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Europawahl
Margrethe Vestager: Eine Liberale mit Mission

EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager spricht über den geplanten Zusammenschluss von Alstom und Siemens

EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager

© picture alliance / AA

Es gehört zu den großen Stärken in der Kommunikation konservativer Politiker, ihre Positionen und Entscheidungen als alternativlos darzustellen. So war es auch nach den ersten Hochrechnungen bei den Europawahlen: Trotz sich abzeichnender massiver Stimmverluste tönte aus allen Ecken des politischen Konservatismus, dass selbstverständlich der deutsche EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber der kommende Präsident der Europäischen Kommission werden müsse.

Was die Herolde der CDU und EVP zu übersehen scheinen, ist, dass es eine Alternative zum konservativen Phlegmatismus auf Kommissionsebene gibt. Eine liberale Alternative, deren Chancen auf das Amt des Kommissionspräsidenten durch die Stimmverluste von Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten (S&P) im Kurs gestiegen sind: Margrethe Vestager, die dänische EU-Wettbewerbskommissarin und ehemalige Wirtschafts- und Innenministerin ihres Heimatlandes.

Da die Volksparteien EVP und S&P keine gemeinsame Mehrheit mehr im Europaparlament stellen können und bei der Mehrheitsbildung auf andere Parteien angewiesen sind, könnte die liberale ALDE-Fraktion, der Margrethe Vestager angehört, zum Königsmacher im Europaparlament werden – verbunden mit der Forderung, die nächste EU-Kommissionspräsidentin zu stellen. Dass Frau Vestager bereit wäre, diese Verantwortung zu übernehmen, erklärte sie bereits vor der Europawahl.

Jean-Claude Junckers Erbin?

Vestager wird medial oft als „harte, zielstrebige, aber immer faire“ Politikerin beschrieben, die die den Dänen immanente Bodenständigkeit perfektioniert hat – Eigenschaften, die auch ihre politische Agenda kennzeichnen. Während Vestager in ihrem Heimatland schon lange Kultstatus genießt, erlangte sie europaweit spätestens mit ihren wirtschaftspolitischen Entscheidungen als EU-Wettbewerbskommissarin Bekanntheit. 

Als die beiden europäischen Industriegiganten Siemens und Alstom – mit breiter Unterstützung der deutschen Regierung – zu einem europäischen Superkonzern fusionieren wollten, schob Vestager diesen Plänen einen Riegel vor. Hätten sich die beiden Konzerne zu einem „europäischen Champion“ zusammengeschlossen, wären ganze Industriesparten, wie die Signaltechnik, vom neuen Superkonzern dominiert worden. Das hätte nicht nur gegen die EU-Wettbewerbsregeln verstoßen, sondern auch zu einem industriepolitischen Desaster führen können – schließlich haben Monopole selten zu einer funktionierenden Marktwirtschaft beigetragen.

Europäische Wirtschaft muss konkurrenzfähig bleiben

Für ihre Entscheidung musste sich Vestager vor allem aus dem konservativen Lager viel Kritik gefallen lassen: Sie gefährde Arbeitsplätze und verhindere mutwillig, dass die europäische Wirtschaft auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleibe. Manch ein Politiker wäre unter dem Druck der nationalstaatlichen Interessen eingeknickt, doch Margrethe Vestager ist eine Frau auf einer Mission: Sie dient den Verbrauchern und gewährleistet Wettbewerb, Produktvielfalt und faire Preise.

So scheut Vestager auch nicht den Kampf gegen die größten Monopole, die derzeit den Weltmarkt beherrschen: Facebook, Google & Co. 2017 belegte sie Facebook mit einer Strafe in dreistelliger Millionenhöhe, weil der Internetkonzern bewusst falsche Angaben bei der Übernahme des weltgrößten Messenger-Dienstes WhatsApp machte. Ebenfalls 2017 wurde Google aufgrund der Ausnutzung seiner monopolistischen Strukturen von Vestagers Kommission zu einer Strafe in Höhe von 2,4 Milliarden Euro verdonnert – gefolgt von 4,3 Milliarden (2018) und 1,49 Milliarden Euro (2019). 

Vestagers Kampf für die freie Marktwirtschaft hat ihren Namen auch über den großen Teich zu unseren amerikanischen Nachbarn getragen. Dort ist sie eine der wenigen Politikerinnen des EU-Apparats, die auch bei weniger europaversierten Politikern Bekanntheit erlangt hat. Donald Trump soll sie im Gespräch mit Jean-Claude Junker schon als „tax-lady“ bezeichnet haben. So verwundert es nicht, dass Vestager auch in den Vereinigten Staaten ihre Fans hat. Auf Tech-Events wie dem SXSW wird sie gefeiert, wie früher Mark Zuckerberg – bevor Facebook in Teilen der Politik und Gesellschaft in Ungnade gefallen ist.

Klimaschutz und digitaler Wandel

Doch nur Konzerne zu Milliardenstrafen zu verdonnern, würde Vestagers Vision als Europäerin unrecht tun – die dänische Pfarrerstochter fordert mehr für unseren Kontinent: Neben einer effektiven und widerstandsfähigen Wirtschaft gehören der europäische Klimaschutz und die Förderung des digitalen Wandels zu ihren politischen Prioritäten. Für Vestager liegen die Lösungen auf weltweite Herausforderungen in der verstärkten Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Wenige andere Politiker wissen marktwirtschaftliches Knowhow, politische Kompetenz und proeuropäische Visionen so geschickt zu verknüpfen wie die resolute Dänin. Nicht umsonst bezeichnete der Ökonom und Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Karl-Heinz Paqué, Vestager kürzlich als „die wahre Erbin Ludwig Erhards“. 

Und noch etwas hebt Vestager von den Spitzenkandidaten der Europawahl ab: Sie ist eine Frau – und dass die Europäische Kommission auch mal von einer Frau geleitet wird, ist laut Margrethe Vestager schon „lange überfällig“. Das wird man im konservativen Lager nicht gerne hören – doch wo sie recht hat, hat sie recht.