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Europa
Wie stehen junge Menschen zu Europa?

Jan Eichhorn, Leiter von d|part, im Interview
Begeisterte Europäer

Begeisterte Europäer

© (c) dpa

Die heute 18 bis 30-jährigen sind mit der Europäischen Union aufgewachsen, sie waren höchstens drei Jahre alt als der Vertrag von Maastricht, der Grundstein unser heutigen Europäische Union (EU), verabschiedet wurde. Es ist eine Generation, die wie keine andere die Möglichkeit hatte die europäischen Nachbarländer zu besuchen – dort studiert oder ein Austauchsemester absolviert hat, keine innereuropäischen Grenzkontrollen mehr gewohnt ist und seit neustem nicht mal ihre Handy-SIM-Karte wechseln muss, um in der ganzen EU kostenlos im Internet zu surfen. Andererseits ist es auch eine Generation, die sich schon in jungen Jahren mit der Eurokrise, 9/11 und dem Kampf gegen den Terror, der Flüchtlingskrise und dem Brexit konfrontiert sah. 

Wie stehen junge Menschen zu Europa? Ist die EU für diese jungen Menschen deswegen zu einer Selbstverständlichkeit geworden? Wissen sie diese und die mit EU-Mitgliedschaft einhergehende Rechte trotzdem noch zu schätzen? Und wie wichtig sind jungen Menschen die Werte auf denen die EU basiert, wie Pluralismus, der Schutz von Minderheiten und allgemeinen Menschenrechten? 

Jan Eichhorn, Leiter von d|part - Think Tank für politische Partizipation, einem Meinungs- und Forschungsinstitut in Berlin hat unter anderem im Rahmen des Forschungsprojekt Voices on Values zu diesen und andere Fragen in Europa geforscht. 

Herr Eichhorn, seit vielen Jahren forschen Sie zu Einstellungen von Menschen zu Europa und auch zu den Einstellungen von jungen Erwachsenen. Was wissen wir aus der Forschung über deren Einstellungen zu Europa und insbesondere der Europäischen Union? Inwiefern unterscheiden diese sich von denen älterer Generationen?

Ebenso wie in der Gesamtbevölkerungen variieren die Ansichten junger Menschen zur Europäischen Union stark. So gibt es also auch nicht die eine „junge“ Gruppe Menschen, die eine klare Einstellung eint. Junge Menschen sind eben auch eher „links“ oder „rechts“ und pro-europäisch oder Europa-skeptisch. Trotzdem können wir natürlich Tendenzen unter jungen Menschen beobachten. Diese unterscheiden sich teils stark im europäischen Vergleich. Sind junge Menschen in Deutschland oder Großbritannien der EU eher positiv gegenüber eingestellt, ist in Polen das Gegenteil zu beobachten, wo die ältere Bevölkerung tendenziell pro-europäischer ist. 

In Deutschland haben junge Menschen deutlich weniger Ängste bezüglich der europäischen Einigung als ältere Gruppen. Während zum Beispiel rund die Hälfte der Menschen über 34 Angst vor dem Verlust der deutschen Identität und Kultur wegen der EU hat, trifft das nur auf ein Drittel der unter-35-Jährigen zu. Gleiches gilt auch für wirtschaftliche Fragen. Während nur 30 Prozent der Deutschen unter 35 Jahren Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen wegen der europäischen Einigung hat, sind es mit 46 Prozent deutlich mehr bei denen, die älter als 35 sind. 

Aber auch innerhalb der Gruppe junger Deutscher gibt es Unterschiede, zum Beispiel regionale. Das Image der EU Bewerten doppelt so viele 16- bis 30-Jährige in Westdeutschland als positive (34 Prozent) als Menschen der gleichen Altersgruppe in Ostdeutschland (16 Prozent). 

Welche Themen sind jungen Menschen im Bezug auf die Zukunft Europas und der EU besonders wichtig und unterschieden sich diese von den Themen, die älteren Generationen wichtig sind?

Junge Menschen schauen durchaus anders auf bestimmte Themen. Bei der Entscheidung welche Themen für die kommenden EU Parlamentswahlen besonders wichtig sind, sind sich junge Deutsche aber mit dem Rest des Landes einig. An der Spitze stehen sowohl für junge Menschen (unter 35 Jahren) als auch den Rest der Bevölkerung Einwanderung und der Klimawandel. Danach gibt es leichte Unterschiede. Während Menschen über 34 Jahren Terrorismus als drittwichtigstes Thema nennen, landet es bei jungen Menschen auf Platz vier. Menschenrechte und Demokratie sind ihnen noch etwas wichtiger. Grundsätzlich sind die Unterschiede in der Wichtigkeit aber begrenzt und recht nuanciert. Junge Menschen beschäftigen sich eben nicht nur mit sogenannten „Jugendthemen“. 

Bei den Einstellungen zu den wichtigen Themen zeigen sich komplexe Profile der Ansichten junger Menschen. Beim Top-Thema Einwanderung sagen mehr als zwei Drittel, dass alle EU-Staaten Flüchtlinge mit Berechtigung aufnehmen sollten. Gleichzeitig möchte knapp die Hälfte aber auch, dass die EU Lösungen für die Steuerung von Migrationsströmen als Priorität sucht und etwa über ein Drittel findet, dass der Schutz vor illegaler Einwanderung eine der wichtigsten Aufgaben der EU sein sollte. 

Viele jungen Menschen engagieren sich bereits im Rahmen von Initiativen wie beispielsweise „Pulse of Europe“ für Europa. Wie sieht es mit der Partizipation an den Wahlen aus. Was wissen wir zu dem Wahlverhalten von jungen EU Bürgern?

Grundsätzlich ist es nach wie vor in vielen europäischen Ländern so, dass junge Menschen eine geringere Wahlbeteiligung haben als ältere. Dieser Unterschied ist manchmal sogar recht drastisch. Zwar engagieren sich viele junge Leute auch in anderen Formen außerhalb der repräsentativen Demokratie, aber wir sehen oft nach wie vor eine messbare Ungleichheit. Oft sind junge Leute aus höheren Bildungsschichten und sozialen Klassen disproportional überrepräsentiert, sowohl in konventionellen und unkonventionellen politischen Beteiligungsformen. 

In Deutschland (und einigen anderen Ländern) gibt es Anzeichen, dass die Wahlbeteiligungslücke in den letzten paar Jahren zumindest etwas kleiner geworden ist. Wir wissen außerdem, dass junge Menschen eher wählen gehen, je jünger sie bei der ersten Wahl sind (also 18- und 19-Jährige haben beispielsweise eine höhere Wahlbeteiligung als 20- und 21-Jährige). Das deckt sich mit Ergebnissen aus Österreich und Schottland, wo 16-Jährige wählen dürfen und bei der ersten Wähl deutlich häufiger teilnahmen als die etwas älteren jungen Menschen. 

Was würden Sie basierend auf Ihrer Forschung zum Wahlverhalten von jungen Menschen europapolitischen Akteuren raten, um die Wahlbeteiligung von jungen Europäern zu erhöhen?

Ganz wichtig ist es, den spezifischen nationalen Kontext zu verstehen. Europa und die EU spielen nicht in allen Ländern die gleiche Rolle. Grundsätzlich ist es wichtig, dass die EU nicht nur als idealisiertes Projekt vorgestellt wird, sondern auch eine merkbare Bedeutung für das Leben junger Menschen darstellt. Kurz gesagt, die EU muss relevant sein – eine Betonung genereller Gefühle, obwohl wichtig, reicht da nicht aus. 

Selbst in Deutschland, wo junge Menschen positive Einstellungen zur EU haben (fast zwei Drittel sagen, die EU ist ihnen wichtig und über 70 Prozent sagen, dass sie auf jeden Fall wollen, dass Deutschland in der EU bleibt), ist eine europäische Identität zwar ausgeprägt, aber nicht die Priorität. Zwar sagen mehr als zwei Drittel, dass sie sich europäisch fühlen, aber nur 9 Prozent finden, dass sie sich primär als europäisch identifizieren würden (statt mit ihrer Stadt oder Region, Deutschland oder der Welt insgesamt). 

Dabei helfen gut gemeinte Projekte wie kostenlose Interrail-Tickets nur begrenzt. Der Großteil junger Menschen in Deutschland (16-26) hat bereits ein anderes EU-Land besucht (Prozent), kann sich vorstellen in einem anderen EU-Land zu leben (70 Prozent) und hat sogar Freunde in anderen EU-Ländern (60 Prozent). Interrailtickets gehen das vermeintliche Thema an, dass junge Menschen nicht genug mit dem Rest der EU interagieren – man setzt also auf ein vermeintliches „Jugendthema“, dass aber kaum als Kernproblem angesehen werden kann. 

Ihr Think Tank d|part hat vor Kurzem mit dem Open Society European Policy Institute eine europaweite Studie zu den Einstellungen von Europäern zur offenen Gesellschaft durchgeführt, deren Ergebnisse vor zwei Wochen in Berlin vorgestellt wurden. Was haben Sie in Ihrer Forschung zu den Einstellungen von jungen Menschen herausgefunden? 

Ganz entscheidend sind die Unterschiede zwischen jungen Menschen in verschiedenen Ländern. In einigen, wie Polen sind junge Menschen eher offenen, freiheitlichen Gesellschaftswerten zugeneigt, aber das ist nicht überall der Fall. In Italien tendieren jüngere Menschen sogar eher zu geschlossenen Wertebildern als Ältere. In einigen Ländern (wie Deutschland und Ungarn) finden wir ein ganz anderes Bild: Ältere Menschen beurteilen sowohl Werte einer offenen, als auch Werte einer geschlossenen Gesellschaft als wichtiger im Vergleich zu jüngeren Menschen. Das heißt in diesen Ländern sehen wir vor allem, dass junge Menschen weniger polarisiert sind als ältere Bevölkerungsgruppen – und zwar in beide Richtungen. 

Was bedeuten diese Ergebnisse für europapolitische Akteure?

Ebenso wie andere Altersgruppen schätzen viele junge Menschen sowohl einige Werte offener Gesellschaften (wie den Schutz von Minderheitsrechten und das Recht auf freie Religionsausübung) als auch Werte geschlossener Gesellschaften, inklusiver bestimmter konservativer Werte. Die genauen Profile variieren je nach nationalem Kontext, aber grundsätzlich ist es wichtig, nicht den Fehler zu machen davon auszugehen, dass alle jungen Menschen ausschließlich kosmopoliten, transnationalen Ideen anhängen. Um junge Leute anzusprechen, müssen europapolitische Akteure es vermeiden sie zu bevormunden und davon auszugehen, dass sie zum einen nur Jugendthemen interessieren und sie andererseits keinerlei Bezug zu Themen auf nationaler oder regionaler Ebene mehr sehen. 

Gibt es so etwas wie eine europäische Identität in Bezug auf die Offene Gesellschaft?

Grundsätzlich verstehen Menschen in verschiedenen Teilen Europas Werte offener Gesellschaften recht ähnlich. Wer mehrere klassische liberale, offene Gesellschaftswerte (wie Medienfreiheit und die Möglichkeit von kritischen Organisationen die Regierung zu kritisieren) als wichtig ansieht, tendiert dazu auch andere offene Gesellschaftswerte als wichtig anzusehen. Das heißt die Werte in Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatprinzipien und die Achtung von Menschenrechten) werden von den meisten Menschen tatsächlich recht kohärent beurteilt. Es scheint also tatsächlich ein latentest Verständnis dieser Werte unter Menschen in Europe zu geben. 

Wir sehen hingegen große Unterschiede im Verständnis des Begriffs „Offene Gesellschaft“ selbst. Während er in Deutschland breit verwendet und verstanden wird, spielt das Konzept sprachlich in Frankreich und Italien kaum eine Rolle. Die darin enthaltenen Bestandteile werden zwar ähnlich evaluiert, aber nicht unter diesem Begriff zusammengeführt. 

Die letzten Jahre haben einen Graben zwischen den Westeuropäischen osteuropäischen Visegrád-Staaten offenbart: Wie unterscheiden sich Ost- und Westeuropäer in ihren Ansichten? 

Die Unterschiede sind sehr komplex. Auch in den Mitgliedsstaaten in Zentral- und Osteuropa schätzt der Großteil der Menschen Werte offener Gesellschaften, Gleichzeitig ist der Anteil derer, die außerdem aber auch Werte geschlossener Gesellschaft schätzen hoch (wobei das beispielsweise auch in Italien der Fall ist). 

Wichtig festzuhalten ist, dass trotz der problematischen Einstellungen, die einen national abgrenzenden Bezug betonen, die Mehrheit der Leute aber nach wie vor auch an freiheitlichen Werten festhält. Außerdem sehen wir, dass die Herausforderungen, denen sich zivilgesellschaftliche Organisationen in Polen und Ungarn gegenübersehen auch von der Bevölkerung wahrgenommen werden. Die Wichtigkeit, dass regierungskritische Organisationen ihre Arbeit machen können wird verhältnismäßig als viel bedeutender in diesen beiden Ländern angesehen als zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich. Es wäre also ein Fehler die Bevölkerungen in Ungarn oder Polen als unkritisch zu betrachten. 

Doch Europawahlen 2019 könnten eine Richtungswahl über die Zukunft der EU werden: Während etablierte Parteien an Unterstützung verlieren, erwarten viele Beobachter ein erstarken von rechtspopulistischen und EU-skeptischen Parteien im EP. Wie ist Ihre Prognose? 

Vorhersagen sind natürlich schwierig, da das Wahlverhalten immer auch von den aktuellen Geschehnissen, beeinflusst wird. Ich gehe aber im Moment ebenfalls von einem Zugewinn für eine Reihe rechtspopulistischer Parteien aus. Dabei sollte man beachten, dass dies nicht in allen Ländern gleich ausgeprägt ist. Selbst wenn wir in der Summe einen Anstieg sehen, bedeutet das nicht, dass in allen Ländern der gleiche Prozess stattfindet. Wichtig ist ob etablierte Parteien es schaffen nicht nur die Extreme anzusprechen. Viele scheinen auf die Verschärfung des Diskurses durch eine starke Positionierung an den Extremen (entweder am kosmopoliten oder am nationalen Ende der Skala) zu reagieren. Unsere Forschung zeigt, dass genau das ein großes Problem ist. Sehr viele Menschen passen nicht in dieses Schema. Für viele sind offene und geschlossene Gesellschaftswerte keine Gegenpole für sie. Das heißt die Positionierung an einem oder dem anderen Ende geht von einer Polarisierung aus, die so für viele in der Bevölkerung gar nicht existiert. Damit umzugehen ist nicht einfach, aber unumgänglich, wenn etablierte Parteien eine breite Öffentlichkeit ansprechen wollen, die sich größtenteils (noch) nicht als durchgängig polarisiert beschreiben lässt. 

Jan Eichhorn ist Leiter von d|part, ein Think Tank für politische Partizipation.