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Europäische Kommission
Ursula von der Leyen stellt sich zur Wahl

Europa-Experte Thomas Ilka analysiert was bei der Abstimmung des EP auf dem Spiel steht
Ursula von der Leyen

Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament

© picture alliance / AP Photo

Für heute 18.00 Uhr ist die Abstimmung des Europäischen Parlamentes (EP) zur Wahl Ursula von der Leyens als Präsidentin der Europäischen Kommission angesetzt. Zuvor wird die Noch-Verteidigungsministerin Deutschlands vor dem EP in Straßburg Rede und Antwort stehen. Zwischen Debatte und Abstimmung bleibt Zeit für weitere Gespräche und Verhandlungen zwischen von der Leyen und den Fraktionen im EP. Was bei der Abstimmung auf dem Spiel steht, analysiert unser Europa-Experte Thomas Ilka.

Seit der Nominierung Ursula von der Leyens durch die Staats- und Regierungschefs sind genau 14 Tage vergangen. Das Wochenende hat die deutsche Ministerin mit ihrem Stab aus Berliner Vertrauten und Brüsseler EU-Experten in Klausur verbracht, um sich auf den vermeintlichen Show-down diese Woche vorzubereiten. So richten sich heute alle europapolitischen Augen auf Straßburg. Wird von der Leyen gewählt oder nicht? Und was passiert in dem einen oder dem anderen Fall? “Business as usual” versus “Krise der europäischen Institutionen”? Die aktuelle Lage ist unübersichtlich. Rechnen kann von der Leyen wohl mit den 182 Stimmen der EPP-Fraktion, der auch die deutschen Abgeordneten von CDU und CSU angehören. Zumindest verbale Fundmentalopposition betreiben zur Stunde die Grünen, die 74 Stimmen ins Feld führen können. Von der Leyen könne man nicht unterstützen, äußerte der Grünen Co-Vorsitzende Philippe Lamberts nach einer in Sachen Klima und Umwelt offenbar enttäuschenden Befragung der Kandidatin in der vergangenen Woche.

Bei den Sozialdemokraten (S&D) und Liberalen (Renew Europe/RE) ist die Lage nicht so eindeutig. Die 16 deutschen Sozialdemokraten bekräftigen zwar regelmäßig, nicht für vdL zu votieren. Die spanische Vorsitzende der Gruppe hat jedoch einen Brief mit einem vierseitigen Forderungskatalog öffentlich gemacht, dem die Kandidatin zustimmen möge, damit sie auf die Stimmen (der großen Mehrheit) der S&D-Fraktion, insgesamt 153, setzen kann. Da gehen die Wünsche in 32 Spiegelstrichen vom Eurozonenbudget über Armutsbekämpfung bis zur Bindung von 30% der Mittel aus dem nächsten siebenjährigen EU-Haushalt für Klimaschutz und weitere 10% für Biodiversität. Und rein institutionell fordern die Sozialdemokraten das Initiativrecht des EP bei der Gesetzgebung sowie die Mitwirkung bei der Jahresplanung der Kommission. Das wird Gegenstand weiterer Gespräche bzw. Vereinbarungen mit Team von der Leyen sein.

Die Liberalen bringen 108 Stimmen auf die Waage. Ihr Forderungsbrief ist kürzer, grundsätzlicher und doch pragmatischer. Ein Prozess, der die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in Europa unzweideutig verankert, eine europäische Zukunftskonferenz, die Vorschläge zur Stärkung der Demokratie erarbeitet und die gleichen Rechte für die designierten Vize-Präsidenten Margarete Vestager und Frans Timmermans. Außerdem mehr Anstrengungen bei Klimaschutz, Innovation und Handelsabkommen. Begeisterung kam in der RE-Fraktion nach der Befragung von der Leyens nicht auf, allein Politik ist eben mehr als Begeisterung. Und so bieten die liberalen Forderungen genug “room to maneuver” für die Kandidatin, um viele liberale Stimmen einzusammeln.

Mit anderen Worten: es wird intensiv Politik gemacht in Brüssel. Vor laufenden Kameras, in live übertragenen Fraktionssitzungen und in Hinterzimmern. Außerdem werden Köpfe gezählt. Stand heute braucht von der Leyen 374 Stimmen, da nur 747 von 751 Sitzen des EP besetzt sind (vier Abgeordnete haben ihren Sitz bislang nicht angetreten). EPP, S&D und RE brächten 443 zusammen - minus sechzehn deutsche Sozialdemokraten macht 427. Es dürften also noch knapp über 50 Abgeordnete der drei Fraktionen mit Nein stimmen, um Ursula von der Leyen immer noch hauchdünn über die Ziellinie gehen zu lassen.

Diese Gleichung hat allerdings mehrere Unbekannte, die in unterschiedliche Richtungen wirken. Erstens ist nicht klar, wie viele Sozialdemokraten und Liberale am Ende wirklich für oder gegen die deutsche Verteidigungsministerin stimmen. Zweitens könnte sich bei den Grünen, je nach “last minute”-Angeboten der Kandidatin, auch noch eine nennenswerte Zustimmung ergeben. Und dann sind da noch die Stimmen jenseits der vier europakonstruktiven Fraktionen. So gilt die Zustimmung der EKR-Fraktion (62 Stimmen), die von der polnischen PIS dominiert wird sowie der Salvini-Lega (28 Stimmen) und den 5 Sternen aus Italien (14 Stimmen) als möglich. Das wären zusammen immerhin weitere 104 Stimmen. Politisch heikel zwar, aber es gibt keine Stimmen zweiter Klasse und die Wahl ist geheim.

Also alles in Butter für die gebürtige Brüsslerin von der Leyen? Schwer zu sagen. Die Wahl ist, wie gesagt, geheim und die europäischen Fraktionen gelten in ihrem Abstimmungsverhalten als nicht so diszipliniert wie manch nationale Fraktion. Schließlich ist die Heimat weit und für fünf Jahre ist man erst einmal gewählt, die Sanktionsmittel gegenüber den Abgeordneten sind begrenzt. Es wird also viel darauf ankommen, wie Team von der Leyen den Dienstag der Wahrheit nutzt. Wie überzeugend die Rede rüber kommt, wie die Angebote an die Fraktionen wirken. Und auf die Abgeordneten kommt es an: Machen sie eine klug abwägende Politik, Stimme gegen Zusage. Oder steht ein koste-es-was-es-wolle-Zeichen der Europäischen Abgeordneten über allem, um dem Rat ein Machtzeichen zu geben?

Wird von der Leyen allerdings nicht gewählt, stehen die Zeichen erst einmal auf Sturm. Der Rat muss dann innerhalb von vier Wochen einen weiteren Vorschlag unterbreiten. Kaum zu glauben, dass dann einer der ehemaligen Spitzenkandidaten zum Zuge käme. Manche Beobachter sehen dem gelassen entgegen. Was seien schon vier Wochen weiteres Warten gegen 5 Jahre falscher Postenbesetzung. Allerdings täusche sich niemand. Die Europäische Union verlöre wichtige Monate bis zur Handlungsfähigkeit und machte sich gegenüber anderen Playern auf der Weltbühne eher zum Gespött. Zudem würde das EP seine Position im Institutionengeflecht auch nicht stärken, denn das trotzige Macht-Manöver würde den Rest der Legislaturperiode mitschwingen und die Zusammenarbeit von Rat, Kommission und EP belasten. Insgesamt zeigt die ganze Situation, dass die neue europäische Unsicherheit auch im Parlament angekommen ist. Jetzt kommt es darauf an, Politik zu machen: Umsichtig Konsense schmieden und Mehrheiten finden. Das ist nicht nur in Sachfragen nötig, sondern sollte auch in Personalfragen möglich sein. Dann kann es endlich mit Verve um die großen Aufgaben gehen, derer es reichlich gibt.

 

Thomas Ilka ist Regionalbüroleiter des Europäischen Dialog im Stiftungsbüro in Brüssel