EN

Erinnerungskultur
Die Wichtigkeit des Erinnerns: "Zwei Bäume in Jerusalem"

Interview mit Cornelia Schmalz-Jacobsen über ihre Buchvorstellung in Israel und das Vermächtnis ihrer Familie
Cornelia Schmalz-Jacobsen

Cornelia Schmalz-Jacobsen bei der Buchvorstellung in der Residenz der Deutschen Botschafterin

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit / Boaz Eshtai

Das Projektbüro Jerusalem der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit begleitete die ehemalige Generalsekretärin der FDP und Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen, bei der Vorstellung der hebräischen Ausgabe ihres Buches "Zwei Bäume in Jerusalem". Im Interview mit Freiheit.org spricht sie über ihre beiden Eltern, die während des Holocaust auf unterschiedliche Weise Juden vor der Vernichtung retteten, und das Vermächtnis dieser Geschichte. 

Liebe Frau Schmalz-Jacobsen, Sie kommen gerade von einem Besuch aus Israel zurück. Dort ist Ihr Buch "Zwei Bäume in Jerusalem" auf Hebräisch erschienen. Darin erzählen Sie die Geschichte Ihrer Eltern, die beide in der Nazizeit Juden gerettet haben und dafür von Israels nationaler Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit zwei Bäumen als 'Gerechte unter den Völkern' geehrt wurden. Was haben Ihre Eltern getan, das sie von so vielen anderen Deutschen damals unterschieden hat?

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Meine beiden Eltern, die sehr freiheitliche Menschen waren, wollten nicht wahrhaben, was 1933 passiert war. Sie gehörten zu den Menschen, die sich anfangs dachten, dass sich das alles totläuft, dass es so sein wird wie bei Masern, mit diesem verrückten Kerl. Dann wurde alles immer schlimmer und sie haben schnell gemerkt, dass sich die Stimmung gegen ihre jüdischen Freunde richtete und dass man damit anfing, den Juden den Besitz wegzunehmen. Meine Mutter und meine Großmutter haben dann zunächst mit dem Schmuggeln angefangen.

Mit der sogenannten Pogromnacht 1938 wurde meinen Eltern bewusst, wie brutal es noch weitergehen würde. Sie haben sich zusammengesetzt und wussten, dass sie eine Entscheidung treffen mussten: „Machen wir weiter oder denken wir an unsere vier Kinder?“ Diesen Entschluss haben sie eine Woche lang überdacht. Meine Mutter hat dann die Rechnung aufgemacht: „Wenn du und ich ein Leben retten, dann sind wir quitt mit Hitler. Und alles mehr ist Reingewinn.“ So haben sie beschlossen, weiterzumachen. Sie haben gesagt: „Es ist besser für die Kinder, sie haben tote Eltern als feige Eltern.“ Sie waren sich des Risikos völlig bewusst.

Mein Vater ist 1942 nach Drohobycz im damaligen Polen, versetzt worden, er war studierter Landwirt. Mit 42 Jahren war er zu alt für das Militär, er bekam den Majorsrang. Er war in einem Gebiet des sogenannten Generalgouvernements zuständig für die Landwirtschaft, um die Leute mit Essen und Trinken zu versorgen. Die Dinge haben sich zum Schlimmsten verändert, aber er beschloss weiterhin, Leben zu retten: „Zu 95 Prozent bin ich ein toter Mann. Also mache ich weiter.“ Er hat sich sehr vorsichtig Kontakte gesucht. Mein Vater hat immer nach neuen Rettungsmethoden Ausschau gehalten. Eine seiner Ideen war es, junge Frauen mit falschen Papieren auszustatten und nach Berlin zu schicken. Der Judenratsvertreter hat sich nur an den Kopf gefasst und dachte wohl: „Nach Berlin? Mitten ins Geschehen?“ Aber die Idee war so verrückt, dass sie keiner glauben konnte. Bei uns zu Hause in Berlin waren also immer mal wieder Haushaltshilfen für ein paar Tage da, bis meine Mutter eine andere „Lösung“ für sie gefunden hatte. Diese Frauen haben alle überlebt. Das ist nur ein Beispiel der Dinge, die meine Eltern damals getan haben. Und neben meinen Eltern gab es ein wichtiges Netz an inoffiziellen Helfern, beispielsweise die Marktfrau, die meiner Mutter mehr Fisch eingepackt hat, oder der Polizist, der bei meiner Mutter klingelte, um ihr zu sagen, sie solle ihre „Gäste“ an diesem Tag nicht auf die Straße lassen. Sie ahnten bestimmt etwas und ohne diese Helfer wäre das alles vielleicht nicht so gut ausgegangen. 

Sie waren in der Zeit, als Ihre Eltern sich dazu entschlossen, Juden zu helfen und ein existenzielles Risiko für ihre eigenen Leben auf sich zu nehmen, ein Kind. Wie haben Sie das erlebt und waren Sie überhaupt eingeweiht?

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Ich war sechs Jahre alt, als mir meine Mutter sagte: „Du wirst Sachen in der Schule hören, mit denen wir nicht einverstanden sind. Aber du musst den Mund halten und du musst diese blöden Lieder mitsingen. Aber du darfst nichts verraten. Wir haben eine Art König, er heißt Hitler und er ist sehr böse. Wenn er von uns wüsste, dann würde er uns die Köpfe abschlagen.“ Ich war damals zu klein, um Angst zu haben, war jedoch stolz, weil mir meine Eltern vertraut hatten. In der Klasse habe ich mir gedacht: „Ha! Ich weiß es besser als ihr.“ Ich habe nichts verraten. Meine Eltern wollten einen klaren Weg. Ich denke, in solchen Zeiten sind Kinder viel schlauer und erwachsener als in normalen Zeiten. 

Ihr Buch ist in Deutschland 2002 erschienen, im Rahmen Ihrer Reise nach Israel haben Sie nun die Übersetzung ins Hebräische vorgestellt. Wie ist es dazu gekommen? 

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Die Entstehung der hebräischen Ausgabe des Buches geht weit zurück. Als mein Vater in Drohobycz war, hat er sich vorsichtig ein Netzwerk an Helfern zusammengesucht. Einer dieser Helfer war ein Herr Backenroth. Mein Vater stand in engem Kontakt mit ihm und sie beide haben Menschen gerettet. 

Backenroth war jüdisch, ist aber - durch einen unglaublichen Trick - ‚arisch‘ geworden. Er war Liebling der SS und Gestapo, aus dem simplen Grund, weil er blaue Augen hatte. Backenroth hat sich dann zu Bronicki umbenannt. 

Vor 32 Jahren, 19 Jahre nach meinem Vater, hat auch meine Mutter einen Baum als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem bekommen. Bei der Pflanzung des Baumes für meine Mutter traf ich dann das erste Mal Bronickis Sohn Lucien, der fast auf den Tag genauso alt ist wie ich. Und genauso wie ich, brachte auch er seinen Sohn mit. Mehrere Male hatten wir uns seitdem gesehen, Treffen noch ohne besondere Tiefe. Bei meiner Recherche für das Buch ‚Zwei Bäume in Jerusalem‘ bin ich dann auf seinen Vater, Herrn Backenroth, gestoßen. 

Lucien Bronicki habe ich jedoch erst so richtig bei einer Podiumsdiskussion vor drei Jahren in Tel Aviv kennengelernt. Er war inzwischen Vorstandsmitglied einer Organisation der Nachkommen von Geretteten aus Drohobycz und Borislaw geworden. 

Nachdem mein Buch auf dänisch und englisch erschienen war, gab es viele Stimmen, die eine hebräische Übersetzung sehen wollten. Ich hatte zu dieser Zeit Kontakt zur Gedenkstätte Yad Vashem, mit der Bitte, eine Übersetzung zu ermöglichen. Lange Zeit habe ich keine Antwort bekommen und letztendlich schrieben sie mir, dass sie kein Interesse an einer Übersetzung hätten. Ich erzählte Lucien Bronicki davon und er war höchst verwundert und sagte: „Dann mache ich es eben!“. Er hat daraufhin einen Übersetzer und einen Verleger gefunden und auf eigene Kosten 3.000 Exemplare meines Buches auf hebräischer Sprache drucken lassen. Die Geschichte meiner Eltern, insbesondere die unserer Väter, verbindet uns beide. 

Sie haben in Israel die Kinder und Enkelkinder der Juden getroffen, die von Ihren Eltern gerettet wurden. Wie haben Sie diese Begegnungen empfunden?

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Die Reise insgesamt war etwas ganz Besonderes. Einer der Höhepunkte war der Empfang in der deutschen Botschaft, wo ich mein Buch vorgestellt habe und sehr viele Nachkommen anwesend waren. Das Gefühl, diesen Leuten gegenüberzusitzen und zu wissen, dass sie nie geboren wären ohne meine Eltern, das Gefühl kann man nicht beschreiben. 

Mein Vater war während des Krieges zuständig für ein Zwangsarbeiterlager, einer Gartenfarm. Eine Frau, die ich auf der Reise in Israel traf, sagte zu mir: „Ich war dort! Ich habe für Ihren Vater gearbeitet!“ Ihre Tochter konnte nur weinen, die alte Dame lachte nur. Es war schön, dass das Buch für diese Begegnung gesorgt hat. Aber nicht nur auf diesem Treffen. Bei einem anderen Treffen sagte mir eine Überlebende, Celia Kupferberg: „Wir beide verdanken dem gleichen Mann das Leben. Wir sind Schwestern.“ 

Auch für meinen Sohn, der mich zum zweiten Mal begleitete, war es eine besondere Reise. Er meinte zu mir: „Ich bringe meine Kinder nach Yad Vashem. Der Faden darf nicht abreißen.“ Das hat mich besonders tief berührt. 

In Ihrem Buch wird deutlich, wie selbstverständlich es für Ihre Eltern war, Juden in Not zu helfen und ihre moralischen Maßstäbe in einer Zeit der Unnormalität, wie Sie es nannten, nicht zu verbiegen. Nach dem Krieg galten sie deshalb bei der deutschen Bevölkerung aber noch lange nicht als Helden. Wie wurden Ihre Eltern nach dem Krieg wahrgenommen und war die Geschichte jemals Thema zu Lebzeiten ihrer Eltern? 

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Die Geschichte war fast gar kein Thema. Mein Vater ist nach dem Krieg in die USA emigriert und ich habe so gut wie nichts mehr von ihm gehört. Gott sei Dank haben Freunde sehr viel über ihn gesammelt, was auch hilfreich für das Buch war. Für alles, was er in Drohobycz erlebt hat, sah er sich nicht als Helden, er war 1945 wirklich ein gebrochener Mann. Ich habe nach dem Tod meiner Mutter Briefe gefunden, in denen mein Vater an meine Mutter schrieb: „Eigentlich hast du alles gemacht. Du hast unsere Kinder davor bewahrt, dass sie irgendetwas von dem Mist geglaubt haben. Das warst du!“ Meine Mutter schrieb daraufhin zurück: „Du hast eigentlich alles gemacht!“ 

Meine Mutter hat immer nur scheibchenweise Teilstücke erzählt. Nie hätte sie die Geschichte publiziert. Und ich hätte es nie vor ihrem Tod machen können. Es wäre nicht gegangen. Leute wie meine Eltern wurden nach dem Krieg als Volksverräter abgestempelt und hatten zudem die ‚Frechheit‘, zu überleben. 

Selbst als mein Buch veröffentlicht wurde, waren bei Lesungen in den Jahren 2002 und 2003 viele Menschen noch sehr stumm, selten hat jemand etwas gefragt. Es war, als würde man den Menschen den Spiegel vorhalten und fragen: „Hättet ihr das nicht auch gekonnt?“ Darüber äußert sich natürlich niemand gerne.

Hatte Ihre Familiengeschichte auch Einfluss darauf, dass Sie sich in Ihrem Berufsleben politisch engagiert haben? 

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Ja, sicherlich. Meine Mutter hat mir einmal gesagt: „Wir hätten damals viel aufmerksamer sein müssen, wir hätten politisch tätig sein müssen.“ Ich selbst denke, dass es vielleicht auch ihr Glück war, dass sie damals nicht politisch tätig waren. Dennoch habe ich diese Worte inhaliert. Auf der Broschüre meiner ersten Wahl, einer Kommunalwahl, stand: „Wir müssen alles tun, um die Zukunft unserer Kinder mitzubestimmen.“ Und das hing natürlich sehr eng mit der Geschichte meiner Familie zusammen.

Was ist Ihre Botschaft an die kommenden Generationen? Wie würden Sie das Vermächtnis aus Ihrem und Ihrer Eltern Lebenswerk formulieren?

Cornelia Schmalz-Jacobsen: Meine Eltern, insbesondere meine Mutter, konnten das, was ihnen geschehen ist, nicht in Worte fassen. Sie hätten nichts davon niederschreiben können. Also lag es an mir: Es war meine Aufgabe, die richtigen Worte zu finden. Ich habe verstanden, dass ich ja gar nichts gemacht habe, das waren alles meine Eltern. Aber ich bin für die Nachkommen, die das alles nicht miterlebt haben, ein lebender Beweis, dass es das alles gegeben hat. Es gibt viele Biografien von den Überlebenden, aber wenige aus der Perspektive derer, die geholfen haben. Es war mir wichtig, zu zeigen: Man hätte helfen können. Die Entfernung erleichtert das Erinnern, für meine Altersgruppe war es nicht einfach. Die Botschaft an die neuen Generationen ist daher: Man sollte immer seinem eigenen moralischen Konzept vertrauen. 

 

Erfahren Sie mehr: „Eine Jugend zwischen NS-Widerstand und Befreiung“ – Frau Cornelia Schmalz-Jacobsen im Gespräch mit Prof. Dr. Ewald Grothe, Leiter des Archiv des Liberalismus im April 2019. 

 

Cornelia Schmalz-Jacobsen war unter anderem Generalsekretärin der FDP (1988 – 1991) und Ausländerbeauftragte der Bundesregierung (1991 – 1998). 

Das Interview führte Daniela Oberstein.