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Europawahl
Europa vor politischem Erdbeben?

Erstmals seit 40 Jahren steht bei einer Europawahl wirklich viel auf dem Spiel. Das Ergebnis kann die politische Landschaft des Kontinents verändern.
Karl-Heinz Paqué

Karl-Heinz Paqué

© Photothek / Thomas Imo

Vielleicht spüren die Menschen, dass etwas Bedeutendes im Gang ist. Aus den Niederlanden jedenfalls kommen erste Meldungen, die Wahlbeteiligung liege deutlich höher als bei früheren Europawahlen. Und in der Tat: Es geht um eine wichtige Richtungswahl, und zwar in zweierlei Hinsicht.

Zum einen wird erstmals der aktuelle Pegelstand des wachsenden Rechtspopulismus gemessen, und zwar gleichzeitig und überall in der EU. Zum Zeitpunkt der letzten Wahl 2014 existierten natürlich bereits in allen Ländern Parteien, die dezidiert rechtsnationales Gedankengut vertraten. Aber zu ihrem eigentlichen Siegeszug setzte die Bewegung erst danach an - mit dem Brexit-Vote 2016 im Vereinigten Königreich, mit Regierungsbeteiligungen in Österreich und Italien, mit Wahlerfolgen fast überall einschließlich Deutschland, wo die AfD seit September 2017 im Deutschen Bundestag sitzt. Wo stehen also die Rechtspopulisten heute, nachdem es zur Normalität geworden ist, dass sie ihre Stimme erheben und offenbar beträchtliche Resonanz finden - und zwar weltweit, wie die Wahlsiege von Donald Trump 2016 und von Jair Bolsonaro 2018 zeigten? Ist die Bewegung unwiderstehlich? Und steckt sie auch den weithin wahrgenommenen Bruch der österreichischen Regierung weg, der wenige Tage vor der Wahl durch den Skandal um den FPÖ-Vizekanzler Heinz Strache ausgelöst wurde?

So unterschiedlich die nationalen Einzellagen sind, sie spiegeln eine Spaltung der westlichen Gesellschaften wider, die sich wohl doch überall findet: zwischen den Anhängern eines politischen Establishments, das mit den Trends von Globalisierung und Digitalisierung gut zurecht kommt, und jener anscheinend zunehmenden Zahl von Menschen, die sich eher als bodenständige Verlierer der Trends sehen und vom urban-intellektuellen Milieu ausgegrenzt und dominiert fühlen. Der britische Journalist David Goodhart hat diese beiden Gruppen treffend als "Anywheres" und "Somewheres" bezeichnet. Sein Buch "The Road to Somewhere" erschien 2017. Die Europawahl ist ein erster umfassender Test seiner Spaltungsthese - gleichzeitig abgehalten in 28 EU-Ländern, und dies auch noch mit Blick auf ein Thema, nämlich "Europa", das wie kein zweites bei den bodenständigen "Somewheres" das Gefühl der Entfremdung befördert hat und in rechtspopulistischen Kreisen zum Symbol der technokratischen Übermacht einer anonymen selbsternannten Elite geworden ist.

Eine Richtungsentscheidung: Das ist die Europawahl aber auch innerhalb der breiten demokratischen Mitte. Seit rund vier Jahrzehnten wird das Europäische Parlament - implizit oder explizit - durch eine Art große Koalition dominiert, und zwar aus den zwei Parteifamilien der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokraten (S&D). Diese Dominanz bröckelte zwar über die Jahre, hat aber bisher überlebt, so dass wesentliche verantwortliche Positionen zwischen beiden politischen Familien aufgeteilt werden konnten. Der Aufstieg des Rechtspopulismus, aber auch eine kräftige Verschiebung innerhalb der demokratischen Mitte zu Gunsten von Liberalen und Grünen könnten am Wochenende diese Dominanz beenden. Dazu beigetragen hat besonders der Aufstieg jener liberalen Gruppierung von Parteien, die sich in der Alliance for Liberals and Democrats for Europe (ALDE) zusammengeschlossen hat bzw. ihr nahe steht. Neue liberale Kräfte sind in Mittel- und Osteuropa entstanden, aber vor allem der Aufstieg von Albert Riveras "Ciudadanos" in Spanien und Emmanuel Macrons "La Republique en Marche" in Frankreich haben das Gleichgewicht verändert. "Ciudadanos" sind Mitgliedspartei der ALDE, und zwischen "La Republique en Marche" und ALDE gibt es seit wenigen Tagen eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit nach der Europawahl, so dass die liberale Fraktion im Europäischen Parlament künftig die drittgrößte sein dürfte. Da auch die grüne Fraktion mit Gewinnen rechnen kann, dürfte es zum Ende des tradierten Machtkartells aus EVP und S&D kommen.

Geschieht dies, ist es ein beachtliches politisches Erdbeben - mit weitreichenden Folgen. Personell wird es den üblichen nationalen und parteipolitischen Handel mit Spitzenposten nach der Wahl maßgeblich verändern. Was dabei herauskommen wird, ist heute völlig unklar. Wichtiger noch ist aber die programmatische Wirkung: Es verlagert sich das Gewicht innerhalb der politischen Mitte von Parteien mit "Volkscharakter" zu Parteien mit "Konzeptcharakter", wobei - grob zugeordnet - die liberale und demokratische Gruppe für marktwirtschaftlichen Fortschritt und Innovation steht, die Grünen dagegen für eine umfassende ökologische Transformation. In dieser Gewichtsverlagerung liegt eine große Chance: Gerade das Machtkartell der großen Parteien sorgte in der Vergangenheit für jene technokratische Abgehobenheit, die dann von der Wählerschaft frustriert wahrgenommen wurde und den Rechtspopulismus anfütterte. Weg von der Verwaltung des Bestehenden und hin zu Reformen für mehr Dynamik in Europa, dies müsste die neue Leitlinie sein, unter die eine neu strukturierte politische Mitte antritt.

Fazit: Nach dem Sonntag, 26. Mai 2019 könnte sich die politische Landschaft in Europa verändern. Und zwar nicht nur wegen des Aufstiegs der Populisten zum Schlechteren, sondern auch zum Besseren: durch das Wachstum von Konzeptparteien der Mitte, die in ihren Programmen die Zukunft Europas besonders ernst nehmen.