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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

EU-Gipfel
Die deutsch-französische Achse ist dauerhaft geschwächt. Europa droht sich zu spalten.

Die Lektion der „Frugal Five“
EU_Gipfel
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Um es vorweg zu nehmen: Jeder, der es mit Europa gut meint, muss die Einigung vom Wochenende in Brüssel politisch begrüßen. Ein Scheitern wäre ein Desaster gewesen, und das konnte verhindert werden.

Mit den fiskalischen Ergebnissen kann und muss man leben. Natürlich ist es völlig offen, wie gut die ungeheuren Summen, die nun eingesetzt werden, um die europäische Wirtschaft aus der Corona-Katastrophe herauszuführen, wirklich helfen werden. Niemand weiß heute, wie viel von dem Geld auf geradem Weg in wertvolle Investitionen oder auf verschlungenen Budgetpfaden im nutzlosen Konsum landet. Die Verschiebung von Zuschüssen zu Krediten, erzwungen von den „Frugal Five“, ist da zwar sinnvoll, aber keine Garantie für produktive Verwendung. Entscheidend wird sein, ob die EU-Wirtschaft zu dynamischem Wachstum zurückkehrt, sei es aus eigener Kraft oder durch die massive staatliche Initialzündung. Tut sie dies - wie vor zehn Jahren nach der Weltfinanzkrise - werden Schulden und Transfers tragbar sein; tut sie es nicht, kommt es zu einem Finanzkollaps. Man kann nur hoffen, dass sie es tut.

Ähnliches gilt für die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien in Polen und Ungarn. Der „Beobachtungsstatus“, unter den diese Länder gestellt wurden, ist windelweich. Er wird ihren Weg weg vom Rechtsstaat weg kaum behindern, wenn sie Mittel aus dem Fonds beanspruchen, was sie massiv tun werden. Damit ist das letzte starke Instrument der Einflussnahme recht leichtfertig verspielt worden. Man kann nur hoffen, dass in Mittel- und Osteuropa eigenständige demokratische Kräfte entstehen, die sich diesem Irrweg entgegenstellen.

Das sind keine guten Aussichten. Wir verdanken sie einem diplomatischen Versagen von Macron und Merkel - und zwar weit vor dem Gipfeltreffen. Nimmt man alles zusammen, geht es bei dem EU-Corona-Projekt um 1,8 Billionen Euro, also dem größten Fiskalbetrag, der jemals bei EU-Gipfeln diskutiert wurde. Nie hatte man im Vorfeld den Eindruck, dass die kleineren Nettozahlerländer der EU in den Entscheidungsprozess einbezogen wurden. Vor allem Merkel enttäuschte die „Frugal Five“, die wirtschafts- und finanzpolitisch eigentlich Deutschland näherstehen als Frankreich. Sie tat dies, indem sie für Macrons Verzicht auf Eurobonds extrem hoch bezahlte - offenbar in der Hoffnung, die kleinen Nachbarnationen würden den „fait accompli“ schon noch klaglos akzeptieren.

Eine überaus arrogante Fehleinschätzung! Die „Frugal Five“ wehrten sich mit Geschick und Härte - und ließen die allseitigen, zum Teil unsäglichen Beschimpfungen, sie seien wie vormals die Briten jämmerliche egoistische Krämergeister, an sich abprallen, was sie sich übrigens gut leisten können, denn Dänemark, Finnland und Schweden, aber auch die Niederlande und Österreich sind vorbildliche Demokratien, Rechtsstaaten, Zivilgesellschaften und Marktwirtschaften - und obendrein wohlhabende Nettozahler. Klug stilisierten sie sich als seriöse Haushälter - eine Rolle, auf die Merkel ohne Not verzichtet hatte, nur um mit Macron Einigkeit zu demonstrieren. Deutschland wurde zum Geburtshelfer eine neuen Bündnisses, das jederzeit wieder aufleben kann.

Ein Weiteres kommt hinzu: Im Wind- und Regenschatten der harten Auseinandersetzung Macron & Merkel versus Rutte & Kurz konnten Polen und Ungarn ihre gegen den Rechtsstaat gerichteten Interessen durchsetzen - und übrigens auch eine mittel- und osteuropäische Fraktion mit Tschechien und der Slowakei bilden, eine Art Neuauflage der Visegrád-Gruppe. Ein Kollateralschaden der Macron/Merkel-Initiative, der - so der Eindruck von Brüssel - von Deutschland und Frankreich billigend in Kauf genommen wurde. Zwar gibt es nun eine vage Verbindung zwischen Inanspruchnahme von Mitteln und Rechtsstaatlichkeit. Aber es ist sehr fraglich, ob diese in der Praxis als politischer Hebel wirklich hilft, um in der Zukunft clevere Autokraten wie Orbán an europäische Grundwerte zu erinnern.

Fazit: Europa ist nach dem Brüsseler Gipfel mehr in homogene Interessensgruppen zerlegt als jemals zuvor: die „Frugal Five“ und die Visegrád-Länder, die mediterranen Nationen Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, alles Empfängerländer im Euroraum, und schließlich dazwischen Frankreich und Deutschland, beide derzeit als Advokaten südlicher Interessen, allerdings mit unterschiedlichen Motiven: Frankreich, die „Grande Nation“, als selbsternannter Schrittmacher von großen Initiativen, Deutschland, der Beschimpfungen müde, als moralisierende Mustereuropäer und größtes Nettozahlerland.

Kann das gut gehen? Zweifel sind angebracht, gerade in der ernüchternden Nach-Brexit-Zeit. Europa kann sich keine neuerliche Spaltung leisten. Eine neue Bundesregierung nach der Bundestagswahl 2021 braucht auch eine Neujustierung in der Europapolitik: Wie zu Zeiten von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ist es eben auch der enge vertrauensvolle Austausch und Kontakt mit sogenannten kleinen EU-Nationen, der Vertrauen schafft - auch in große Projekte. Mehr als das: Nach dem Good-bye von Großbritannien haben diese „kleinen“ Nationen sogar deutlich an Gewicht gewonnen. Nicht nur Paris ist wichtig für Berlin, sondern auch Den Haag, Helsinki, Kopenhagen, Stockholm und Wien.