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Erdogan
100 Tage Präsidialsystem: Eine Bilanz

Was ist geblieben von den vielen Versprechungen?

Mit den Wahlen vom 24. Juni 2018 wurde in der Türkei der Übergang von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem abgeschlossen. Präsident Erdoğan stellt im neuen System nun die alleinige Spitze der Exekutive dar. Check and Balances? Fehlanzeige. Doch das Präsidialsystem ist kein Selbstläufer. Um den Bürgern, die die regierende AKP mehrheitlich aufgrund vergangener Erfolge wählten, das Präsidialsystem schmackhaft zu machen, muss Erdoğan liefern. Dabei versucht er vor allem mit großen Infrastrukturprojekten, deren Finanzierung mehr als fragwürdig ist, bei seinen Wählern zu punkten. 

„Die ersten 100 Tage der Auferstehung“ (Star), „Den Wirtschaftskrieg werden wir gewinnen!“ (Sabah) oder „Auferstehung in 100 Tagen“ (Türkiye): So oder so ähnlich heroisch titelten die regierungsnahen Systemmedien, als Präsident Erdoğan am 3. August in seinem Palast mit großem Brimborium den sogenannten ‘100-Tage-Aktionsplan‘ bekanntgab. Er tat das in gewohnt breitbeiniger Rhetorik. Umgeben von seinen Ministern, die mögliche Zweifel an der Realisierung der Projekte stets mit Entschlossenheit wegklatschten, inszenierte sich Erdoğan mal wieder als der Großmeister des politischen Theaters.

Auf den Titelseiten herrschte regelrecht ein nationaler Rauschzustand. Mehr als sage und schreibe 1000 Projekte würden innerhalb von 100 Tagen auf die Beine gestellt werden – davon seien 400 ganz besonders hervorzuheben. Große Infrastrukturprojekte wie der Bau des Atatürk-Kulturzentrums, die Eröffnung des neuen Istanbuler Flughafens oder der Istanbul-Kanal, der das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden soll, standen wie immer im Vordergrund. Schneller, grösser, stärker – so sollten die Projekte klingen, die als Aushängeschild des Präsidialsystems dienen. Doch gerade die Großprojekte hinterlassen eine große Lücke im Haushalt – die Verträge mit den Baufirmen enthalten oft staatliche Garantien in Hartwährungen. So ist im Budget des laufenden Jahres vorgesehen, dass der Steuerzahler mit mehr als sechs Milliarden TL (umgerechnet knapp 1 Milliarde Euro) für unbefahrene Brücken oder unbenutzte Krankenhäuser aufkommen muss.

Abgesehen von diesen großen Infrastrukturprojekten; was ist geblieben von den vielen Versprechungen?

Eine Bilanz:

Rekord-Inflation: Weder der 100-Tage-Aktionsplan noch die groß angekündigte neue Wirtschaftspolitik des Finanzministers – und Erdoğans Schwiegersohn – Albrayrak oder auch die Kontrollen der Ordnungspolizei konnten sie aufhalten: Die Inflation hat mittlerweile die 25-Prozent-Marke und somit den höchsten Wert seit Juni 2003 erreicht. Das Ziel der AKP-Regierung zu Beginn des Jahres lag eigentlich bei sieben Prozent; doch im Laufe der Finanzkrise wurde sie zunächst auf 21, später dann auf 25 Prozent nach oben korrigiert. Damit befindet sich die Türkei aktuell unter den Top-Zehn Ländern mit den höchsten Verteuerungsraten weltweit – zusammen mit Ländern wie Venezuela, Sudan oder Liberia. Seit Beginn des Jahres wurde der Preis für Strom vier Mal, der für Erdgas sogar fünf Mal erhöht. Präsident Erdoğan und seine AKP erheben derweil den Vorwurf, viele Händler hätten den Werteverlust der heimischen Währung dafür genutzt, die Preise „künstlich“ zu ihren Gunsten zu erhöhen. Er beauftragte die Ordnungspolizei (türk. Zabıta) damit, auf Streife zu gehen und diese Leute dingfest zu machen. Das

Argument der Regierung: Die Inflation ist eigentlich gar nicht so hoch, einige Händler mit fragwürdiger Moral würden bewusst an den Preisen rumspielen, indem sie z.B. Güter in ihren Depots zurückhalten. Vor ein paar Tagen wurde in der Stadt Polatlı (Prov. Ankara) eine Razzia in einem Zwiebeldepot durchgeführt; regierungsnahen Medien zufolge sollen dort eine Million Zwiebel gefunden worden sein, die eigentlich auf dem Markt zum Verkauf angeboten werden sollten. Ob die Nachricht wahr ist und ob dieses Horten von Lebensmitteln wirklich einen großen Einfluss auf die Preise hat, ist schwer einzuschätzen.

Werteverlust der heimischen Währung: Die Ankündigung des Aktionsplans war noch keine zehn Tage alt, da hatte die heimische Türkische Lira (TL) gegenüber dem US-Dollar (USD) bereits massiv an Wert eingebüßt. Zwischenzeitlich bekam man für einen Dollar ganze sieben TL. Seit Jahresbeginn verlor der TL gegenüber dem USD knapp 40 Prozent an Wert. Viele Produkte des täglichen Bedarfs verteuerten sich dramatisch, da die Türkei kaum selbst produziert und zum Großteil auf Importe angewiesen ist.

Engpässe im Gesundheitsbereich: Verbesserungen im Gesundheitswesen gehörten eigentlich lange zu den Kapiteln, mit denen sich Erdoğan und seine regierende AKP am meisten rühmten. Überall entstehen neue Krankenhäuser und lange Warteschlangen vor den Praxen gehören angeblich der Vergangenheit an. Doch der Wertverlust der Lira führte auch zu Engpässen auf dem Medikamentenmarkt, speziell bei den lebenswichtigen Arzneimitteln für Krebskranke. Da viele Medikamente nicht in der Türkei produziert werden können, müssen sie aus dem Ausland importiert werden. Das Gesundheitsministerium hatte mit den importierenden Firmen zu Beginn des Jahres eine Abmachung getroffen und den Euro auf knapp 2,70 TL festgelegt – doch zwischenzeitlich lag der Euro bei fast acht (!!) TL, was dazu führte, dass viele Firme ihre Importe auf Eis legten. Laut der türkischen Apothekenkammer gibt es bei knapp 520 Medikamenten weiterhin Engpässe. Für Empörung hatte ein offizielles Schreiben des Chefarztes eines Universitätskrankenhauses gesorgt, das in den Medien kursierte. An alle Abteilungen adressiert, wies er an, dass nicht-lebenswichtige chirurgische Eingriffe aufgrund fehlender Materialien zu unterlassen seien.

Firmeninsolvenzen: Immer mehr Firmen – die Rede ist von mindestens 1000, darunter einige namhafte – meldeten Insolvenzaufschub (türk. Konkordato) an. Die betroffenen Firmen sind technisch insolvent, befinden sich aber für eine Übergangszeit von maximal eineinhalb Jahren unter einem staatlichen Rettungsschirm, der die de facto pleite Firmen von allen finanziellen Verpflichtungen befreit. Allein im Oktober soll es mehr Konkordato-Anmeldungen gegeben haben als in den gesamten neun Monaten zuvor.

Arbeitslosigkeit: Die Bekämpfung der chronischen Arbeitslosigkeit war eines der großen Ziele des 100-Tage-Aktionsplans von Erdoğan. Laut Angaben des türkischen Statistikamts (TÜIK) beträgt die Zahl der Arbeitslosen knapp 3,5 Millionen und entspricht einer Quote von 10,8 Prozent. Doch viele Gewerkschaften und unabhängige Organisationen kritisieren die eng gefasste Rechnungsmethode des TÜIK und kommen bei ihren eigenen Berechnungen auf weit mehr als 6 Millionen Arbeitslose und einer Quote über der 20-Prozent-Marke. Demnach sind knapp eine Millionen Uni-Absolventen als arbeitslos gemeldet; die Arbeitslosenquote bei Frauen liegt bei knapp 14 Prozent.

Frauen und Kinder: Im vergangenen Jahr wurden 409 Frauen getötet. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres sah die Bilanz nicht besser aus: 363 getötete Frauen. In den letzten 14 Jahren nahm die Gewalt gegen Frauen um 392 Prozent (!!) zu. Mit mehr als 500.000 Kinderehen in den letzten zehn Jahren befindet sich die Türkei auch in dieser Kategorie unter den Top-Zehn-Ländern.

Tödliche Arbeitsunfälle: Die Eröffnung des neuen Istanbuler Flughafens am 29. Oktober, also dem Tag der Republik, war eines der großen Ankündigungen des Aktionsplans. Doch am Mega-Flughafen, der in einer Rekordzeit hochgezogen wurde,  operieren zurzeit nur wenige Inlandsflüge. Der Transfer vom überlasteten Atatürk-Flughafen wurde auf das Neujahr verschoben. Offiziellen Angaben zufolge starben während der Bauarbeiten für den neuen Flughafen mindestens 30 Menschen. Hunderte weitere verloren ihre Jobs, als sie für menschenwürdige Arbeitsverhältnisse demonstrierten. Tödliche Arbeitsunfälle sind leider immer wieder ein Thema in der Türkei. Allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres starben mehr als 1600 Menschen bei der Arbeit. Damit liegt die Türkei europaweit auf Platz eins und weltweit auf Platz drei dieser traurigen Liste. In den letzten fünf Jahren verloren auch mehr als 300 Kinderarbeiter ihr Leben.

Demokratie: Noch vor kurzem behauptete Präsident Erdoğan allen Ernstes, die Türkei sei „in ihrer Geschichte noch nie so frei und friedlich“ gewesen. Doch die neuesten Ergebnisse der Bertelsmann-Studie, die einen Ländervergleich der 41 Industrienationen in der OECD und der EU vornimmt, platziert das Land in Sachen Demokratiequalität auf dem letzten Platz. Auch in der Kategorie Pressefreiheit bekleckert sich die Türkei nicht gerade mit Ruhm. Auf der aktuellen Rangliste von Reporter ohne Grenzen rangiert das Land auf Platz 157 (-2 im Vergleich zum Vorjahr), kurz vor Kasachstan, Burundi und dem Irak. Mit zwischenzeitlich mehr als 150 Journalisten war die Türkei das größte Gefängnis für Medienschaffende. Auch die Samstags-Mütter, die seit mehr als 700 Wochen friedlich darum demonstrierten, den Verbleib ihrer verschwundenen Söhne und Ehemänner aufzudecken, wurden kurz nach Bekanntgabe des 100-Tage-Aktionsplans seitens des Innenministeriums verboten.

Brain-Drain: Im September rief Präsident Erdoğan alle türkischen Wissenschaftler im Ausland dazu auf, in ihre Heimat zurückzukehren und am Aufstieg ihres Landes mitzuwirken. Doch wie es aussieht, bewirkt er eher das Gegenteil. Einem Bericht eines oppositionellen Abgeordneten zufolge, verließen im Jahr 2017 mehr als 113.000 Türken ihre Heimat, davon sind etwa 20 Prozent zwischen 20 und 34 Jahre alt: Ein Anstieg von 63 Prozent (!!) im Vergleich zum Vorjahr. Unter den Auswanderern befinden sich vergleichsweise viele urbane Studierte bzw. Ausgebildete, so zum Beispiel Ingenieure. Im letzten Jahr verließen außerdem 5.000 Millionäre sowie 13.000 Unternehmer das Land.

Die Türkei befindet sich wirtschaftlich, innen- sowie außenpolitisch in schwierigen Zeiten. Viele Menschen hatten sich erhofft (und erwünscht), dass mit dem Übergang zum Präsidialsystem alte und chronische Probleme des Landes über Nacht einfach beiseitegeschafft werden können. Der Glaube an den Obrigkeitsstaat trägt in der Türkei Züge religiöser Verehrung. Es spricht daraus manch altes Untertanentum, das vom Staat das Heil erwartet und dafür kritiklose Zustimmung bietet.

Doch der Unterschied zwischen Sein und Schein ist dieser Tage grösser als je zuvor und die kurze Bilanz zeigt, dass das Land von vielen strukturellen Problemen geplagt ist, die auch nach einem politischen Systemwechsel weiter existieren. Wer vom ersten 100-Tage-Aktionsplan zu sehr enttäuscht wurde, der soll einfach auf den zweiten warten: Dieser soll noch im Dezember verkündet werden.