EN

Europawahl
Die Wähler haben auf den Populismus klug geantwortet

Europa wird politisch pluraler. Das ist gut so.
Karl-Heinz Paqué

Karl-Heinz Paqué

© Photothek / Thomas Imo

Eine unwiderstehliche Kraft, die Angst macht: So oder ähnlich deutete das politische Establishment über Jahre den Aufstieg des Rechtspopulismus und Nationalismus. Mit der Wahl zum Europäischen Parlament haben die EU-Wähler darauf erstmals eine überzeugende Antwort gegeben. Sie hat im Wesentlichen zwei Facetten.

Erstens ist die Wahlbeteiligung fast überall drastisch gestiegen, auch in Deutschland. Die rechts- und linkspopulistischen Parteien schnitten dabei eher enttäuschend ab, jedenfalls im Vergleich zu ihren Höhenflügen in Umfragen der letzten Jahre. Offenbar motivierte und mobilisierte die Bedrohung von Rechts vor allem das bürgerliche Publikum der Mitte, zur Wahl zu gehen - und die politische Mitte zu stärken. Das ist ermutigend: Wenn eine Bedrohung ernst wird, ist das breite Bürgertum wohl doch nicht ganz so politisch lethargisch, wie gemeinhin angenommen, und zwar überall in Europa. Unsere Demokratie ist wohl doch robuster, als zu befürchten war. Und was in Europa geschieht, ist den Menschen wohl doch nicht so egal, wie viele Beobachter geglaubt haben.

Die zweite Facette betrifft die Zusammensetzung der Mitte. Hier gab es eine drastische Gewichtsverlagerung - weg von den traditionellen Europäischen Volksparteien (EVP) und den Sozialdemokraten hin zu den "Konzeptparteien", den Liberalen und den Grünen. Größter Gewinner war dabei die Alliance of Liberals and Democrats for Europe (ALDE), die nun wohl über gut 100 Sitze verfügt und zur drittstärksten Fraktion wurde - dank eigener Zuwächse, aber vor allem dank des vereinbarten Zusammenschlusses mit der zentristischen "La République en Marche" von Staatspräsident Emmanuel Macron in Frankreich. Damit ist das Machtkartell von Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten zerstört - nach 40 Jahren Dominanz im Europäischen Parlament. Es bildete eine Art permanente Große Koalition, die es nun nicht mehr gibt.

Manche Beobachter sprechen nun von einer "Fragmentierung" des Parlaments, so als ob damit etwas Wertvolles und Wichtiges zerstört würde, nämlich die Harmonie zwischen den Großen. Genau diese Sicht missdeutet die Entwicklung, die eher den Charakter einer Emanzipation hat: Zu Ende ist die Zeit, in der parlamentarischer Pluralismus in Europa nur auf dem Papier stand, in den Hinterzimmern aber zwischen EVP und S&D alles ausgehandelt wurde - zum Ärger vieler europäischer Bürger, die sich ausgeschlossen fühlten und aus Verdruss darüber nicht zur Wahl gingen oder Populisten wählten. Seit Sonntag besteht die Chance, dies zu ändern: durch eine neue Debatten- und Kompromisskultur unter starken "Konzeptparteien", bei denen vor allem Programme und nicht Personen im Vordergrund stehen. Das ist gut für die Demokratie. Es könnte helfen, die Spaltung in unseren Gesellschaften zu mindern - zwischen denjenigen, die den politischen Ton angeben und jenen, die sich nicht repräsentiert fühlen.

Allerdings gibt es dabei auch Risiken: Pluralismus ist ein demokratischer Wert an sich, aber er muss natürlich so genutzt werden, dass er nicht in Chaos und Entschlusslosigkeit endet, wie es leider jüngst im Vereinigten Königreich im Zuge der Brexit-Debatte zu beobachten war. Es lastet also eine große Verantwortung auf den Politikern, die für die ALDE und die Grünen in das Europäische Parlament einziehen. Sie müssen beweisen, dass sie tatsächlich Zukunftskonzepte haben, die überzeugen und in vernünftigen Kompromissen durchgesetzt werden können. Genau dies ist der richtige Weg, um den Rechts- und Linkspopulismus erfolgreich zu bekämpfen: kein Macht- und Schweigekartell, aber kein larmoyantes Moralisieren, sondern die offene parlamentarische Auseinandersetzung.

 

Karl-Heinz Paqué, 62, ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt und Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

 

Der Artikel erschien am 27.05.2019 in der WirtschaftsWoche und ist auch hier zu finden.