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Deutsche Einheit
"Absturz ins Nichts"

Karl-Heinz Paqué und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk diskutieren im Interview mit ZEIT Geschichte über 30 Jahre Deutsche Einheit.

Ist die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte? Der Volkswirt und unser Vorsitzender, Karl-Heinz Paqué, und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sprechen im Interview mit ZEIT Geschichte über 30 Jahre deutsche Einheit – und die Teilung bis heute.

ZEIT Geschichte: Herr Kowalczuk, Sie sind in Ost-Berlin aufgewachsen. Sie, Herr Paqué, im Saarland. Wenn wir über Deutschland reden – spielt das eine Rolle?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Für mich persönlich nicht, ich habe eher eine Identität als Berliner oder als Europäer. Aber insgesamt ist das schon eine sehr wesentliche Frage, das sehen wir gerade an der Debatte über Ostdeutschland. Es gibt Spezifika, historische Prägungen, die man nicht abschütteln kann.

Karl-Heinz Paqué: Es kommt auf die Generation an und auf das soziale Milieu. Ich habe viele Jahre Erfahrung als akademischer Lehrer im Osten. Anfangs konnte ich unterscheiden, ob Studenten aus Ost oder West kommen, anhand der Art und Weise, wie sie Diskussionen führten. Heute gelingt mir das nicht mehr.

ZEIT Geschichte: Sie leben seit 1996 in Magdeburg. Als was gelten Sie dort heute? Einmal Wessi, immer Wessi?

Paqué: Ja, das ist wohl so. Und trotzdem, als ich in die Politik ging, hat mir ein Kollege gesagt: Westdeutscher Professor und dann noch Liberaler, das wählt hier niemand! Stimmt aber nicht. Wenn man sich engagiert und mit der Region identifiziert, verschwimmen die Grenzen. Ich selbst bezeichne mich gerne als "Wossi".

Kowalczuk: "Ostdeutsch" zu sein heißt nach meiner Interpretation, einen bestimmten Erfahrungsraum zu teilen. Bei allen Brüchen und Zerrissenheiten in der ostdeutschen Gesellschaft gibt es bis 1989 eine große Homogenität der Erfahrung: Die Schulbücher zwischen Kap Arkona und Suhl, die Lehrpläne, vieles im zentralistischen System war für alle gleich. In diese Erfahrungsräume kommt man nicht hinein, wenn man später dort hinzieht. Zumal ein Hochschulprofessor in ostdeutscher Wahrnehmung per se ein Westdeutscher ist – es gibt ja kaum ostdeutsche Professoren.

ZEIT Geschichte: Ist "der Ossi" nicht eine spöttische Erfindung der Westdeutschen?

Kowalczuk: Er ist eine Konstruktion westdeutscher Eliten, ja, aber den gemeinsamen Erfahrungsraum gibt es trotzdem, das beides muss man unterscheiden. Der Dissident und der Stasi- Offizier konnten sich am Stammtisch in einer ähnlichen Sprache verständigen – das könnten sie bis heute.

Paqué: Wenn Ostdeutsche anfangen, über die Vergangenheit zu reden, über die Schule zum Beispiel, können wir Westdeutschen nicht mitreden. Das gilt aber auch umgekehrt: Meine Frau und ich haben uns 1977 kennengelernt, wir sind geprägt von der Zeit der wilden öffentlichen Dispute um die RAF und die Nachrüstung. Da sind die Ostdeutschen außen vor.

ZEIT Geschichte: Sind wir, 30 Jahre nach dem Mauerfall, also immer noch ein geteiltes Land?

Kowalczuk: Unsere Stärke liegt in der Vielfalt, Unterschiede sind normal. Aber es haben sich Hierarchien gebildet: Die Ostdeutschen sind gezwungen, ihre Biografie vor den Westdeutschen zu verteidigen, sich zu erklären, weil sie die Anderen sind. Und das hat natürlich etwas mit den letzten 30 Jahren tun. Auch bei den harten Indikatoren wie Löhnen, Rente, Vermögen oder Erbschaften existiert immer noch die alte innerdeutsche Grenze.

Paqué: Die Hierarchien, von denen Sie sprechen, sind aber auch eine Frage der Größe: Würden die Ostdeutschen etwa 80 Prozent der Bevölkerung stellen, sähe es anders aus, dann wären die Westdeutschen in der Defensive. Trotzdem: Wir haben die Aufgabe der Wiedervereinigung massiv unterschätzt. Es wird dauern, bis sich die Unterschiede angleichen.

ZEIT Geschichte: Herr Kowalczuk, was überwiegt: die Enttäuschung, dass der Osten auch nach drei Jahrzehnten wirtschaftlich hinterherhinkt? Oder die Freude, dass er aufgeholt hat?

Kowalczuk: Im Großen und Ganzen war die Wiedervereinigung ein Erfolg, auch weil sie europäisch eingebunden war. Doch es gibt Dinge, die man hätte anders machen können. Eine Unterlassungssünde hat die Vereinigung vom ersten Tag an belastet: Den Menschen im Osten hat nie jemand erklärt, wie das neue System eigentlich funktioniert. Es kam einfach über sie. Die meisten waren passiv – es ist ein Mythos, dass die Ostdeutschen eine Revolution gemacht und anschließend die Grundlagen für die Wiedervereinigung gelegt haben. Nur eine Minderheit war 1989 auf der Straße, die Mehrheit stand hinter der Gardine und wartete ab. Im März 1990 haben die meisten dann die Hochglanzversprechen gewählt, ohne die Folgen absehen zu können. Der strategische Fehler, den die Kohl-Regierung jedoch machen musste, war die Währungsumstellung – die hat alles Weitere bedingt.

Paqué: Die Währungsunion mit dem Umtauschkurs von 1:1 war unvermeidbar, und sie war richtig. Die Leute brauchten Geld, in das sie Vertrauen haben. Das konnte nur die D-Mark sein. Und was hatte die Umstellung für Folgen? Ich überspitze ein wenig, aber am Ende: keine. Hätte man dagegen 3:1 oder 4:1 getauscht, wären die Löhne in Ostdeutschland plötzlich auf ein Sechstel oder Achtel des Westniveaus gesunken. Es hätte keinen Tag lang funktioniert, weil die Menschen weggegangen wären. Deshalb war die Währungsunion in dieser Form zwingend.

ZEIT Geschichte: Das ist unter Ökonomen umstritten.

Paqué: Ich vertrete keine Mehrheitsmeinung, ich weiß. Aber anders als in Ost- oder Mitteleuropa, wo man die Menschen trotz extrem niedriger Löhne im Land halten konnte, wäre eine langsamere Umstellung in Ostdeutschland an der Mobilität der Arbeitskräfte gescheitert. Man hätte viel zu viel Zeit gebraucht, die DDR-Wirtschaft nach dem Flurschaden des Sozialismus wettbewerbsfähig zu machen. Ihr Hauptproblem war ja, dass sie isoliert vom Weltmarkt geblieben war und es keine konkurrenzfähigen Produkte gab. Sie brauchen Jahre, um neue Produkte zu entwickeln – diese Zeit hatte man nicht. Im östlichen Mitteleuropa dagegen war die Zeit vorhanden. In Tschechien liegen die Löhne heute bestenfalls bei der Hälfte des ostdeutschen Niveaus.

Kowalczuk: Ich stimme zu, dass die Ursachen für diesen Radikalumbau in den Jahren und Jahrzehnten vor 1989 lagen. Trotzdem: Der Staat schlüpfte 1990 in eine völlig andere Rolle als etwa bei der westdeutschen Steinkohleförderung, einem über Jahrzehnte hoch subventionierten Ausstieg, dessen Schlussakt wir voriges Jahr mit Tränen in den Augen erleben konnten: Im Beisein des Bundespräsidenten wurde die letzte Zeche geschlossen. Ostdeutschland dagegen wurde zum Experimentierfeld einer neoliberalen Politik. Die Treuhand, die immer als Beelzebub hingestellt wird, war nur das ausführende Organ einer Politik, die nicht auf Sanierung setzte, sondern auf die radikalen Marktkräfte.

ZEIT Geschichte: War es eine unheilvolle Gleichzeitigkeit, dass der Neoliberalismus aufblühte, als die Mauer fiel?

Paqué: Eine neoliberale Lösung hätte ganz anders ausgesehen! Die Treuhandanstalt hat schnell, aber pragmatisch privatisiert. Es war einfach der Druck der Situation. Was Sie beschreiben, Herr Kowalczuk, hat nichts mit Neoliberalismus à la Reagan und Thatcher zu tun, sondern mit sozialer Marktwirtschaft.

Kowalczuk: Zu den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft gehört aber auch, dass man den Menschen nur so viel zumuten soll, wie sie verkraften können. In der Finanzkrise von 2008 erlebten die Ostdeutschen dann, dass es auch anders geht: Mit einem Mal gab es "systemrelevante" Institutionen, die geschützt werden mussten. Da schaute man zurück und fragte sich, ob mit zweierlei Maß gemessen wird.

ZEIT Geschichte: Herr Paqué, haben die Väter der Wiedervereinigung alles richtig gemacht?

Paqué: Ihnen sind viele Fehler unterlaufen, aber keine wirklich entscheidenden. Würden wir heute mit all dem Wissen aus drei Jahrzehnten vor derselben Situation stehen, würden wir ökonomisch genauso handeln wie damals.

Kowalczuk: Na ja, man muss schon fragen, warum keine einzige Konzernzentrale von überregionaler Bedeutung in den Osten gekommen ist oder dort aufgebaut wurde. Die Leuchtturmidee hat eigentlich nur bei Jenoptik funktioniert. Und wie kommt es, dass die Banken und Versicherungen aus dem Westen den Ostmarkt für ’nen Appel und ’n Ei aufkaufen und Gewinne machen konnten wie nie zuvor in ihrer Firmengeschichte?

Paqué: Was die Skandale betrifft, möchte ich nichts reinwaschen, da muss man sich jeden einzelnen genau anschauen. Aber wir reden über eine relativ überschaubare Zahl von Fällen.

Kowalczuk: Sie unterschätzen die psychologische Wirkung!

Paqué: Wenn man unter Zeitdruck einen derart radikalen Umbruch vollzieht, sind Skandale unvermeidbar. Und es lässt sich kaum verhindern, dass Mythen entstehen, die Vorstellung etwa, man sei betrogen worden – was im Einzelfall sogar so sein kann, aber es beschreibt natürlich nicht die Situation insgesamt.

ZEIT Geschichte: Die Meistererzählung der alten Bundesrepublik lautet: Wir haben die Einheit finanziert. Und die Gegenrechnung? Hat der Westen nicht erheblich vom neuen Markt und den zugewanderten Arbeitskräften profitiert?

Paqué: Für Westdeutschland war die Einheit ein Konjunkturprogramm, keine Frage. Aber 80 Prozent der Bevölkerung, die Wohlhabenden zumal, kamen aus dem Westen, insofern hat dieser die Einheit vor allem finanziert. Ich würde aber nicht generell sagen, dass die Westdeutschen im Osten den großen Reibach gemacht haben, einzelne vielleicht, andere sind mit ihren Investitionen gescheitert.

ZEIT Geschichte: War es nicht ein Fehler, zu glauben, dass sich die Folgen des Umbruchs materiell auffangen ließen, dass der Sozialstaat es schon richten werde?

Paqué: Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit haben wir alle unterschätzt, aber es hat doch kaum jemand gesagt, dass die Leute schon glücklich werden, wenn sie monatlich ihre Arbeitslosenhilfe kriegen. So zynisch waren auch die allermeisten Politiker nicht.

Kowalczuk: Die Arbeitslosigkeit war nur das eine Problem. Niemand hatte eine Vorstellung davon, was es heißt, wenn die gesamte ostdeutsche Arbeitsgesellschaft zusammenbricht. Das ganze Leben war ja um den Betrieb herum organisiert: Alles brach weg, der Alltag, die Sozialbeziehungen, man fiel ins Nichts. Darauf war niemand vorbereitet. Die Folgen beschäftigen uns bis heute.

Paqué: Das erinnert an die Great Depression in Amerika: Plötzlich stand die Generation der Väter, die völlig schuldlos pleitegegangen war, vor ihren Söhnen, die keinen Respekt mehr vor ihnen hatten. Das war die gleiche Situation wie in Ostdeutschland.

ZEIT Geschichte: Statt New Deal gab es den "Aufbau Ost". In Ihrem neuen Buch, Herr Kowalczuk, kommen die Aufbauhelfer nicht gut weg: Meist beschreiben Sie die "Wohlstandskinder" aus dem Westen als "arrogant" und "ignorant". Macht Sie die Siegermentalität der Wessis immer noch wütend?

Kowalczuk: Siegermentalität? Wir haben die Revolution gemacht, wir sind doch die Sieger der Geschichte.

ZEIT Geschichte: Aber die Westdeutschen gerierten sich so?

Paqué: Das habe ich nach 1996 selbst erlebt. Ich kenne ehemalige westdeutsche Staatssekretäre und hohe Beamte, die im Osten hart gearbeitet haben, weit weg von ihren Familien, und die dann des Öfteren bis nachts um drei zusammensaßen und sich auf die Schulter klopften, wie toll sie das alles gemacht haben. Es war eine Art koloniale Feldlager- Atmosphäre. Aber das ist doch auch irgendwie normal unter diesen Umständen.

ZEIT Geschichte: War es notwendig, die Chefetagen im Osten fast ausnahmslos mit West-Eliten zu besetzen?

Kowalczuk: Es gab gute Gründe dafür. Die westdeutschen Beamten hatten das System verinnerlicht, das sie im Osten aufbauen sollten. Und dennoch glaube ich, dass man auch anderen eine Chance hätte geben müssen. Man hätte zum Beispiel Positionen doppelt besetzen können, mit einem Tandem aus Ost und West. Da war man, glaube ich, zu wenig kreativ.

ZEIT Geschichte: Die Ostdeutschen sollten sich unterordnen?

Kowalczuk: Es wurde erwartet, dass sie sich den neuen Verhältnissen anpassen. Ich vergleiche es mit der Re-Education- Politik nach 1945, nur dass man es 1990 nicht mehr Umerziehung nennen wollte. Um das Jahr 2000 kam dann diese blödsinnige Ostalgie-Welle auf: Katharina Witt im FDJ-Hemd in der SuperIllu. Damals waren das für mich ewiggestrige Altkommunisten, heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Die Ostalgie war eine Abwehrhaltung, die man ernst nehmen muss. Viele wollten 1989 etwas Neues beginnen, aber sie erhielten keine Chance, wurden von einer Umschulung zur nächsten gejagt. Sie fielen hinten runter, fühlten sich mit ihren bisherigen Biografien verloren.

ZEIT Geschichte: Aber gab es das Gefühl, Deutscher zweiter Klasse zu sein, nicht auch schon zu Zeiten der DDR?

 Kowalczuk: Ja, das ist älter. Wenn Ostler nach Prag oder an den Balaton gefahren sind, haben sie festgestellt, dass es zwei Kategorien von Deutschen gab: Die einen hatten Aluchips, die anderen richtiges Geld. Letzteren haben unsere Klassenbrüder und -schwestern in Ungarn, Polen oder der Tschechoslowakei den roten Teppich ausgerollt, während man selbst zurückgewiesen wurde. Welche Erfahrungen dann nach der Wende hinzukamen, hängt vom sozialen Milieu ab. Doch seit nunmehr 30 Jahren beschreibt sich kontinuierlich die Hälfte der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse – das ist ein Wert, der mich sprachlos macht.

Paqué: Noch immer liegt der Abstand zum Westen, wenn es um Produktivität und Löhne geht, bei 20 bis 25 Prozent. Das führt zwangsläufig dazu, dass die Menschen sich zurückgesetzt fühlen.

ZEIT Geschichte: Nährt sich aus den Abstiegserfahrungen der Wendezeit die Wut von heute?

Kowalczuk: Da habe ich meine Zweifel. Natürlich wirken die Erfahrungen des Umbruchs nach, auch für die Jüngeren, die von den Geschichten am Abendbrottisch gehört haben. Aber zum Vorschein kommt auch ein historisches Erbe, das viel älter ist als die DDR. Ich spreche von den Traditionen des Nationalismus, des Rassismus oder des autoritären Denkens, die im Osten nie gebrochen wurden. An diese Traditionen können die Rechten jetzt anknüpfen. Auch die Staatsfixierung gehört zum Erbe der DDR – aus meiner Sicht eine Erklärung dafür, dass es bis heute im Osten keine mit dem Westen vergleichbare Zivilgesellschaft gibt. Dazu kommen die Globalisierung und die Migration, die für Verunsicherung sorgen. Wir haben eine Gemengelage mit vielen Parallelen zu Osteuropa und anderen Ländern, die kaum zu entwirren ist.

ZEIT Geschichte: Die alten Feindbilder verfangen offenbar immer noch: Die AfD setzt in Ostdeutschland auf markige Sprüche gegen den Westen.

Kowalczuk: Die Rechten mobilisieren das verbreitete Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, über das wir schon gesprochen haben. So ähnlich hat die PDS in den Neunzigerjahren auch plakatiert. Ich vermute aber, dass eher ganz gegenwärtige Verlustängste auf die Zukunft projiziert werden: Es geht um Mieten oder Renten. Und auch um die Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft, die durch Zuwanderung bedroht wird – was dann wiederum viel mit der alten DDR-Realität zu tun hätte.

Paqué: Was wäre denn, wenn morgen in Ostdeutschland die Innovationskraft blühen würde, wenn es plötzlich eine Start-up-Kultur gäbe und die Lücke zum Westen sich schließen, der Osten sogar in Führung gehen würde? Ich glaube, dass sich viele alte Probleme und Verletzungen dann von selber erledigen würden, weil viele Leute auf einmal Erfolgserlebnisse hätten und stolz auf ihre Region wären. Darauf müssen wir hinarbeiten, wir müssen die Innovationskraft im Osten stärken!

Kowalczuk: Ich verstehe ja Ihr Ansinnen, und es wäre gut, wenn es gelingt. Aber ich wage gegenüber dem Volkswirtschaftsprofessor die These, dass die Ökonomie womöglich nicht das Zentrum des Lebens ist. Was wir brauchen, ist vor allem eine andere Kultur des Umgangs miteinander, eine andere Form der Wertschätzung jenseits von wirtschaftlichen Argumenten. Immerhin haben die Ostdeutschen in mancher Hinsicht einen Vorsprung: Sie wissen, was Transformation heißt. In der Regel erleben Menschen maximal einen großen Umbruch, die Ostdeutschen haben schon den zweiten hinter sich. Auch das erklärt, warum sie verhältnismäßig offen sind für rückwärtsgewandte Versprechen.

ZEIT Geschichte: Spalten heute nicht andere Gräben als der zwischen Ost und West das Land – zwischen Hütern und Gegnern einer offenen Gesellschaft, zwischen Großstadt und Provinz?

Paqué: Bei den Wahlergebnissen der AfD gibt es nicht nur ein Ost-West-, sondern etwas weniger ausgeprägt auch ein Südost-Nordwest-Gefälle. In Bayern und Baden-Württemberg ist die AfD relativ stark, in Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder Schleswig-Holstein relativ schwach, obwohl die südlichen Länder wirtschaftlich besser dastehen. Ich unterscheide zwischen einem mitteleuropäischen und einem atlantischen Deutschland; Letzteres hatte schon immer eine starke weltoffene Tradition.

Kowalczuk: Es gibt noch ein anderes Phänomen, über das selten gesprochen wird: Im Westen leben viele Ostler und Spätaussiedler. Die Russlanddeutschen etwa bilden ein zentrales Reservoir der Rechtspopulisten, gerade in Baden- Württemberg und Bayern. Sie sind, systemisch gesehen, den Ostdeutschen gar nicht so fremd. Insofern gibt es auch im Westen Demokratie-Probleme aus der Wendezeit, die bis heute nachwirken.

ZEIT Geschichte: Mit der Vereinigung kam die Demokratie in den Osten, doch wer arbeitslos wurde, sich ungerecht behandelt fühlte, lernte sie als Gegner kennen. Welche Folgen hatte das?

Kowalczuk: Diese Ersterfahrung war tatsächlich katastrophal. Millionen DDR-Bürger wurden mit Institutionen konfrontiert, die sie bislang nicht kannten: Arbeits- und Sozialämter oder Sozialgerichte. Nicht gerade förderlich für die Akzeptanz der Demokratie war auch die ideologische Dauerbeschallung in der DDR, die lange nachwirkt: Der SED-Staat hat Begriffe wie "Demokratie", "Freiheit" oder "Wahlen" jahrzehntelang missbraucht und mit einer eigenen Definition überzogen. Selbst wenn man solche Propaganda nicht ernst nahm: Sie ging an niemandem spurlos vorüber.

Paqué: Ich bin da nicht ganz so skeptisch. Wie tief wurzelte denn die demokratische Überzeugung im Westen in den Sechziger- und Siebzigerjahren? Durch das Wirtschaftswunder gab es eine positive Verbindung zur neuen Staatsform, und trotzdem brauchte man lange, um demokratisch zu reifen.

Kowalczuk: Aber die Revolution von 1989, der Untergang des Kommunismus, das hat das bundesdeutsche Selbstbewusstsein doch geradezu beflügelt. Ein CSU-Politiker und ein Linker konnten sich plötzlich in ihrem bundesdeutschen Überlegenheitsgefühl treffen und von den "Neuen" abgrenzen. Ostdeutschland wurde dadurch in seinem Streben nach Demokratisierung doppelt und dreifach abgehängt.

Paqué: Es stimmt, dass die harten Fronten im Westen nach 1990 aufgeweicht sind und Linke wie Rechte sich auf einmal mit der alten Bundesrepublik identifizieren konnten. Trotzdem müssen wir uns klarmachen, dass eine Demokratisierung, dass Veränderungs- und Reifungsprozesse einer Gesellschaft viel Zeit brauchen. Ich will nicht sagen, dass ich wegen der AfD unbesorgt bin, das bin ich nicht. Aber wir haben auch im Westen schwere Krisen durchgemacht, wenn ich an den Terror der RAF zurückdenke. Da sind wir rausgewachsen und anschließend auch gereift. Insofern müssen wir da jetzt durch... durch diese populistischen Gefahren.

Kowalczuk: Heute sehen wir eine populistische Welle über Westeuropa, Osteuropa und auch über Nordamerika, Brasilien und die Philippinen schwappen. Das hat eine globale Dimension. Ich bin leider nicht so optimistisch wie Sie. Zumindest sollten wir uns nicht einfach zurücklehnen und warten, bis die Welle vorüber ist.

ZEIT Geschichte: Hat die Wiedervereinigung das Land nicht auch zum Guten verändert?

Paqué: Sie hat es viel interessanter gemacht! Vor allem ausländische Kollegen sagen: Deutschland ist faszinierend, ist spannend. Das war es vorher oft nicht. Die Bonner Republik war ganz schön spießig und langweilig.

Kowalczuk: Wenn ich verreist war und nach Deutschland zurückkomme, dann stelle ich nach 30 Jahren noch immer fest, dass ich das große Privileg habe, im besten Land der Welt zu leben. Aber wissen Sie, was mich am meisten überrascht hat, als die Mauer fiel? Wie viele Menschen es in dieser wunderbar freiheitlichen Gesellschaft gibt, die den Wert der Freiheit nicht zu schätzen wissen, die die Freiheit verraten, indem sie Kompromisse mit Regimen eingehen, die Menschenrechte mit Füßen treten. Das ärgert mich bis heute am meisten. In Ost und West gleichermaßen – da gibt es keine Grenze.

 

Das Gespräch führten Judith Scholter und Frank Werner. Das Interview erschien zuerst am 03.10.2019 bei ZEIT Geschichte.