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Eine neue „samtene Revolution“?

Nach Ernennung des ehemaligen Staatspräsidenten zum Premier legen Demonstrationen das öffentliche Leben in Armenien lahm
Proteste
Heftige Proteste flammen aktuell im ganzen Land auf (Archivbild) © CC BY 3.0 commons.wikimedia.org/ Serouj

Seit der Nominierung des ehemaligen Staatspräsidenten Serzh Sarkisian Ende vergangener Woche als einzigen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gibt es Protestdemonstrationen in der Hauptstadt Jerewan und einigen anderen Städten Armeniens. Aus wenigen Hunderten zu Beginn sind inzwischen Zehntausende geworden, die gegen den Machterhalt Sarkisians und seines Clans protestieren.

Der Amtswechsel ist nur der Auslöser, der von Tag zu Tag immer mehr Menschen auf die Straße treibt. Das kleine Land im Südkaukasus mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern hat viele Probleme: wirtschaftliche, soziale und politische. Der ungelöste Karabachkonflikt mit Aserbaidschan – verbunden mit einer stets präsenten Kriegsgefahr – und die Verelendung großer Teile der Bevölkerung, während eine Handvoll Familien sämtliche wirtschaftlichen und politischen Fäden zieht, sind nur zwei Beispiele.

Aus der scheinbar hoffnungslosen Situation heraus führten vergleichsweise kleinere Anlässe bereits in der Vergangenheit zu Massenprotesten. Darüber hinaus leidet das Land unter einer massiven Abwanderung und Arbeitsemigration. Zivilgesellschaft und oppositionelle Parteien und Kräfte sind schwach, werden kaum als Alternative für einen Kurswechsel wahrgenommen. Können die aktuellen Ereignisse zu einem friedlichen Umschwung in Richtung Demokratie führen? Über die aktuelle Situation sprach freiheit.org mit dem Projektleiter der Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann.

Was ist der Grund der aktuellen Massendemonstrationen in Armenien?

Am vergangenen Dienstag wurde der neue Premierminister ernannt: Gewählt wurde vom Parlament Serzh Sarkisian – bis zum 9. April war er noch Staatspräsident des Landes. Seine Amtszeit endete nach zwei von zwei möglichen Amtsperioden. In einer umstrittenen Verfassungsreform, die in einem ebenso umstrittenen Verfassungsreferendum bestätigt wurde, sollte der Übergang vom Präsidialsystem in eine parlamentarische Demokratie ermöglicht werden. Das heißt: die Befugnisse des Präsidenten wurden beschnitten, die des Premiers wesentlich gestärkt.

Zur Zeit des Referendums gab es schon Vermutungen – u. a. von unserer Partnerpartei  Armenischer Nationalkongress (ANC) –, der Präsident hätte die Verfassungsänderungen nur beschließen lassen, um an der Macht bleiben zu können. Damals hat Sarkisian solche Anschuldigungen abgewiesen. Nun, da seine Amtszeit als Präsident vorbei ist und ein neuer Präsident - als zahnloser Tiger -  inthronisiert wurde, stand die Ernennung eines neuen Premierministers an. Wie von vielen erwartet, ist es eben doch: Serzh Sarkisian.

Serzh Sarkisian
Auslöser der Proteste: Der neue Premier Serzh Sarkisian © CC BY 4.0 kremlin.ru

Schon vor Wochen hatte Nikol Pashinian, Vorsitzender von Civil Contract, einer der drei Bestandteile des Oppositionsblockes YELK im Parlament, angekündigt, dagegen Proteste organisieren zu wollen. Genau das ist jetzt eingetreten. 
Die Demonstrationen begannen bereits am Wochenende. Weitere Teile der Opposition haben sich mittlerweile angeschlossen – jedoch nicht alle.

Was genau passiert zurzeit?

Auf den Straßen sind Tausende, überwiegend junge Leute, unterwegs, die friedlich demonstrieren und viele Straßen und Gebäude blockieren. Der Straßenverkehr im Zentrum ist lahmgelegt. Teilweise sind öffentliche Verkehrsmittel und auch die Metro blockiert. Pashinian hat ausdrücklich friedliche Proteste angekündigt und auch bei Gegengewalt seine Anhänger aufgerufen, friedlich zu bleiben. Bisher ist das weitestgehend geschehen. Er hat den heutigen Tag zum Start einer „samtenen Revolution“ erklärt. Allerdings bringen die Demonstrationen das öffentliche Leben nahezu zum Erliegen, auch viele Betriebe arbeiten nicht. Die Aktionen finden nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten des Landes statt.

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Was ist Ihre Prognose?

Leider zeigt sich an diesem Beispiel erneut, dass die Machtelite auch in Armenien nicht im Mindesten gewillt ist, einen demokratischen Weg der Entwicklung ihres Landes einzuschlagen. Es geht nur um Machterhalt, Einschränkung von Freiheiten und Fortführung oligarchischer Strukturen. Es bleibt zu hoffen, dass alles friedlich bleibt und dass sich Befürchtungen, Aserbaidschan könne dies ausnutzen, um Armenien anzugreifen, als falsch herausstellen.

Inwiefern die Proteste ausreichen, um einen friedlichen Umschwung in Richtung Demokratie zu erreichen, kann ich noch nicht einschätzen. Die nächsten Tage werden zeigen, ob die von Pashinian deklarierte „samtene Revolution“ zu einer landesweiten Massenbewegung wird, sich andere oppositionelle Kräfte und Parteien anschließen und sich ein breites Oppositionsbündnis bildet. In der Vergangenheit sind zahlreiche Massendemonstrationen nach kurzer Zeit wieder abgeebbt. Immerhin gibt es in der Opposition Kräfte, die einen demokratischen, europäischen Weg wollen.

Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.