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Desinformation
„Fake News und Verschwörungstheorien sind brandgefährlich“

Grimme-Preisträger Marco Maas über Fact-Checking und YouTube-Extrema
Fake news Corona
© picture alliance / SvenSimon | Malte Ossowski/SVEN SIMON

Grimme-Preisträger, fünffacher LEAD-Award-Gewinner, Gründer von OpenDataCity und Datenfreunde – kurz: Marco Maas ist der Experte, wenn es um Digitalisierung, Fact-Checking und Datenjournalismus im deutschsprachigen Raum geht. 
In einem Gespräch schätzt er für uns politische Maßnahmen gegen Falschinformationen im Netz ein – und erklärt, was Nutzer ihrerseits tun können.

Marco, du warst der erste deutsche Datenjournalist. Für Medienkonzerne wie ARD, ZDF und Spiegel hast du zahlreiche Projekte umgesetzt und fit für die Zukunft gemacht. Was genau bezeichnet der Begriff „Datenjournalist“ eigentlich? 

Wichtig in dem Wort ist weiterhin: Der Journalist. Es geht darum, Fakten und Datensätze mit einer neuen Art von Storytelling darzustellen, z.B. in interaktiven Schaubildern. Es reicht nicht mehr zu sagen: Hier, ich habe einen Text über ein komplexes Sujet geschrieben, den musst du jetzt lesen. Mit interaktiven Lösungen lassen wir den Nutzer selbst einen Teil des Erkenntnisgewinns übernehmen. 

Das setzt schonmal ein hohes Engagement des Nutzer voraus, oder? 

Nicht unbedingt. Wir konzipieren auch sehr einfache Lösungen, die Erkenntnisse liefern. 

Was beobachtest du in der aktuellen „Infodemie“, von der die WHO spricht? 

Was ich momentan wahrnehme, ist eine Verschiebung zu einer personenbezogenen Kritik. Wir zeichnen dieses Interview am 26. Mai 2020 auf. Und die BILD greift offen den Virologen Prof. Dr. Christian Drosten an, um ihn unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Für uns als Medienkonsumenten ist es tatsächlich verwirrend: Erst heißt es, Atemschutzmasken seien wirkungslos. Dann kommt die Maskenpflicht. Kurz darauf erscheinen neue Erkenntnisse zur Übertragung von Corona über Aerosole. Was bei der aktuellen Kritik ignoriert wird, ist: Wissenschaftler treffen ihre Aussagen auf neuen Forschungsergebnissen. BILD und andere Medien stellen diesen Umstand verkürzt dar, um Aufmerksamkeit für sich zu schaffen.

Thema Aufmerksamkeit: Die Vizepräsidentin der EU-Kommission, die Liberale Věra Jourová, hat vor den gesundheitsschädlichen Folgen von Falschmeldungen gewarnt. 
Nach einem Treffen mit Vertretern von Google, 
Facebook, Twitter und Microsoft sagte sie, man müsse „seriöse Nachrichtenquellen“ prominenter darstellen. 

Eine Forderung, die sich nur mithilfe von Google und Facebook umsetzen lässt. Die grundlegende Schwierigkeit hierbei: Sowohl Facebook als auch Google sehen sich als Plattform, nicht als Medienkonzern, der redaktionellen und gesetzlichen Richtlinien unterliegt. 
Die Gesetzeslage für Medien ist klar. Aber Unternehmen müssen mitziehen. 

Was bedeutet das konkret für Facebook? Mehr Warnhinweise? 

Um wirksam gegen Falschmeldungen vorzugehen, muss Facebook länderspezifische Redaktionen einrichten. 

Könnte auch eine Maßnahme wie in Litauen die Lösung sein? Freiwillige Helfer, die Trolle und Falschmeldungen entlarven? 

Nur bedingt. Denn wer möchte sich nach Feierabend hinsetzen und – in manchen Fällen –verstörende Gewalt-Videos auf Facebook gucken müssen? 
Unternehmensinterne Redaktionen in den einzelnen Ländern sind notwendig. Anders lassen sich auch kulturelle Unterschiede nicht überbrücken: Eine nackte weibliche Brust löst in den USA andere Debatten aus als in Deutschland, in Asien gibt es andere Tabus als in Europa. Das gilt auch für Falschinformationen. 

Welche Schritte unternehmen Facebook und Co. derzeit im Kampf gegen Falschinformationen? 

Facebook spendet an das gemeinnützige Recherchezentrum correctiv.org. Ich vertraue Correctiv, weil sich dort Journalisten gegen Bezahlung hinsetzen und ein Thema oder eine Aussage nachprüfen. Für einen Tag, für eine Woche, für einen Monat. Deswegen gehe ich davon aus, dass der Wissensstand danach höher ist. Das gleiche gilt für die öffentlich-rechtlichen Medien. Ich habe lange mit ihnen zusammengearbeitet und weiß aus eigener Erfahrung, dass dort gewissenhaft recherchiert und korrigiert wird. 
Die Rolle von Facebook bei Correctiv ist jedoch kritisch zu betrachten: Der Betrag, den sie an Correctiv überweisen, ist im Vergleich zu einer eigenen Facebook-Redaktion verschwindend gering, ein Feigenblatt.

Kanadas Premierminister Justin Trudeau wagt einen Vorstoß gegen Desinformationskampagnen und für die Unterstützung klassischer Medien: Kanadier können ihre digitalen Nachrichten-Abos steuerlich geltend machen. Was hältst du davon? 

Das ist eine Diskussion, die bereits vor einigen Jahren in Frankreich und Deutschland in Zusammenhang mit der GEZ geführt wurde. Dabei muss ich jedoch sagen: 90 Prozent der Inhalte, die ich nutze, sind kostenfrei zugänglich. Und wenn wir vom Beispiel der „alternativen Medien“ ausgehen, ist es fraglich, inwiefern eine Steuerentlastung die Bevölkerung davon überzeugen kann, auf „Mainstream-Medien“ umzuschwenken. Leider. 
Als Grund für die wachsende Zahl an Desinformationen und Verschwörungs-Mythen wird immer wieder das Misstrauen in etablierte Medien genannt. Ist da etwas dran? 

Anhand von Youtube-Vorschlägen lässt sich das gut illustrieren: Man sucht nach einem Video über das Thema „Küssen“. Nur wenige Videos später werden einem Beiträge zu „Bizarre Sex-Praktiken“ empfohlen. Das klingt plakativ, doch der Algorithmus scheint darauf angelegt zu sein. Eine aktuelle Studie belegt diese Annahme:
Die Radikalisierung, die mit dem Misstrauen zu „Mainstream-Medien“ einhergeht, ist ein schleichender Prozess. Wer über mehrere Wochen hinweg Youtube nutzt, um sich politisch zu informieren, stößt schrittweise auf immer extremere Inhalte. Es geschieht nicht innerhalb eines Tages, sondern über einen längeren Zeitraum. 

Könnte man Youtube in die Pflicht nehmen, solche Inhalte zu verbieten oder zu reglementieren? 

Um das zu erreichen, müssten Youtube und Facebook offenlegen, wie ihre Algorithmen funktionieren, nach welchen Kriterien sie Inhalte vorschlagen. Das wollen Unternehmen natürlich verhindern. 

Ein geflügeltes Wort ist „Medienkompetenz“. Welche ganz konkreten Schritte würdest du einem „Normalnutzer“ empfehlen, um seine Quellen zu checken? 

Am Anfang steht immer die Frage: Cui Bono. Wem nützt es? Je extremer eine Aussage ist, desto stärker vermute ich eine Agenda dahinter.
Die einfachste Methode ist: Ich schaue nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Das mache ich auch, wenn ich Serien schaue. Wenn ein Begriff fällt, den ich nicht zuordnen kann, google ich ihn schnell. Wikipedia ist in solchen Momenten erst einmal ausreichend und zuverlässig. 

Darüber hinaus: Es geht auch darum, über die eigene Filterblase hinauszuschauen. Ich abonniere Newsletter verschiedener Nachrichtenportale – und lese sie nicht. Nicht vollständig. Die Headlines genügen schon, um mir einen Überblick zu verschaffen und sie mit anderen News-Seiten zu vergleichen. So entwickelt man ein Gefühl für die Faktenlage. 

Wenn mich ein Fakt überrascht, wenn mir etwas seltsam vorkommt, muss ich feststellen, ob er auch auf anderen Kanälen vorkommt. Wenn die Quelle immer nur obskure Mini-Seiten sind, muss ich misstrauisch werden. 

Momentan werden Falschinformationen und gesteuerte Desinformation als eine der größten Bedrohungen der Demokratie angesehen. Teilst du diese Ansicht? 

Sogenannte „Fake News“ und Verschwörungstheorien sind brandgefährlich, zweifellos. 
 

Marco Maas