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Europa
Der EU-Sommer 2019: Eine Kommission wird gebaut

Europaexperte Thomas Ilka wirft einen Blick auf Themen und Akteure
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Abgeordnete reagieren nach der Bewerbungsrede Ursula von der Leyen vor den Abgeordneten des Europaparlaments.

© picture alliance/Marijan Murat/dpa

Ende Juli und den August über liegt das politische Brüssel gewöhnlich im Sommerschlaf. Nicht so in diesem Jahr. Sowohl im Berlaymont-Gebäude als auch in den Hauptstädten der EU wird intensiv an Personaltableau und Arbeitsprogramm für die kommenden fünf Jahre gearbeitet. Europaexperte Thomas Ilka wirft einen Blick auf Themen und Akteure.

Ein Sommertraum

Brüssel, 1. November 2024. Ursula von der Leyen, gerade 66 Jahre alt geworden, übergibt das Amt der Kommissionspräsidentin an Margrethe Vestager, 56. Die dänische Liberale hat sich bei den Europawahlen als gemeinsame Spitzenkandidatin von Liberalen, Christdemokraten und Grünen durchgesetzt. Der liberale Trend wirkt auch in den Mitgliedstaaten der EU: Polen steht bei den in Kürze stattfindenden Parlamentswahlen vor einem Erdrutschsieg der bürgerlichen Kräfte, nachdem Donald Tusk der Vorherrschaft der konservativen PiS-Partei mit seinem knappen Sieg in der Präsidentschaftswahl 2020 ein erstes Ausrufezeichen entgegengesetzt hatte.

Viktor Orbans Stern in Ungarn verblasst zusehends: Er regiert noch, verfehlte aber in den Parlamentswahlen 2022 die absolute Mehrheit deutlich. Seine Gegenspielerin ist Anna Donáth, Oppositionsführerin und Chefin der liberalen Partei Momentum, die stabil bei knapp zwanzig Prozent liegt, Tendenz steigend. Manche Ungarnkenner sehen in Donáth schon die künftige Ministerpräsidentin der Magyaren-Republik. In Frankreich sitzt Emmanuel Macron zur Hälfte seiner zweiten Amtszeit fest im Sattel. Und Deutschland? Dort ist vor ein paar Wochen, nach einem heißen Sommerwahlkampf, die Jamaika-Koalition bestätigt worden, allerdings unter veränderten Kräfteverhältnissen. Liberale und Grüne haben die Positionen getauscht. Diesmal ist Christian Lindner mit seiner FDP bei knapp 19 Prozent als zweitstärkste Kraft durchs Ziel gegangen.

Politische Rechenspiele

Hat der Autor zu lange in der Sonne des Klimasommers 2019 gesessen? Mitnichten. Es ist einfach so: Spekulation erweitert den Möglichkeitsraum für die Gestaltung künftiger Politik. Und in genau diesem Geschäft wird sich über den Sommer auch Ursula von der Leyen üben. Sie muss auf viele Fragen erste Antworten finden: Wie wird sich die neue EU-Kommission zusammensetzen? Auf wen kann sie zählen, mit wem muss sie rechnen? Welche Rolle spielt das Europäische Parlament (EP)? Wie wird sich das Zusammenspiel der Staats- und Regierungschefs im Rat entwickeln? Was werden die herausragenden Themen der Kommission von der Leyen sein? Einstweilen ist nur ein Datum einigermaßen fix: Im November wählt das EP die vollständige Kommission, die nur im Gesamtpaket angenommen oder abgelehnt werden kann.

Das Ringen mit den Mitgliedstaaten

Über den Sommer wird von der Leyen zunächst die Telefondrähte zu den Regierungen der Mitgliedstaaten glühen lassen. Zu besetzen sind die 27 Kommissarsposten. Einige Regierungen haben bereits ihre Kandidaten benannt, die übrigen haben bis zum 26. August Zeit, ihre Vorschläge einzureichen. 14 Männer und 14 Frauen sollen es nach dem Wunsch der Kommissionspräsidentin werden. Ein erster Test für von der Leyens Durchsetzungsvermögen: Unter den bislang 15 Nominierungen sind lediglich fünf Frauen. Über den September werden die Kommissions-Kandidaten dann im Europäischen Parlament intensiven Anhörungen unterzogen, auf die sich die Fraktionen schon in diesen Tagen vorbereiten. Erfahrungsgemäß lässt das EP in diesem Prozedere den ein oder anderen Kandidaten durchfallen, zudem wird von der Leyen im direkten Austausch mit den nationalen Regierungen Einfluss auf die Auswahl nehmen und später im Verfahren ihre Gunst auch durch die Zuschnitte der Aufgabengebiete der einzelnen Kommissarinnen und Kommissare zeigen.

Nicht nur um die 27 Top-Jobs in der Kommission wird gerungen, auch die unmittelbaren Beraterstäbe, die sogenannten Kabinette, müssen besetzt werden. Hier geht es vor allem um ein ausgewogenes Verhältnis von Vertrauten, die die Kommissarsanwärter aus ihren Heimatländern mitbringen wollen zu den Karrierebeamten aus den europäischen Diensten. Lange Listen, auf die Regierungen, EP-Fraktionen, die führenden Beamten in Brüssel und schließlich diejenigen, die auf den Listen stehen Einfluss nehmen (wollen). Dieses Personalmikado wird viele Kräfte binden und am Ende auch manche Überraschungen hervorbringen. Denn wie immer in der Politik: Alles hängt mit allem zusammen und nichts ist geeinigt, bevor nicht alles geeinigt ist.

Führen mit variablen Mehrheiten

Doch es geht nicht nur um Posten und Personal. Inhalte, Themen, Strategien zur EU zwischen 2019 und 2024 liegen auch auf dem Sommer-Schreibtisch der Akteure in Brüssel und den Mitgliedstaaten. Aus liberaler Sicht lässt sich ein magisches Viereck für ein EU-Arbeitsprogramm aus den Themenlinien Wirtschafts-, Sicherheits-, Klima- und Institutionenpolitik aufspannen. Von der Leyen hat ihre politischen Leitlinien vorgelegt und in ihrer Rede vergangene Woche in Straßburg ausbuchstabiert: “A European Green Deal, an economy that works for people, a Europe fit for the digital age, protecting the European way of life, a stronger Europe in the world und a new push for European democracy.” Da ist für jeden etwas dabei. Die knapp zwanzig Seiten müssen jetzt präzisiert, ausgebaut und für die Strukturen des Brüsseler Beamtenapparates operationalisiert werden.

Dabei wird immer wieder der Spagat zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlamentes zu bewältigen sein. Von wem genau von der Leyen ins Amt gewählt wurde, kann man – die Wahl war geheim – nicht wirklich wissen. Allerdings lässt sich vermuten, dass ihr Last-Minute-Linksschwenk in ihrer Rede, jedenfalls bei manchen Themen, Stimmen im konservativen Lager gekostet hat, um bei Teilen der Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten Stimmen zu gewinnen. Diese Taktik wird so ohne Weiteres nicht noch einmal aufgehen und trotzdem muss sie liefern.

Allerdings hat von der Leyen durch die Kombination von Personal und Politik genügend Stellschrauben, um jeweilige Interessen zu bedienen und Stimmen für die Kommissionswahl zu gewinnen. Im Übrigen wird diese Vorgehensweise, man könnte sie als „Führen mit variablen Mehrheiten“ bezeichnen, die kommenden Jahre kennzeichnen. Denn im EP ist die „Große Koalition“ gebrochen, Mehrheiten werden nur noch unter der Einbeziehung liberaler und grüner Abgeordneter gebildet werden können.

Für die Liberalen kommt es jetzt darauf an, beim Personaltableau mit ihren guten Leuten und in Breite und Tiefe über den gesamten Apparat in Brüssel vertreten zu sein. Inhaltlich wird in den kommenden fünf Jahren die Eigenschaft der Liberalen als Konzeptpartei gefragt sein. Sie müssen in guter Balance aus Emotion und Rationalität dazu beitragen, Europa auf einem Kurs des Fortschritts zu halten: durch offene Märkte, Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien und optimistischer Selbstbehauptung des „European Way of Life“, mit seiner einzigartigen Mischung aus Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.

Optimismus tut Not

Die EU heute mit ihrem Herausforderungsmix aus Brexit, so genannten „Artikel-7-Verfahren“ gegen Polen und Ungarn, dem nervösen Nachbarn Russland, einem irrlichternden US-Präsidenten und den Langfristthemen Klima und Migration erscheint vielen Menschen als dunkle Momentaufnahme. Aber in den kommenden fünf Jahren werden sich viele Anknüpfungspunkte für Veränderungen ergeben: In den Mitgliedstaaten finden bis 2024 mindestens 26 Wahlen zu nationalen Parlamenten und/oder Präsidentschaften statt. Es ist also denkbar, dass die Zusammensetzung des Rates der Staats- und Regierungschefs sich ändert, vielleicht sogar substanziell. Es wird neue Koalitionen geben, Schwerpunkte der Politik in den einzelnen Ländern können sich wandeln. Auch das wird Einfluss auf die Arbeit und den Kurs der Europäischen Union nehmen.

Während der Amtszeit von der Leyens wird es zwei amerikanische Präsidentschaftswahlkämpfe geben, China und seine Macht werden weiterwachsen, 2022 wird Wladimir Putin 70 Jahre alt. Genug Unwägbarkeiten, um die EU auch im globalen Kontext unter Spannung zu halten. Genug Chancen aber auch, den Kurs Europas optimistisch und mit liberaler Kraft neu zu justieren, wo es nötig ist und zu stabilisieren, wo es sich lohnt. Getreu der ewig jungen Weisheit: Man überschätzt, was man in einem Jahr schaffen kann, aber man unterschätzt, was man in fünf Jahren leisten kann. Deshalb jetzt die Weichen stellen, in den Mitgliedstaaten und in Brüssel, in den nächsten fünf Jahren am liberalen Kurs weiter hart arbeiten und dann, siehe oben, 1. November 2024.

 

Thomas Ilka ist Regionalbüroleiter des Europäischen Dialog im Stiftungsbüro in Brüssel.