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Folgen von Corona
Blick auf die Bildungskrise

ifo Institut stellt umfangreiche Umfrage zur Bildung in der Coronakrise vor
Im August beginnt in zahlreichen Bundesländern das neue Schuljahr - ganz im Zeichen der Corona-Schutzmaßnahmen
Im August beginnt in zahlreichen Bundesländern das neue Schuljahr - ganz im Zeichen der Corona-Schutzmaßnahmen © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Büttner

Mitte März gingen die deutschen Schulen vom einen auf den anderen Tag in den „Lockdown“. Was folgte war das größte Experiment der bundesdeutschen Bildungsgeschichte. Über Monate hinweg wurden Millionen Schülerinnen und Schüler aus der Ferne beschult. Von wöchentlichen Aufgabenblättern über Telefonate mit den Lehrkräften bis hin zu täglichen Videokonferenzen im datenschutzrechtlichen Dunkelgraubereich versuchten die Lehrkräfte auf diese immense Herausforderung zu reagieren. Für die Eltern – insbesondere jene, die im Berufsleben stehen – war diese Zeit eine immense Belastung. Die Kinder und Jugendlichen wiederum durchlebten den schärfsten Einschnitt in ihrer Bildungskarriere und mussten sich nicht nur den Schulstoff mit einem hohen Maß an Selbstdisziplin aneignen, sondern auch auf wertvolle Sozialkontakte verzichten. Doch die Sommerferien wurden von Kultusministerien und Schulbehörden nicht ausreichend genutzt, um die Gefahr einer Wiederholung dieser Bildungskrise zu verringern. Umso wichtiger ist die Umfrage des ifo-Instituts, die detaillierte Einblicke in die Realität der vergangenen Monate ermöglicht und das Ausmaß der Krise wissenschaftlich fundiert aufarbeitet. Wie auf diese Krise mit konkreten Forderungen für die Schule der Zukunft reagiert werden kann, wird die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in den kommenden Tagen und Wochen auf der Grundlage eigener Studien präsentieren.

In normalen Zeiten verbringt ein deutsches Schulkind rund 7,4 Stunden in der Schule. Während der Coronakrise, so ein zentrales Ergebnis der Umfrage des ifo Instituts unter 1099 Eltern, hat sich diese Zeit auf 3,6 Stunden halbiert. 38 Prozent der Schülerinnen und Schüler lernten höchsten zwei Tage am Tag, bei 74 Prozent waren es nicht mehr als vier Stunden. Stattdessen stand Fernsehen, Computerspiele oder auch das Smartphone auf dem Programm: hier stieg die Zeit von 4,0 auf 5,2 Stunden. Ein Blick in den Vorabdruck des ifo Schnelldienstes (09/2020) zeichnet dabei ein nuanciertes Bild, auch wenn die Kritik des bayerischen Philologenverbands, dass nicht ausreichend nach Alter und Schulformen differenziert wurde, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Trotzdem handelt es sich um die bisher größte und wichtigste Untersuchung zu diesem Thema, zumal nach dem Bildungshintergrund der Eltern und dem Geschlecht unterschieden wird. Hier zeigen sich zum Teil eklatante Unterschiede: Mädchen haben mit drei Stunden im Schnitt eine halbe Stunde länger mit dem Lernen verbracht als Jungen, die sich überdurchschnittlich stark mit Handy, Computer und Spielkonsole vergnügten. Der Unterschied aufgrund des elterlichen Bildungshintergrunds – ansonsten einer der wichtigsten Faktoren für den Bildungserfolg – war dagegen eher gering. Kinder von Akademikern verbrachten 3,7 Stunden weniger mit schulischen Aktivitäten, bei Nicht-Akademikern waren es 3,8 Stunden. Allerdings wandten sich erste etwas stärker kreativen Betätigungen und dem Lesen und dem Musizieren zu. Besorgniserregend sind allerdings die Befunde, wenn nach leistungsstarken und leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern differenziert wird. Hier zeigt sich, so die Autorinnen und Autoren der Studie, dass während der Coronakrise die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler durchschnittlich eine halbe Stunde weniger pro Tag mit schulischen Aktivitäten verbrachten, als die leistungsstarken. Im Interview mit dem Bildungsjournalisten Dr. Jan-Martin Wiarda hat Professor Dr. Ludger Wößmann vom ifo Institut daher auch deutlich gemacht: „Fest steht, ausgerechnet die Schülerinnen und Schüler, die am dringendsten Unterstützung brauchten, wurden während der Schulschließungen allein gelassen. Ihre Eltern haben weniger mit ihnen gelernt, die Lehrkräfte haben sie seltener kontaktiert, und so saßen viele von ihnen vor ausgedruckten Aufgabenblättern und wussten nicht weiter.“

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass 78 Prozent der befragten Eltern den Schulbesuch für „sehr förderlich“ halten. Auch der Wert von Bewegung wird von 64 Prozent als sehr förderlich und 31 Prozent als „eher förderlich“ bewertet. Computer- oder Handyspiele werden dagegen, ebenso wie die sozialen Medien, überwiegend kritisch gesehen. Ob es sich dabei wirklich nur um „daddeln“ und nicht doch um ein notwendiges Surrogat für ausgefallene Sozialkontakte im realen handelt, steht freilich auf einem anderen Blatt. Mit Blick auf die Infektionszahlen und eine mögliche „zweite Welle“ scheint es unwahrscheinlich, dass im nächsten Schuljahr eine flächendeckende Rückkehr zum schulischen Normalbetrieb möglich ist.  Umso schwieriger ist das Bild, dass das ifo Bildungsbarometer in Bezug auf die Aktivitäten der Schulen und Lehrkräfte zeichnet. 45 Prozent hätten überhaupt keinen gemeinsamen Unterricht per Videoanruf durchgeführt, ebenfalls 45 Prozent hätten keine individuellen Gespräche geführt. Die große Mehrzahl hätte dagegen Aufgabenblätter versandt und eingesammelt, wobei immerhin 17 Prozent laut Aussagen der Eltern zu diesen überhaupt kein Feedback gaben. Trotzdem gaben erstaunliche 85 Prozent der Eltern an, gut oder sehr mit der Situation klargekommen zu sein, auch wenn es für rund ein Drittel eine erhebliche psychische oder physische Belastung war. Zusätzlich zur Elternstichprobe wurde auch ein repräsentativer Durschnitt der Gesamtbevölkerung befragt. An die Bildungspolitik gerichtet wünschen sich 71 Prozent der Befragten eine bundesweit einheitliche Entscheidungsfindung, 73 Prozent stimmen aber grundsätzlich zu, dass die Schulschließungen die richtigen Maßnahmen waren. Etwas überraschend angesichts der recht hitzigen Diskussion um die Abschlussprüfungen ist der Befund, dass schulartübergreifend mehr als siebzig Prozent die Durchführung dieser Prüfungen begrüßt hat. Wie es weitergehen soll, ist dagegen weniger klar: ist man sich bei der Unterstützung für benachteiligte Kinder noch einig, gibt es große Unterschiede bei den Themen Maskenplicht, Freistellung aller Lehrkräfte aus Risikogruppen und Handy-Tracking.

Bereits in einer vergangenen Publikation hat Ludger Wößmann auf die immensen Folgekosten des ausbleibenden Lernens hingewiesen. Auch das vorliegende Bildungsbarometer betont noch einmal, dass es zu „Einbußen im späteren Erwerbseinkommen in Höhe von 3-4 Prozent“ kommen könnte. Die Ergebnisse des ifo Bildungsbarometers sind also ein gehöriger Schuss vor den Bug des föderalen Bildungstankers. Eine Rückkehr zum Normalbetrieb oder, bei entsprechendem Pandemieverlauf, die Implementierung von Konzepten einer hybriden Schule, die digitales Lernen mit Präsenzunterricht verknüpft, sind die Voraussetzung dafür, dass sich die Bildungsungerechtigkeit nicht noch weiter vergrößert und die Eltern entlastet werden. Wie der UN-Generalsekretär António Guterres gestern anlässlich  der Veröffentlichung des Dossiers über Bildung und COVID-19 anmerkte: „Jetzt stehen wir vor einer Generationskatastrophe, die unermessliches menschliches Potenzial verschwenden, jahrzehntelangen Fortschritt untergraben und fest verwurzelte Ungleichheiten verschärfen könnte.“ Mit anderen Worten: die Weichen für die Zukunft des Bildungssystems müssen nun gestellt werden.

Am kommenden Freitag stellt die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit daher einen Trendguide zur Zukunft der Schule vor, der vom Zukunftsinstitut erarbeitet worden ist. Der Zukunftsforscher Dr. Daniel Dettling argumentiert darin, dass sich ausgehend von der Coronakrise Schule ganz generell verändern wird. Auch Ludger Wößmann kommt zu Wort und blickt auf die notwendigen Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler nun brauchen. „Wichtig bleiben die zentralen Kompetenzen wie Sprache, Mathematik und weitere Grundkompetenzen“, so Wößmann in unserem Trendguide, „die Frage ist, wie wir beides - Umgang mit Digitalisierung und Stärkung dieser Kompetenzen - in Einklang bringen können." Die heute veröffentlichte Umfrage zeigt dabei, wie wichtig die von Liberalen bereits seit langem geforderte Digitalisierung des Bildungssystems ist. Dabei geht es nicht allein um Infrastruktur und Tablets, sondern auch und vor allem um einen mündigen Umgang mit digitalen Medien. Sportliche Bewegung und digitalfreie Räume gehören ebenso dazu wie Medienkompetenz von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften. Die heutige Umfrage zeigt: es gibt keinen besseren Zeitpunkt, um sich nun Gedanken über die Schule der Zukunft zu machen.