle entwickeln, die nicht mehr zur Schule gehen. Finnland arbeitet seit Jahren erfolgreich mit solchen Weiterbildungskonzepten, die die finnische Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Desinformationskampagnen machen.

Doch die Verbreitung von Desinformationen hat spätestens in der Corona-Krise ein Ausmaß erreicht, an dem Bildung allein nicht mehr als Allheilmittel ausreicht. Plattformen wie Facebook und Google haben den Werbemarkt monopolisiert. Das von ihnen eingeführte Direktzahlungsmodell berechnet den Werbetreibenden nur Gebühren, wenn der beworbene Artikel angeklickt wird.

Artikel, die Desinformationen enthalten, werden von den Nutzern tendenziell öfter angeklickt und geteilt. Der Algorithmus belohnt dies, indem er solche Artikel weiter verbreitet – zunehmende Polarisierung und Meinungsmonopolisierung sind die Folgen. Twitter und Spotify haben daraus Konsequenzen gezogen und vor den US-Präsidentschaftswahlen sämtliche politischen Werbeinhalte verbannt.

Auch hat Twitter begonnen, Falschmeldungen als solche zu kennzeichnen – sehr zum Ärger von US-Präsident Trump. Facebook indes verweigert solche Maßnahmen bisher. Die Folgen bekommt das soziale Netzwerk nun zu spüren: Mehr als 500 Unternehmen weltweit boykottieren Facebook aufgrund seines laschen Umgangs mit Hate Speech. Und auch die User können ihre Macht einsetzen und zukünftig auf Netzwerkanbieter setzen, die ihrer Verantwortung gerecht werden.

Denn Facebook-Gründer und CEO Mark Zuckerberg möchte dies anscheinend nicht. In einem Townhall-Meeting vor Mitarbeitern des Unternehmens betonte er trotzig, man wolle die eigene Firmenpolitik nicht ändern.

Politik muss mit scharfem Schwert gegen Desinformation vorgehen

Reaktionen wie diese zeigen, dass auch die Politik mit scharfem Schwert gegen die Verbreitung von Desinformationen vorgehen muss. Zum einen müssen strafrechtlich relevante Desinformationen analog zu strafrechtlich relevanter Hate Speech angezeigt, verfolgt und gelöscht werden. Dafür braucht es die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen bei Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden.

Zum anderen muss auch die Politik Plattformbetreiber beim Thema Desinformation in die Pflicht nehmen. Das bereits beschriebene Monopol von Netzwerken wie Facebook muss durch Maßnahmen des Kartell- und Wettbewerbsrechts auf EU-Ebene so eingeschränkt werden, das mehr Innovation, Meinungsfreiheit und Privatsphäre auf den digitalen Plattformen gewährleistet wird.

Die internationalen Zahlen der eingangs zitierten Studie zur Verbreitung von Desinformation zeigen: Das Vertrauen in die Presse und Medien ist in der Corona-Krise stark angeschlagen. Die Folge sind zunehmend gewaltsame Übergriffe auf Journalisten, auch in Deutschland, wie der Angriff auf zwei Fernsehteams während Demonstrationen gegen die Corona-Einschränkungen im Mai zeigen. Journalisten sind der Recherche und dem Faktencheck verpflichtet. Sie sind das intellektuelle Bollwerk im Kampf gegen die weltweite Infodemie. Legen Journalisten ihre Arbeit nieder, gibt es keine kritische Prüfung von Informationen.

Es braucht verstärkte internationale Zusammenarbeit

Um die pluralistische Medien- und Presselandschaft zu schützen, braucht es verstärkte internationale Zusammenarbeit und eine Initiative der Europäischen Union. So sollte die EU digitale Schutzräume für Journalisten schaffen und einen europäischen Sonderbeauftragten für Presse- und Meinungsfreiheit einsetzen. Mit einem Fonds zur Förderung weltweiter Pressefreiheit kann die EU-Kommission NGOs und Projekte unterstützen.

Schließlich sollten alle EU-Staaten den „UN Action Plan on the Safety of Journalists and the Issue of Impunity“ nicht nur unterstützen, sondern auch in ihre Gesetze integrieren. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bietet die große Chance, soziale Netzwerke mit geeigneten regulatorischen Maßnahmen in die Verantwortung zu nehmen, die nicht nur eine ausführlichere wissenschaftliche Erforschung von Desinformation im digitalen Raum bedingt, sondern auch die Einbeziehung dieser Expertise in die Gesetzgebung.

Adhoc-Maßnahmen wie das ständig nachgebesserte Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das die Justiz kaum stärkt, dafür aber den Plattformbetreibern die Entscheidung über strafrechtlich und nicht strafrechtlich relevante Inhalte überträgt, stellen die falschen Weichen.

Desinformationen sind Alarmsignale für eine liberale demokratische Gesellschaft, die auf Aufklärung und Vernunft baut.Gegen Desinformationen vorzugehen heißt, sich für die liberale Demokratie einzusetzen. So sollte es für Staat und Unternehmen selbstverständlich sein, Lösungen gegen die globale Infodemie zu finden.

Einige Plattformen und Regierungen haben dies bereits erkannt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Andere werden die Folgen ihrer Ignoranz erst erkennen, wenn sich die Vorbereitung von Desinformationen kaum mehr aufhalten lässt – ähnlich wie es mit dem Coronavirus selbst der Fall ist.

 

Der Artikel erschien am 22. Juli bei Focus online und ist auch hier zu finden. 

Globale Studie: Desinformationen durchdringen Gesellschaften weltweit

#FreedomFightsFake

Bill Gates habe die WHO gekauft und das Corona-Virus sei eine chinesische Biowaffe. Die Infodemie bringt eine Vielzahl hanebüchener Falschmeldungen hervor. Mit weitreichenden Folgen, wie eine repräsentative, globale Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung nun belegt. Erstmalig werden gezielt Aussagen zu „Corona-Fakes“ auf internationaler Ebene ausgewertet.

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