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Europakongress 2018
„Das Risiko des Zerfalls der EU ist sehr hoch"

Politikwissenschaftler Prof. Dr. Herfried Münkler im Interview
Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

© picture alliance / Soeren Stache/dpa

Ausrufung der Weimarer Republik, Ende Erster Weltkrieg, Reichspogromnacht und zuletzt der gestrige Volkstrauertag: Die letzten Tage standen im Gedenken an einschneidende Ereignisse in Deutschland, die Anlass geben, Historisches zu reflektieren. Doch an solchen Tagen schaut man nicht nur zurück, sondern auch – mit Blick auf historische Parallelen – in die Zukunft. Rechtsruck in Europa, gespaltene Gesellschaften, gefährdeter Zusammenhalt durch Brexit und Co. Eine besonders drängende Frage ist somit: In welche Richtung steuert Europa? Am 14. Dezember findet in Berlin der Europe Congress mit hochkarätigen Rednern statt – darunter auch der renommierte Politologe Prof. Dr. Herfried Münkler. Im Interview mit freiheit.org spricht er bereits drei Wochen vorher über Geschichte, Veränderungen in unserer Gesellschaft und die Zukunft Europas.

Freiheit.org: Herr Münkler, die letzten Tage – und auch die kommenden mit dem Volkstrauertag – stehen im Zeichen des Endes des Ersten Weltkriegs. Am 11. November 1918 hieß es Waffenstillstand und die Weimarer Republik wurde zuvor schon am 9. November ausgerufen. Wie wichtig sind diese Tage, ein Jahrhundert später, heute noch für Deutschland?

Herfried Münkler: Unmittelbar spielt das für Deutschland und das politische Bewusstsein keine Rolle. Der Gedanke, Deutschland wäre womöglich ein Kaiserreich, ist nach hundert Jahren so fern – das alles ist wirklich in einem nachhaltigen Sinne Geschichte. Doch der Erste Weltkrieg ist die Urkatastrophe Europas und war für den Verlauf des 20. Jahrhunderts entscheidend. Republiken und Demokratien wiederum brauchen Gründungserzählungen. Wenn das zusammenkommt, dann ist der 9. bzw. 11. November einer der zentralen Tage im Selbstverständnis der politischen Ordnung, in der wir uns bewegen. Das deutsche Grundgesetz fußt in vielerlei Hinsicht auf der Weimarer Reichsverfassung. In mancher Hinsicht ist die Bundespolitik der Versuch, das wieder aufzunehmen. Natürlich gibt es eine Reihe von Unterschieden. Preußen als Staat, der für Weimar von elementarer Bedeutung war, gibt es nicht mehr. Es tritt auch die Frage ins Zentrum, warum die Weimarer Republik gescheitert ist. Diese Bedrohung einer Demokratie ist es etwas, worüber wir uns in den letzten 60 Jahren weniger Gedanken gemacht haben. Geschichte wiederholt sich nicht, geschichtliche Analogien sind nur Krückstücke, um uns zu orientieren. Aber heute ist das Scheitern von Weimar als politisches Menetekel wieder deutlich präsenter. Bestimmte Aspekte, wie die Aufspaltung des Parteiensystems, der relative Niedergang der Volksparteien bzw. Parteien der Mitte – da lässt sich etwas spiegeln. Diese Selbstverständlichkeit der alten Bundesrepublik ab den 1950er Jahren mit den drei Parteien CDU, SPD und FDP hat sich bereits mit der Koalition Gerhard Schröder – Joschka Fischer 1998 verändert. Doch zuletzt hat sich noch mehr geändert. Es ist nicht mehr so leicht, Regierungen zu bilden; die letzte Regierungsbildung war ein sehr viel schwieriger Vorgang als man es aus der Geschichte der Bundesrepublik gewöhnt ist. Weimar ist das Schreckenszeichen, das an der Wand erscheint.

Am 9. November 1938 brannten in ganz Deutschland Synagogen, es kam zur Reichspogromnacht. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass das in den Medien größere Thema war. Können Sie erklären, warum?

Der 9. November ist viermal präsent in der deutschen Geschichte: Ausrufung der Republik und Ende Erster Weltkrieg 1918, Hitlerputsch 1923, Reichspogromnacht 1938 und Mauerfall 1938. In mancher Hinsicht ist die 80-jährige Erinnerung an die Reichspogromnacht in diesem Jahr zentraler gewesen als die 100-jährige Ausrufung der Republik und das Ende Erster Weltkrieg, denn es gibt eine Renaissance von nationalistischen, fremdenfeindlichen, teilweise antisemitischen und antimuslimischen Positionen innerhalb des politischen Spektrums und innerhalb der Bevölkerung, sodass relativ viele Redaktionen eher den 1938 zum Bezugstag genommen haben, um Warnschilder aufzustellen. Sicherlich spielt der Hitlerputsch von 1923 in München eine geringere Rolle und der Mauerfall ist kein runder Erinnerungstag. Ich glaube aber, dass geschichtspolitisch das Ende des Weltkriegs und die Ausrufung der Republik die Aufmerksamkeit verdient hat. Der Weg nach 1938 beginnt 1918. Er beginnt in dem Moment, als Friedrich Ebert dafür sorgt, dass nicht die sozialistische Republik ausgerufen wird unter der Voraussetzung, dass Wilhelm Groener, der neue starke Mann des Heeres, ihm loyale Truppen zur Verteidigung der Republik zur Verfügung stellt. Das Problem ist, dass die Truppen, die zurückkommen, sich auf der Stelle auflösen. Die nutzen ihre neue Freiheit, um auf der Stelle nach Hause zu gehen. Mit der Folge, dass die Reichregierung sich genötigt sieht, Freikorps aufzustellen. Im Augenblick der Gründung der neuen Republik beginnt die unglückselige Entwicklung. Die, die in den dreißiger Jahren Mitglied von SA oder SS sind, haben in den Freikorps ihre Gewalterfahrungen gemacht – und die waren oft antisemitisch konnotiert. Wer vernünftig über 1938 reden will, muss über 1918 mitreden.

Herfried Münkler ist ein deutscher Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte

Herfried Münkler ist ein deutscher Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte

© Herfried Münkler

Wie bewerten Sie heute, 100 Jahre später, die Gründung der Weimarer Republik und ihre Bedeutung? Man könnte argumentieren, dass Deutschland, bspw. im Vergleich zu Frankreich oder auch den USA, sehr lange bis zur Gründung der Republik gebraucht hat.

Das ist eine schwierige und differenzierte Geschichte. Der politische Neuanfang leidet von vornherein darunter, dass er das Resultat einer Kriegsniederlage ist. Diese Hypothek wird die Weimarer Republik nie los, auch wenn sie letztlich nicht an Versailles, sondern an der Wirtschaftskrise scheitert. Kaiserreich hin, Monarchie her, das allgemeine, unabhängige Wahlrecht für Männer – nur für Männer, aber immerhin – ist etwas, das in Deutschland sehr viel früher real war als in den meisten westlichen Demokratien, wo das Wahlrecht in sich gestuft war und an soziale Voraussetzungen geknüpft war. Deutschland geht keinen dramatischen Sonderweg; der Reichkanzler wird zwar nicht aus dem Reichstag auf Grundlage der Koalitionsbildung des Reichs gewählt. Das ist erst am Ende des Ersten Weltkriegs der Fall. Aber der Reichskanzler muss eine Mehrheit der Abgeordneten finden, um den Haushalt verabschieden zu können. Mit der Gründung des Bismarck-Reiches gibt es in Teilen schon eine Demokratisierung. Baden ist der am stärksten demokratisierte Staat in Deutschland, Preußen am wenigsten. Vom November 1918 offenbart sich eine Reihe von Verbindungslinien, aber auch tiefe Brüche. Diese tiefen Brüche treffen das politischen Personal: Diejenigen, die die Weimarer Republik über weite Teile gestaltet haben, leiden darunter, dass sie nicht wissen, wie viel Macht ihnen plötzlich zugefallen ist und haben die Neigung, hinzuschmeißen. Das erklärt die Fülle der Regierungen, die wir zur Zeit der Weimarer Republik haben.

Sie sind Experte für den Ersten Weltkrieg. Welche Bedeutung hatte der Krieg für die Weimarer Republik bis heute?

Für Deutschland ist die unmittelbare Verbindungslinie verloren, da liegt der Zweite Weltkrieg und die Nazi-Zeit dazwischen, das ist eine sehr tiefe Zäsur. Wenn man das kollektive Gedächtnis der Deutschen mit dem der Briten und Franzosen vergleicht, ist der „Große Krieg“, wie sie ihn nennen, zentraler Erinnerungspunkt der nationalen Geschichte. Für uns hat der Zweite Weltkrieg eine ganz andere und zentralere Bedeutung. Die Franzosen verdrängen ihn wegen Vichy und der Niederlage von 1940 und für die Briten ist er auch nicht so zentral, weil die Zahl der Gefallenen sehr viel niedriger als im Ersten Weltkrieg. In Deutschland ist das anders. Wenn wir nun auf die Schaffung einer neuen Friedensordnung in den Pariser Verträgen schauen, stellen wir fest, dass der Zerfall der großen multinationalen, multireligiösen Großreiche Mitteleuropas und des Nahen Ostens eine Hypothek hinterlassen hat, die bis heute auf Europa liegt. Es gibt einen Balken politischer Instabilität vom kaspischen Meer bis zum westlichen Balkan, der also in den Südosten Europas hineinragt, und in dieser gesamten Region besteht die Gefahr von Bürgerkriegen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist diese wieder virulent geworden. Der Erste Weltkrieg ist auch nicht wegen Elsass-Lothringen begonnen worden, sondern wegen dem Attentat auf Franz Ferdinand – und dieser Konflikt der Donaumonarchie mit Serbien sprang dann ins Zentrum Europas. Wir sollten aufmerksamer sein gegenüber den Rändern und der Peripherie und nicht sagen, wenn es im Zentrum keine großen Probleme gibt, ist alles gut. Der Beginn des Ersten Weltkriegs ist ein großes Warnschild. Auch bei der Entstehung des „Arabischen Frühlings“ beginnt die Spur beim Ersten Weltkrieg, nämlich beim Zerfall des Osmanischen Reichs. Das ist ein ungeheuer komplexer Vorgang, der uns nur teilweise bewusst ist und den wir mit „nie wieder§ kommentieren. Mit Ausrufezeichen. Man kann sehr viele Konflikte – die Jugoslawien-Kriege, den Krieg im Vorderen Orient – im Lichte des Ersten Weltkriegs betrachten.

Mit Blick auf Europa heute: Es sind schwierige Zeiten, Mitgliedsstaaten entfernen sich teilweise immer mehr voneinander. Braucht Europa eine Neugründung?

Ich halte das Risiko des Zerfalls der Europäischen Union für sehr hoch. Sollte ich darauf wetten, würde ich sagen, es steht 50/50, ob die Europäische Union das durchhält. Wir stehen vor der Frage, was tun die Briten? Dass Italien gleichzeitig eine linkspopulistische und rechtsextreme Regierung hat, war eigentlich auch unvorstellbar. Orban hat den Begriff der illiberalen Demokratie für die Visegrad-Staaten geprägt.  Aber eine Neugründung Europas würde heißen, dass alles zerfällt und man dann hofft, dass – mit wem auch immer – sich Europa neu formieren lässt. Das ist unwahrscheinlich. Es geht doch darum, den Laden zusammenzuhalten und das ist die Aufgabe der deutschen Politik als Nation, Macht in der Mitte und auch als größter ökonomischer Akteur, der auch das größte Profizit von der EU hat. Und weil das so ist, wird die deutsche Politik immer eine sein, die zentral nach Brüssel schaut. Was müssen wir tun, damit Europa nicht auseinanderfällt? Es gibt indes auch noch ein Problem, das größer ist als Europa: Mein Kollege Heinrich August Winkler hat den Begriff des Westens geprägt, aber den gibt es so gar nicht mehr. Ein wiedererstarktes Russland kommt hinzu. Außerdem wurden aus den Demokratien heraus wurden autoritäre Führer gewählt, die mit Rechtsstaat und Pressefreiheit nichts am Hut haben. Die EU ist in einer Situation, die in jeder Hinsicht besorgniserregend ist. Im Binnenraum der EU, aber auch durch äußere Rahmenbedingungen.

Braucht es mehr europäische Bündnisse? Zuletzt haben die europäischen Liberalen am Freitag bei ihrem Parteikongress in Madrid ein Bündnis mit La Republique en Marche (EM) vereinbart, der Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Ist so etwas die Zukunft?

Die Formierung von Gruppierungen vor allem am rechten Rand sind das, was mehr aufmerksam erheischt. Die Liberalen mit starkem Partner, das verändert Europa nicht. Aber ein rechtspopulistisches Bündnis schränkt die Spielräume in Europa dramatisch ein. Das führt zu einer Unwucht, die Europa durchaus zerstören kann.

Ein Erstarken der Rechtspopulisten, die Gesellschaft wirkt geteilt und das Bruttoinlandsprodukt ist auch zum ersten Mal seit 2015 zurückgegangen – das ist die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage in unserem Land. In welche Richtung steuert Deutschland, stehen wir an einem großen Wendepunkt?

Die Delle in der ökonomischen Entwicklung Deutschlands hat offenbar vor allem etwas zu tun mit den Eskapaden Trumps im Hinblick auf Freihandelsabkommen. In der Tat ist ein exportorientiertes Land wie Deutschland in hohem Maße verwundbar, in diesem Sinne ist der US-amerikanische Präsident eine Gefahr und wir werden in hohem Maße von ihm abhängig sein. Ein Wendepunkt ist schon erfolgt, da die politische Perspektive seit 1989/90  – großräumige Strukturen, Langfristigkeit und Rationalität – in den letzten fünf Jahren unter die Räder gekommen ist. Nun wird eher kurzfristig agiert, die Ordnungsvorstellungen sind kleinräumig, und die Politik ist in hohem Maße emotionalisiert. Ein Beispiel ist die Ergänzung des Innenministeriums um den Begriff Heimat. Dinge stehen wieder auf der Kippe. Das sind die Veränderungen, die eingetreten sind. Was wir bis vor kurzem für selbstverständlich gehalten haben, gilt so nicht mehr.

Über den Europakongress 2018

Einhundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs schauen wir auf die Lehren, die sich aus der europäischen Geschichte ziehen lassen, wollen aber auch einen Blick in die Zukunft werfen. Nach zwei verheerenden Weltkriegen gelang schließlich schrittweise die friedliche Europäische Integration. Kann dieser Prozess heute als Modell für andere Regionen dienen? In einer sich rasant verändernden und multipolaren Welt muss sich auch die Europäische Union immer weiter entwickeln und in Zukunft größere internationale Verantwortung übernehmen. Doch welche Reformen sind dafür notwendig und welchen Beitrag kann die EU zu Frieden, Stabilität und Wohlstand leisten?

Seien Sie am Freitag, den 14. Dezember ab 11:00 Uhr im Livestream beim Europakongress dabei!