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Fall Carola Rackete
Racketes Mission ist ehrenwert - die Migrationsfrage löst sie nicht

Gastbeitrag von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
"Sea Watch 3"-Kapitätnin Carola Rackete wird von der italienischen Polizei verhaftet

"Sea Watch 3"-Kapitätnin Carola Rackete wurde von der italienischen Polizei verhaftet

© picture alliance / AP Photo

Dieser Artikel erschien erstmalig am 02. Juli 2019 auf Focus Online.

"Jeder Kapitän ist verpflichtet, allen Personen, […] die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, Beistand zu leisten, soweit er dazu ohne ernste Gefahr für sein Schiff und für dessen Besatzung und Reisende imstande ist."

Das 1910 auf der Brüsseler Seerechtskonferenz verabschiedete „Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über Hilfeleistung und Bergung in Seenot“ ist seit über 100 Jahren Teil des weltweiten humanistischen Erbes. Artikel 11 des Abkommens definiert eindeutig, dass die Rettung von in Not geratenen Menschen auf See eine ethische Verpflichtung für alle Kapitäne ist – in Friedenszeiten wie im Krieg. Carola Rackete ist bei der Rettung von 40 in Seenot geratenen Migranten daher nicht nur ihrer moralischen, sondern insbesondere auch ihrer rechtlichen Verpflichtung als Kapitänin der „Sea Watch 3“ nachgekommen.

Auch wenn der Aufschrei über die Verhaftung Carola Racketes berechtigt ist, so wird oft vergessen: Die deutsche Politik trägt Mitschuld daran, dass in Italien mit Matteo Salvini und der Lega rechtspopulistische Parteien die politischen Geschicke leiten. Zu lange wurden Staaten wie Griechenland, Spanien und eben Italien bei der Rettung und Versorgung von Flüchtlingen im Stich gelassen. Und auch heute noch scheitert eine faire Verteilung von Flüchtlingen in Europa am Widerstand der osteuropäischen Nationalisten.

Abschottungspolitik wird Sterben der Migranten nicht beenden

Langfristig lässt sich der Tod von Migranten im Mittelmeer mit der gegenwärtigen Abschottungsmentalität nicht verhindern. Das beweist ein nüchterner Blick auf die Zahlen: Die Flucht über das Mittelmeer war noch nie so gefährlich wie heute. Durchschnittlich sechs Menschen ertrinken pro Tag im Mittelmeer. Selbst 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, kamen prozentual weniger Flüchtlinge ums Leben als heute.

Doch auch die oftmals angebrachte Kritik, Seenotretter vor der libyschen Küste spielten den Schleppern in die Hände, ist angreifbar. Zwar gehört zur Grundkonzeption nordafrikanischer Schlepperbanden, dass sie die humanitäre Hilfe europäischer Schiffe schamlos ausnutzen und dafür unzählige Menschenleben riskieren. Aber würden wir deshalb den zahlreichen vor der libyschen Küste kreuzenden Handels- und Kriegsschiffen verbieten, ertrinkende Menschen zu retten? Bestimmt nicht – und so kann und darf aus juristischer Perspektive auch niemand Schiffe wie die „Sea Watch 3“ daran hindern, Menschen in internationalen Gewässern zu retten.

Europa steht vor einem politischen Dilemma

Politisch bleibt für uns Europäer das Dilemma. Auf der einen Seite steht die Pflicht zur Hilfe für Menschen in Not, die Teil des humanistischen Erbes ist, auf das sich die europäische Staatengemeinschaft beruft. Gleichzeitig wächst auch aus der europäischen Bevölkerung seit Jahren der Druck, Schlepperbanden effektiv zu bekämpfen und Flüchtlingsbewegungen einzuhegen. 

Da nachhaltige Lösungen oft erst langfristig Wirkung zeigen, muss kurzfristig der Tod weiterer Menschen im Mittelmeer verhindert werden. Und dazu muss die Seenotrettung wieder unter staatliche Kontrolle gebracht werden. Es war ein schwerer Fehler der Bundesregierung, das Mandat der Mission Sophia nicht zu verlängern und die Seenotrettung und den Kampf gegen Schlepperbanden der bei weitem nicht ausreichend ausgebildeten libyschen Küstenwache zu überlassen. Eine Rückkehr zu einer geordneten und effektiven Rettung von Hilfsbedürftigen und Bekämpfung von Schlepperbanden ist alternativlos. 

Zu einer nachhaltigen Lösung gehören sichere Flucht- und Migrationsbewegungen. Sie werden nur durch strukturelle Verbesserungen auf den Routen im Subsahararaum entstehen, aus dem der Großteil der weltweit flüchtenden Menschen nach Europakommt. Bereits bei der Migration aus den Heimatländen hin zur nordafrikanischen Mittelmeerküste sterben weit mehr Menschen als im Mittelmeer selbst. Will die Weltgemeinschaft dieses Leid stoppen, müssen supranationale Organisationen wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen für Schutzzonen auf dem afrikanischen Kontinent sorgen. Und die EU muss endlich ihre Hausaufgaben machen, zu der auch legale Wege zur Einwanderung nach Europa gehören. Im Mittelpunkt muss eine europäische Mittelmeer-Strategie stehen, die besonders den Menschen vor Ort hilft.