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Europa
Europa auf Spurensuche nach einem Narrativ

10. „Dahrendorf Lecture“ in Oxford
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„What stories does Europe tell?“

© picture alliance/Carsten Rehder/dpa

Angesichts von Brexit, wachsendem Populismus und fehlendem Vertrauen der Bürger in die EU und ihre Institutionen befürchten viele, dass Europa seine Anziehungskraft verloren hat. Braucht Europa ein neues Narrativ, eine neue Erzählung, um die Begeisterung der Bürger für das europäische Projekt wiederzubeleben?

Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der frühere Kommissionspräsident Manuel Barroso sowie diverse Künstler und Philosophen haben eines gemeinsam: sie alle fordern ein neues Narrativ für Europa. Angesichts der zahlreichen Herausforderungen unserer Zeit brauche Europa eine neue Erzählung, die direkt ins Herz gehe und die Menschen vom europäischen Projekt überzeuge. Aber was genau macht ein Narrativ aus, das über eine solche Bannkraft zu verfügen scheint, Menschen nachhaltig für eine Sache zu begeistern?

Narrativ: American Dream

Wer sich auf die Suche nach einer Definition des Begriffs „Narrativ“ begibt, wird schnell ernüchtert. Der Duden kennt lediglich das Adjektiv „narrativ“, was sich wenig motivierend mit „erzählend“ oder „in erzählender Form darstellend“ beschreiben lässt. Die englische Sprache gebraucht den Begriff substantivisch und definiert ihn - immerhin etwas griffiger - als „gemeinsame Erzählung“. In der Sozialwissenschaft wird der „American Dream“ häufig als Beispiel für ein Narrativ angeführt; das Versprechen also, vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen zu können, das Tausende von Amerikanern bis heute zu harter Arbeit motiviert. Folgt man diesem Beispiel, so ist ein Narrativ folglich eine gemeinsame Erzählung, die sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit speist und handlungsleitend für die Zukunft wirkt.

So weit, so erbaulich. Wie entsteht nun aber eine solche kollektive Erzählung, die gleichzeitig sinnstiftend für Gegenwart und Zukunft ist? Vor dem Hintergrund dieser Frage lud der Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash zur 10. „Dahrendorf Lecture“ nach Oxford ein. Statt einen normativen Ansatz zu verfolgen, welche Geschichte Europa erzählen sollte, stand die nüchterne Frage, welche Geschichten Europe denn erzählt („What stories does Europe tell?“) im Mittelpunkt der Konferenz. Eingeladen waren Gastredner aus unterschiedlichsten Disziplinen und Lebenswelten – Historiker, Kulturschaffende, jung und alt, pro-Europäer und Brexiteers. 

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Während die Konferenz viele verschiedene Perspektiven auf Europa zusammenbrachte, wurde eines schnell deutlich: Es gibt keine Meta-Erzählung für Europa. Vielmehr sind es gerade die Unterschiedlichkeit, Vielfältigkeit und auch die sehr persönlichen Geschichten zu Europa, die das europäische Projekt zu dem machen, was es ist.

Während für die italienische Studentin „Europa“ bedeutet, sich gemeinsam mit europäischen Kommilitonen im Ausland über andere Gesellschaftssysteme und Wertevorstellungen zu wundern, ist „Europa“ für den Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg ein Friedensprojekt. Für eine im Kommunismus großgewordene Roma-Aktivistin und Filmemacherin aus Ungarn bedeutet „Europa“ schlicht Freiheit. Die vielen persönlichen Geschichten, die während der Konferenz erzählt wurden, sind sinnbildlich für Europa. Europa ist Vielfalt. Statt einer einzigen einenden Erzählung, sind es die vielen kleinen, persönlichen Geschichten, auf die es ankommt, die darüber entscheiden, ob sich jemand als Europäer fühlt und vom europäischen Projekt überzeugt ist. Statt nach einem neuen Narrativ für Europa zu suchen, sollte Europa daher erlebbar gemacht werden, damit jede und jeder einzelne auch in Zukunft seine eigene Europa-Geschichte erzählen kann.

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Im Interview erzählt der Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Professor Dr. Karl-Heinz Paqué, seine ganz persönliche Erfahrung mit Europa.