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Estland
Parlamentswahlen in Estland - Liberales Traumland

Hoffnung auf die erste weibliche Regierungschefin in Estland
Kaja Kallas, Spitzenkandidatin der Reformpartei und Unterstützer nach der Bekanntgabe der Ergebnisse  der Parlamentswahl in Tallin

Kaja Kallas, Spitzenkandidatin der Reformpartei und Unterstützer nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der Parlamentswahl in Tallin

© picture alliance / AP Photo

Mehr als die Hälfte aller estnischen Wähler gaben am Sonntag ihre Stimme einer von zwei liberalen Parteien. Die ehemalige Europaabgeordnete und Vorsitzende der liberalen Reformpartei Kaja Kallas darf sich Hoffnungen machen, die erste weibliche Regierungschefin des baltischen Staates zu werden. Zu den Gewinnern der Parlamentswahl zählen allerdings auch die estnischen Rechtspopulisten.

Noch wenige Stunden vor der Bekanntgabe der Ergebnisse, hätte kaum jemand zu sagen vermocht, welcher der beiden traditionellen politischen Rivalen das Rennen machen würde: Die liberale Reformpartei, zurzeit in der Opposition, oder die liberale Zentrumspartei, aktuell in der Regierung. Beide lagen in den Umfragen bis zuletzt Kopf an Kopf. Am Ende des Tages durfte sich Kaja Kallas, Spitzenkandidatin der Reformpartei, freuen. Mit 28,8 Prozent der Stimmen siegte sie gegen den amitierenden Ministerpräsidenten Jüri Ratas und seine Zentrumspartei, die auf 23,1 Prozent der Stimmen kam.

Aus liberaler Sicht bleibt das kleine Estland damit ein großes europäisches Vorbild. Die beiden ALDE-Mitgliedsparteien vereinten mehr als die Hälfte aller Stimmen auf sich. Das liberale Traumergebnis wird jedoch durch den Erfolg der rechtpopulistischen EKRE-Partei getrübt. Diese erreichte mit 17,8 Prozent der Stimmen den dritten Platz und verbesserte ihren Stimmanteil gegenüber 2015 (8,1 Prozent) um mehr als das Doppelte. Die meisten Stimmen sammelten die Rechtpopulisten in den ländlichen Gebieten. Damit bestätigt auch Estland einen gesamteuropäischen Trend: Rechtspopulistische Parteien gewinnen vor allem außerhalb großer Städte an Kraft, ungeachtet dessen wie klein das Land, wie stark die wirtschaftliche Entwicklung oder wie gering die Zahl der Einwanderer ist.

Ministerpräsident Juri Ratas führt seit November 2016 eine Koalition aus seiner Zentrumspartei, den Sozialdemokraten und dem konservativen Vaterland an, nachdem die vorherige Mitte-Rechts-Regierung nach internen Streitigkeiten und einer verlorenen Vertrauensfrage zusammengebrochen war. Seine Zentrumspartei genießt traditionell eine breite Unterstützung durch die ethnischen Russen, die etwa ein Viertel der estnischen Bevölkerung in der einstigen Sowjetrepublik ausmachen. Während ihrer Regierungszeit hat die Partei einen eher linken Kurs gesteuert, der in der breiten Öffentlichkeit nur begrenzte Unterstützung gefunden hat. Ministerpräsident Ratas bemühte sich vor allem, das estnische Steuersystem progressiver zu gestalten.

Die Steuergerechtigkeit war deshalb auch eines von drei Themen, die den Wahlkampf bestimmt haben. Neben Steuern ging es um Gegenmaßnahmen zur steigenden Lebenshaltungskosten und um konservative und liberale Werte. Die Reformpartei, seit jeher eine Verfechterin liberaler Wirtschaftspolitik, warb dagegen mit einer Rückkehr zur sogenannten „Flat Tax“, eine Art Einheitssteuer und lange Zeit Markenzeichen der estnischen Wirtschaft. Die Parteiführung um Kaja Kalles scheint mit ihrem wirtschaftsfreundlichen Programm den richtigen Instinkt bewiesen zu haben.

Die erste estnische Ministerpräsindentin?

Kaja Kallas, Vorsitzende der Reformpartei, wird wahrscheinlich die erste Premierministerin in der Geschichte Estlands. Die ausgebildete Juristin und frühere Europaabgeordnete wird jedoch noch ein wenig warten müssen, bevor sie damit beginnen kann „das Land intelligenter zu regieren“. Präsident Kersti Kaljulaid wird in den nächsten Tagen einen Kandidaten, sehr wahrscheinlich aber eine Kandidatin, nämlich Kallas, für das Amt des Premierministers vorschlagen. Erst dann kann diese in Koalitionsverhandlungen mit den anderen Parteien eintreten. Diese Gespräche werden womöglich kompliziert.

Denn beide ALDE-Mitgliedsparteien haben von vornherein ausgeschlossen, mit der EKRE eine Regierung zu bilden. Damit bleibt Kallas nur wenig Spielraum. Sie kann einerseits eine große Koalition mit der Zentrumspartei bilden. Die beiden Parteien haben jedoch durchaus unterschiedliche Pläne für die nächste Legislaturperiode und waren aus gutem Grund seit 2003 keine Koalitionspartner mehr. Andererseits könnte sie mit zwei kleineren Parteien ein Bündnis schmieden, welches mit 56 Abgeordneten in einem 101-köpfigen Parlament immerhin eine knappe Mehrheit hätte.

Online- statt Briefwahl

Estland, das wegen seiner digitalen Errungenschaften auch gerne e-stland genannt wird, erlaubte seinen Bürgern 2005 als erstes Land der Welt, im Internet zu wählen. Dieses Jahr machten bereits 26 Prozent der Wähler von dieser Möglichkeit Gebrauch. Auch diese Quote ist ein neuer Weltrekord. Die Online-Wahl erfordert allerdings auch besondere Vorkehrungen im Bereich der Cyber-Sicherheit. Die estnischen Behörden überwachen den Ablauf der Wahl im Internet auf mögliche Einmischungsversuche, aber auch auf Manipultationsversuche durch Desinformation und Propaganda im Vorfeld. So werden auch die politischen Kandidaten darin geschult, ihre Homepages vor möglichen Angriffen zu schützen. Das Wahlkommittee gab jedoch bekannt, dass weder während des Wahlkampfes noch während der Wahl selbst Einmischungsversuche registriert worden seien.

Adéla Klečková ist Programmmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Mitteleuropa und die Baltischen Staaten.

Für Medienanfragen kontaktieren Sie unsere Expertin der Stiftung für die Freiheit:

Adéla Klečková
Adéla Klečková