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"Ehe der Vernunft" auf niederländisch

Viererkoalition stellt Koalitionsvertrag vor
Binnenhof
Der Binnenhof in Den Haag, Sitz der niederländischen Regierung © CC BY-NC-ND 2.0 Flickr.com/ pieter musterd

Niederländische Kommentatoren sprechen von einer „Ehe der Vernunft“. Und tatsächlich liest sich auch der Koalitionsvertrag zwischen der marktliberalen VVD, der sozialliberalen D66, den Konservativen der CDA und der kalvinistischen CU wie ein Abkommen der Vernunft: jede Partei kann ein paar Häkchen hinter ihr Wahlprogramm setzen; jede Partei muss auf ein paar Pläne zugunsten des großen Ganzen verzichten. Ein klassisches Koalitionsabkommen eben, das den Namen „Vertrauen in die Zukunft“ trägt. Bis zur nächsten Wahl will das sogenannte „Rutte-III-Kabinett“ die Mittelschicht durch Steuersenkungen entlasten, den Klimaschutz mit ambitionierten Zielen vorantreiben und mehr in Bildung investieren. Anerkannte Flüchtlinge sollen durch eine „aktivierende“ Politik an die niederländischen Werte und die Institutionen des niederländischen Staates herangeführt werden.

Mit Stolz präsentiere man den Koalitionsvertrag, sagte Premierminister Mark Rutte (VVD) am 10. Oktober und sein Kollege Alexander Pechthold (D66) pflichtete ihm bei: „Wir haben Sie lange in Spannung gehalten, aber wer lange wartet, der bekommt auch etwas geboten.“ Tatsächlich hatte es nach der Wahl sieben Monate gedauert, bis die Vorsitzenden der vier Parteien ihren Fraktionen das Verhandlungsergebnis vorstellen konnten. Zwischendurch war die erste Runde der Koalitionsverhandlungen unter Einbindung von Grün-Links an einer fehlenden Einigung in der Flüchtlingspolitik gescheitert.

Mit der hauchdünnen Mehrheit von nur einer Stimme im 150-Sitze-umfassenden Parlament hat die neue Koalition keinen einfachen Weg vor sich. „Es dauert ja zum Glück nur noch 3,5 Jahre bis zu den nächsten Wahlen“, scherzt man abseits der TV-Kameras.

Steuerentlastungen für Arbeitnehmer, Kampf dem Steuerbetrug

Bis 2021 hat die neue Regierung sich einiges vorgenommen. So soll vor allem die Mittelschicht entlastet werden, ein erklärtes Ziel der VVD. Durch eine Senkung des Steuersatzes auf mittlere Einkommen sollen insgesamt Entlastungen in Höhe von 6 Milliarden Euro erreicht werden. Sparer profitieren darüber hinaus von einem höheren Steuerfreibetrag für ihr Vermögen. Gleichzeitig wird allerdings die ermäßigte Mehrwertsteuer auf Essen und Trinken, Bücher und Medikamente von derzeit sechs auf neun Prozent angehoben. Nach den Erfahrungen rund um die „Panama Papers“, die im Koalitionsabkommen explizit erwähnt werden, sollen die Behörden besser ausgestattet werden, um Steuerhinterziehung nachzugehen. Die daraus erzielten Mehreinnahmen sollen dafür genutzt werden, die Reduzierung der Körperschaftssteuer zu finanzieren. Außerdem will die neue Koalition Steuern auf Finanzströme in Steuerparadiesen erheben und somit das Geschäft mit Briefkastenfirmen unattraktiver machen.

Emissionsfreie Autos bis 2030

Vom „grünsten Koalitionsabkommen aller Zeiten“ sprach die D66 begeistert nach Abschluss der Verhandlungen und weist stolz auf ambitionierte Ziele im Bereich Umwelt- und Klimaschutz hin. So nimmt sich die neue Regierung vor, die Treibhausgas-Emissionen in den Niederlanden bis 2030 um 49 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 runterzuschrauben. Dabei soll die Einsparung vor allem durch die Lagerung von Kohlenstoffdioxid erreicht werden sowie durch die Schließung der niederländischen Kohlekraftwerke. Gleichzeitig soll der Ausbau nachhaltiger Energiequellen gefördert werden. Ziel ist außerdem, dass bis 2030 alle Neuwagen emissionsfrei sind. Um die Nachfrage anzukurbeln, werden Steueranreize für den Kauf solcher Kraftfahrzeuge gewährt. Zur Verbesserung der Luftqualität in Städten werden Umweltzonen nach deutschem Vorbild eingeführt sowie massiv in die Fahrradinfrastruktur investiert. Auf europäischer Ebene wollen sich die Niederlande für eine nachhaltigere Agrarpolitik einsetzen.

Schuldenunion nein, Europäische Staatsanwaltschaft ja

Auf EU-Ebene fordert die Koalition weiterhin klar die Haushaltsdisziplin der Eurostaaten. So schlägt die neue Koalition vor, den Zugang zu Mitteln aus den Kohäsionsfonds an das Einhalten der Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakt zu knüpfen. Eine Unterstützung von verschuldeten Staaten durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) soll klar an Wirtschaftsreformen gebunden sein. Das Kabinett Rutte-III stellt sich gegen Eurobonds und damit gegen eine sogenannte Schuldenunion.

Anders als die Vorgängerregierung zeigt sich die neue Koalition nun bereit, am Projekt der Europäischen Staatsanwaltschaft mitzuwirken, das bereits 20 EU-Staaten (auch Deutschland) umfasst.

Außerdem fordert die Koalition in Anbetracht der Verschlechterung der demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnisse in der Türkei neue Formen der Zusammenarbeit mit dem EU-Nachbarn anstelle der Beitrittsverhandlungen.

Pflicht zur Integration

Im Wahlkampf hatten die Themen Migration und Integration nicht zuletzt wegen der fremdenfeindlichen Äußerungen von Rechtspopulist Geert Wilders eine wichtige Rolle gespielt und den Wahlkampf befeuert. Auch im neuen Koalitionsvertrag nehmen diese Themen eine vergleichsweise große Rolle ein und die Koalition verschärft einige der bestehenden Regelungen.

Das Credo lautet: Flüchtlinge sollten so nah wie möglich an der Heimat betreut werden und auch dort bereits Zugang zu einem Asylverfahren bekommen. Flüchtlingshilfswerk und Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen sollen dafür mit mehr Mitteln ausgestattet werden, um angemessene Unterkünfte in der Region bereitzustellen und den Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

Marc Rutte

Marc Rutte, der bisherige und künftige niederländische Ministerpräsident

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die Niederländer nehmen weiterhin am System der freiwilligen Quotenverteilung innerhalb der EU teil. Allerdings erhalten anerkannte Flüchtlinge in den Niederlanden nur noch eine Aufenthaltsgenehmigung für drei anstatt wie bisher fünf Jahre und Geldleistungen werden in den ersten beiden Jahren größtenteils in Sachleistungen umgewandelt.

Beim Thema Abschiebung macht die neue Regierungskoalition ernst: Wenn Asylsuchende keinen positiven Asylbescheid bekommen haben, sollen sie schnellstmöglich in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Dafür wollen die Niederländer mit den Herkunftsländern zusammenarbeiten und wenden ein System der positiven Anreize und der Abschreckung an. So sollen kooperative Länder mehr Mittel aus der Entwicklungszusammenarbeit bekommen; gleichzeitig sollen bei unkooperativen Ländern die Verweigerung von Visa für Regierungsbeamte oder sogar der Entzug von Landerechten für Flugzeuge aus diesem Land erwogen werden.   

Hingegen sollen Flüchtlinge mit guten Chancen auf Anerkennung ihres Asylstatus von Anfang an in die niederländische Gesellschaft integriert werden. Dafür will die Regierung sicherstellen, dass sie sobald wie möglich die Sprache lernen können und am selben Ort leben und bleiben können. Zudem wolle man ein Freiwilligenarbeitsprogramm aufsetzen und Staatsbürgerschaftskurse anbieten, um Flüchtlingen die Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen.

Wer sich nicht integriert, dem droht die Aberkennung des Aufenthaltsstatus. Diese Passage im Koalitionsvertrag erinnert an Regierungschef Mark Rutte, der im Wahlkampf Schlagzeilen mit einem offenen Brief gemacht hatte, in dem er Menschen, die nicht bereit seien, sich anzupassen, aufforderte, zu gehen.

Mehr Investitionen in die frühe Bildung

Das Thema Bildung gehörte zum Herzstück der Wahlkampagne der D66. Im neuen Koalitionsvertrag konnte die Partei in dieser Hinsicht einige Erfolge verbuchen: so sollen insgesamt über eine halbe Milliarde Euro in die vorschulische Bildung und die Grundschulen gesteckt werden. Ziel ist es, benachteiligte Kinder im Vorschulalter bereits besser zu fördern sowie kleinere Grundschulklassen zu schaffen und mehr Betreuungspersonal einzustellen. Mehr Fokus soll auf die digitale Kompetenz der Schüler, auf Staatsbürgerkompetenz und die Ausbildung von praktischen Fähigkeiten gelegt werden.

Alles in allem ist der Koalitionsvertrag somit vor allem ein Kompromiss, in dem vier zum Teil sehr unterschiedliche Parteien ihre Visionen für die Niederlande von Morgen zusammen geschrieben haben. Die niederländische Zeitung NRC spricht in diesem Kontext von einer „Regierung der kleinen Schritte“, etwas, das man in den Niederlanden gewohnt sei. Das Programm sei nicht spektakulär aber hoffentlich effektiv.

Ob die zusammengewürfelte Koalition mit ihrer 1-Sitz-Mehrheit bis 2021 regieren wird, hängt auch davon ab, wie erfolgreich sich die rechtspopulistische PVV einerseits und die Grünen anderseits an der liberal-konservativen Regierung abarbeiten werden. „Vertrauen in die Zukunft“ heißt das Koalitionsabkommen der vier Partner. Für sie heißt es nun aber erst einmal „Vertrauen in die Koalition“.

Caroline Haury ist European Affairs Managerin im Regionalbüro Brüssel der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.