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Europa
EU-Gipfel: Neustart oder weiter so?

Der Europäische Rat trifft sicch diesen Donnerstag
© picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Diesen Donnerstag und Freitag treffen sich die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU wieder einmal zu einem Europäischen Rat, ihrem turnusmäßigen Arbeitstreffen, in Brüssel. Die Tagesordnung ist gut gefüllt: COVID-19-Pandemie, Klimawandel, Sicherheit, Außenbeziehungen und am Freitagnachmittag noch ein EURO-Gipfel mit dem Schwerpunkt Kapitalmarkt- und Bankenunion. Wie in einem Brennglas sind die großen und kleineren Schicksalsfragen der Europäischen Union auf dieser Agenda versammelt. Und immer gegenwärtig diejenigen, die nicht mit am Tisch sitzen, aber Einfluss auf das Menü haben: Russland, Türkei, das Vereinigte Königreich, China und die USA. Es geht also um mehr als nur das Tagesgeschäft. Und wieder einmal lautet die Frage an die EU: Durchwursteln oder Neustart?

Die Antwort ist einfach und typisch europäisch: Durchwursteln und Neustart. Durchwursteln dort, wo es nicht anders geht, Neustart da, wo es möglich und erfolgversprechend ist. Wie soll dies auch anders sein bei einer Union, die auf eine jahrzehntejunge gemeinsame Entscheidungs- und Institutionengeschichte zurückblickt und auf eine jahrhundertealte Geschichte von (teils) schlechter Nachbarschaft und oft grausam ausgetragener innerer und äußerer Konflikte. Geschichte, heißt es, verläuft im Zickzack. Liberale würden hinzufügen: Hauptsache der Trend steht auf Fortschritt bei Freiheit, Prosperität und Sicherheit. Wie ist der Stand der Dinge im Dezember 2020? Schauen wir auf die Rats-Agenda:

Pandemie erzeugt Zusammenrücken

Agendapunkt COVID-19-Pandemie: Die Chefinnen und Chefs wollen sich einen „Überblick über die Lage verschaffen und die allgemeinen Koordinierungsbemühungen erörtern, einschließlich der Arbeiten zu Impfstoffen und Tests und der schrittweisen Aufhebung von Einschränkungen“, wie es im Ratsdokument heißt. Nach den anfänglichen nationalen Egoismen hat die Union hier tatsächlich Tritt gefasst. Im internationalen Zusammenspiel von Unternehmen ist ein Impfstoff entwickelt worden, der jetzt gemäß abgestimmter Impfstrategien Europa (und der Welt) den Alltag zurückbringen soll. Schwierig bleibt, dass Brüssel in der Gesundheitspolitik wenig direkte Durchgriffsmöglichkeiten hat. Andererseits bleibt der Druck auf die Mitgliedstaaten für eine Zusammenarbeit hoch. Das Virus macht an Landesgrenzen nicht halt. Und die Diskussion um mehr Zusammenarbeit und Vergemeinschaftung im Gesundheitsdossier ist längst eröffnet. Das Urteil: Trend eindeutig positiv.

Klimawandelagenda profitiert von der Rückkehr der USA

Agendapunkt Klimawandel: „Die EU-Führungsspitzen werden sich bemühen, sich auf ein neues Emissionsreduktionsziel der EU für 2030 zu einigen. Dies wird es der EU ermöglichen, ihren aktualisierten national festgelegten Beitrag zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen noch vor Ende 2020 vorzulegen.“ Soweit das Rats-Dokument. Kern der Debatte: Die Verschärfung des EU-Reduktionszieles von 40% auf 55% für 2030. Hier fühlen sich einige Mitgliedstaaten überfordert. So kämpft Polen mit dem Ausstieg aus seiner Kohlewirtschaft, während es in Deutschland es bei der Umsetzung der Energiewende knirscht. Der globale Diskurs bewegt sich zwischen Fridays for Future und dem Bau neuer Kernkraftwerke. Und ohne die Welt jenseits der EU wird in der CO2-Reduktion nicht viel zu bewirken sein. Mit der Ankündigung des gewählten US-Präsidenten Biden, in das Pariser Abkommen zurückkehren zu wollen und dort eine Führungsrolle zu übernehmen, kommt allerdings wieder Bewegung in die Debatte. Und China hat ebenfalls ehrgeizige Ankündigungen gemacht. Nehmen wir sie beim Wort. Das Urteil: Trend mit Hoffnungswert moderat positiv.

Sicherheit bleibt fragil

Agendapunkt Sicherheit: „Der Europäische Rat wird sich mit Sicherheitsfragen und insbesondere mit der Bekämpfung von Terrorismus und gewaltbereitem Extremismus – auch im Internet – befassen.“ Sicherheit bleibt eine der europapolitischen Aufgaben mit starkem nationalem Echo und Ringen um den Souveränitätsanspruch schlechthin. Andererseits ist in kaum einem Politikfeld der Wille und die Unterstützung durch die Bevölkerung zur Zusammenarbeit so ausgeprägt wie in diesem Feld. Zugleich werden gerade die liberalen Staats- und Regierungschefs darauf achten müssen, dass jedwede Maßnahmen in einer strikten rechtsstaatlichen Ausgewogenheit mit den europäischen Anforderungen an Demokratie, Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit bleiben. Und die Bürger Europas müssen sich auch jeder selbst im Alltag in der Arbeit gegen Populismus und Fake-News in die Pflicht nehmen lassen. Das Urteil: Der Trend bleibt in historischer Perspektive eindeutig positiv, aber die Freiheitsmaßstäbe und -räume geraten selbst in Europa an einigen Stellen unter Druck. Wachsamkeit bleibt angesagt.

Europas Verteidigungs- und Außenpolitik herausgefordert wie nie

Agendapunkt Außenbeziehungen: „Im Einklang mit seinen Schlussfolgerungen vom Oktober 2020 wird sich der Europäische Rat erneut mit der Lage im östlichen Mittelmeer und den Beziehungen zur Türkei befassen. Die Staats- und Regierungschefs werden auch über die Beziehungen der EU zur südlichen Nachbarschaft beraten.“ Das trockene Diplomatensprech des Ratsdokumentes führt zwei Beispiele für eine schwierige und grundsätzliche Herausforderung der EU an. Wie mit der Welt der unmittelbaren Nachbarn verfahren? Die EU ist heute von aggressiven Akteuren in drei Risikozonen umgeben. Russland, die Türkei und einzelne Akteure Nordafrikas destabilisieren die östliche, südöstliche und südliche Nachbarschaft der Europäischen Union. EU-Maßnahmen zur Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit, der polizeilichen und militärischen Zusammenarbeit werden umgesetzt und weitere werden folgen müssen. Mit den USA unter Biden kehrt zwar ein „Partner in values and action“ zurück. Aber gerade der gewählte Präsident der USA wird den EU-Europäern klarer denn je machen, dass sie für die Sicherheit und positive Entwicklung ihrer Nachbarschaft selbst verantwortlich sind: politisch, materiell und im Zweifel auch militärisch.

Doch auch auf der Westflanke der EU ist nicht alles im Lot. „Je nach Lage der Dinge wird sich der Europäische Rat möglicherweise mit weiteren spezifischen außenpolitischen Fragen befassen.“ Dieser Vorratssatz des Ratsdokumentes passt z.B. auf die immer noch nicht abgeschlossenen Brexit-Verhandlungen. Ein Boris-Gipfel soll es nicht werden, aber die Zeit drängt und die Beziehungen zum unmittelbaren westlichen Nachbarn bleiben in allen Facetten sehr wichtig. Störpotential für einen Europäischen Rat nach Plan gibt es also in jedem Falle. Das Urteil: Trendlinie hier mit den vielleicht größten Unsicherheiten und dem größten Potential ins Negative zu kippen. Aktuell und in Zukunft muss von allen Mitgliedstaaten viel politisches und materielles Kapital investiert werden, um auf Kurs Fortschritt zu bleiben.

Binnenmarkt muss Prosperitätsmaschine bleiben

Agendapunkt Wirtschaft: „Am 11. Dezember wird ein Euro-Gipfel im inklusiven Format stattfinden, bei dem der Schwerpunkt auf der Bankenunion und der Kapitalmarktunion liegen wird.“ Für die EU geht es mit der Schaffung einer Banken- und Kapitalmarktunion um wichtige Themen für die Stabilität der Wirtschaft und ihr künftiges Wachstumspotential, gerade auch für neue Ideen, die über Start-ups verwirklicht werden. Der Binnenmarkt für Güter, Dienstleistungen, Arbeitskraft und Kapital bleibt das Herzstück der EU. Er ist für seine Bürger unmittelbar positiv erfahrbar und sorgt als Prosperitätsmaschine für Ausgleich und Zusammenhalt. Die Krisen der Vergangenheit, ob Finanz-, Flüchtlings- oder COVID-Krise haben aber auch gezeigt, wie verwundbar er ist und wie stark Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten wahrgenommen und populistisch ausgebeutet werden. Andererseits hat die wirtschafts- und finanzpolitische Reaktion der EU auf die aktuelle COVID-Krise schnelle Handlungsfähigkeit demonstriert. Der mehrjährige Finanzrahmen (MFR) und das Paket „Next Generation EU“ sind starke Signale für den Willen Europas, gestaltend aus der Krise herauszukommen. Das Ungarn und Polen eine schnelle Einigung mutwillig gefährden, ist ein Zeichen für eine innere politische Krise der EU und kein Hinweis auf Differenzen im wirtschaftspolitischen Kurs der Union. Die notwendigen Beschlüsse, um die Mittel der beiden Programme fließen zu lassen, ließen sich auch ohne Ungarn und Polen fassen. Das Urteil: Der Trend zeigt wirtschaftlich mit Blick auf den Weg aus der COVID-Krise kurzfristig nach oben. Langfristig aber muss die EU zu klaren gemeinsamen Positionen und Aktionen gegenüber den Wettbewerbern im globalen Markt, insbesondere Chinas und den USA, finden, wenn Europa ein Kontinent des Wohlstands und der Chancen für seine Bürger bleiben will.

Europa auf dem Weg zu Strategischer Autonomie?

Jedes Tagesgeschäft, wie eben anhand der Agendapunkte des Europäischen Rates dieser Woche zu sehen, hat eine strategische Dimension und braucht eine strategische Debatte. Und die gibt es in der EU. Gemeint sind die Debatten um die sogenannte Strategische Autonomie Europas. Liberale sprechen allerdings lieber von Offener Strategischer Autonomie. Eine Definition geht so: Strategisch autonom ist, wer die Wahl und die Fähigkeiten hat, autonom zu entscheiden und zu handeln, wenn es um die wichtigen Themen seiner Gegenwart und Zukunft geht. Kürzer: Strategisch autonom ist, wer sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen kann.

Was heißt das genau und noch viel wichtiger: was bedeutet das für Politik und Ressourceneinsatz der EU im Tagesgeschäft? Betroffen sind viele große politische Themenblöcke, wie Sicherheit und Verteidigung, Technologiepolitik, Handelspolitik, Wettbewerbspolitik, Klima- und Umweltpolitik, Rechtsstaat- und Menschenrechtspolitik und vieles mehr im Großen wie Kleineren. Immer geht es um Fragen wie: Was kann/soll die EU allein machen/produzieren/unternehmen? Mit wem soll die EU Allianzen eingehen oder Bündnisse schließen? Wen soll die EU mit Sanktionen belegen, wem Hilfe anbieten und wen unterstützen? Welche Mittel können/sollen angewandt werden, politische, wirtschaftliche, militärische?

Europa in einer neuen Phase der erzwungenen Emanzipation

Diese Diskussion hat aber nicht nur rein politische und materielle Dimensionen, sie wird mitbestimmt von historischen Erfahrungen und kulturellen Ansichten, die in den einzelnen Mitgliedstaaten der Union sehr unterschiedlich sein können, wie die jüngste Auseinandersetzung zwischen dem französischen Präsidenten Macron und der deutschen Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer um strategische Autonomie in der Verteidigungspolitik gezeigt hat. Für Liberale wird es darum gehen, dass die wünschenswerte Stärkung europäischer Handlungsfähigkeit nicht Protektionismus und Nationalismus Tür und Tor öffnet. Vielmehr muss Europa offen blieben für Ideen, Allianzen und engen Austausch aus und mit dem Rest der Welt. Daher das liberale Plädoyer für die offene Strategische Autonomie.

Die Diskussion um Strategische Autonomie wird das EU-Jahr 2021 wie viele weitere Jahre stärker bestimmen denn je: Europa tritt in eine neue Phase der erzwungenen Emanzipation. Weil wir in einer multipolaren Welt leben, in der alte Gewissheiten auch mit einem Präsidenten Biden nicht zurückkehren werden und neue Herausforderungen, heißen sie China oder Klimawandel, die EU anders als je zuvor auf die Probe stellen werden. Ab morgen jeden Tag und jeden Europäischen Rat neu.